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Die eines Tages plötzlich überschritten war. Wobei Zerai zu der Überzeugung gelangte, die alles andere verdrängte: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Und wenig später begriff er: Illir Zerais Stimme war es, die die Reden des Wahnsinnigen mittels Radiowellen in die Welt sandte.
Wem konnte Zerai seine Entdeckung mitteilen? Wenn er sie jemandem anvertraute, würde er mit dem nächstbesten Lastwagen in den Norden gekarrt werden, nach Fushëbar oder gleich nach Burrel. Umerziehung durch produktive Arbeit würde sein Schicksal besiegeln.
Eines Tages konnte er nicht mehr. Er lag neben Jetmira und sagte mit leiser Stimme, als schwöre er ihr seine ewige Liebe: Enver Hoxha ist wahnsinnig.
Entsetzt klammerte sich Jetmira an ihn, klammerte sich an das gute Leben. In ihrem Gesicht die Angst, als würden sie mit ihren eleganten Anzügen plötzlich mitten im Schlafzimmer der Zerais stehen. Die Sigurimi brauchte nicht zu klopfen.
Das darfst du nie wieder sagen, hast du mich gehört. Das musst du in dir verstecken.
Sie griff an seine Stirn: Aber nicht hier, das darf nicht in deinem Kopf bleiben. Du musst eine andere Stelle finden, wo du es verstecken kannst.
Sie strich ihm mit der Hand über die Brust, über Ober- und Unterarme.
Unter die Haut müsste ich diese Entdeckung verbannen, war sein erster Gedanke.
Die Augen des vëzhgues, des Beobachters. Er saß meist hinter der Glasscheibe, während Zerai die Sätze ins Mikrofon sprach. Zef Drini, Spaßvogel Zef, der immer den Eindruck vermittelte, als mache er seine Arbeit nur, weil sich sonst niemand dafür finden lasse. Aber dann kam der neue Beobachter. Spiro Jaku, stellte er sich vor. Die Tontechnikerin flüsterte Zerai zu: Weißt du, was aus Zef geworden ist?
Zef war von einem Tag auf den anderen weg. Vom Erdboden verschwunden. Und nun dieser Spiro Jaku, der Zerai von Anfang an verdächtig erschien. Er saß mit einer Miene hinter der Scheibe, als verbüße er eine Strafe: Weil die letzten Informationen, die du uns geliefert hast, wertlos waren, musst du jetzt den Beobachter machen. Wir lassen den Radiomann eine mehrseitige Rede des Genossen Enver Hoxha einsprechen und jede Zeile lassen wir dich auf ihre Richtigkeit überprüfen. Und wehe, du bringst uns noch einmal so belanglose Informationen, dann bist du weg vom Fenster.
Panik kroch Zerais Rücken hoch: War jemand zum Direktor gelaufen, hatte man ihn angeschwärzt? Er ging mögliche Verfehlungen durch. Der Witz über die Mondrakete und die Diktatur des Proletariats? Harmlos. Aber hatte jemand Böses im Sinn, konnte er selbst so eine Kleinigkeit zum Verrat an der Partei aufbauschen. Schon ging Zerai Namen durch. Wer hatte den Witz gehört? Wer könnte ihm feindlich gesinnt sein?
Zerai las die deutsche Übersetzung von Hoxhas Rede, verhaspelte sich immer wieder, da er an den kleinsten Bewegungen des Beobachters zu erkennen glaubte, dass dieser auf etwas aufmerksam geworden sei. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Unprofessionalität, darüber, wie leicht er sich aus dem Konzept bringen ließ: ein Blick oder eine Geste genügten. Aus dem Augenwinkel registrierte er aber jede Regung, und nach jeder Bewegung, die er hinter der Scheibe ausmachen konnte, ging Zerais Gehirn schnell noch einmal durch, was er zuvor gesagt hatte: Gab es eine falsche Wendung, einen Versprecher, der eine Mehrdeutigkeit zuließ?
Manchmal glaubte er, ein wissendes Leuchten in den Augen des Beobachters zu erkennen. Das waren die Momente, in denen er schnell den Blick abwandte. Weil er aber wusste, wie wichtig es war, dem forschenden Blick der Partei standzuhalten, bemühte er sich, das Abwenden zwanglos erscheinen zu lassen. Was ihm in dieser Situation nicht weiter schwerfiel. Er musste weder die Reinlichkeit seiner Fingernägel kontrollieren noch sich vergewissern, ob seine Schnürsenkel aufgegangen waren – es reichte, sich auf den vor ihm liegenden Text zu konzentrieren:
Im Verlauf seiner Existenz hatte das albanische Volk unter Kriegen schwer zu leiden, die zum Schaden seiner Freiheit, seiner territorialen Integrität und nationalen Unabhängigkeit geführt wurden. Wir Albaner als Volk, als Partei, als Staat haben im Kampf um unsere Integrität, Freiheit, Unabhängigkeit, Kultur und eigene Existenz die Taktiken unserer äußeren und inneren Feinde zu verstehen gelernt, wir haben gelernt, ihre Ziele, Pläne und Verschwörungen zu lesen. Auf dieser Grundlage haben wir, das Volk der Adlersöhne, eigene Taktiken des Widerstands entwickelt, so endete die Rede des Genossen Enver Hoxha.
Illir Zerai gab der Tontechnikerin ein Zeichen. Das Aufnahmelämpchen erlosch.
Er drehte sich zum Beobachter und sah, wie dieser ihn angrinste. Zerai senkte den Blick, der auf seine abgetretenen Schuhe fiel – und mit einem Mal war ihm das herablassende Auftreten dieses Spitzels unerträglich.
Mit herausforderndem Lächeln wandte er sich an Spiro Jaku: Ein weiteres Mal hat Genosse Enver Hoxha den Nagel auf den Kopf getroffen.
Spiro Jaku sah ihn mit erprobtem Blick an: Als würde er hinter Zerais Augen blicken, wo er dessen wahre Gedanken lesen könnte. Doch dieser Spitzel hatte keine Ahnung von Illir Zerais eigenen Taktiken des Widerstands.

6
Frau Doktor, sagt Gernot, als er die Wohnung betritt. Die Begrüßung war aufgekommen, als sie vor einem knappen Jahr mit dem Turnus angefangen hatte. Wobei sich die Ironie allmählich abgeschwächt hatte und spätestens ganz verloren ging, als Gernot Agnes’ ersten Gehaltszettel zu Gesicht bekam. Von da an hatte sie manchmal das Gefühl, das Frau Doktor höre sich ein wenig wie ein Vorwurf an.
Ist schon ein Witz, sagt Agnes und wirft sich neben Gernot aufs Sofa: Ich hab dir doch von diesem Patientenbegleiter, dem Berger, erzählt. Ich komm zu einer Patientin und die meint, der Herr Doktor habe ihr die-und-die Salbe empfohlen. Dann frag ich sie, welcher Doktor, und sie sagt: Na, der Herr Doktor Berger! Nur weil er ein bärtiger Mann in mittlerem Alter mit selbstgefälligem Auftreten ist, hält ihn gleich jeder für einen Doktor. Ich weiß nicht, wie oft dafür zu mir heute Danke, Schwester gesagt wurde.
Steht nicht auf deinem Namenskärtchen, dass du Doktor bist? Einmal mit dem Finger draufzeigen und schon wissen sie, dass du Frau Doktor Wallner bist. Sollte doch kein Problem sein.
Agnes holt sich ein Glas Wasser aus der Küche. Sie ärgert sich über Gernots Patzigkeit. Vom Museumscasanova, den sie im Naturhistorischen Museum kennengelernt hat, ist er momentan weit entfernt. Sie war gemeinsam mit ihrer Freundin Carina vor einigen Bernsteinfossilien gestanden, als er sich neben sie gestellt hatte. Er hatte sich leicht zu ihr gebeugt und gesagt, als würden sie sich kennen: Schwer vorstellbar, wie lange der Flügel schon im Bernstein eingeschlossen ist. Mit der Zeit sind sie eins geworden, der Flügel und der Stein. Er hatte es so leise gesagt, dass nur sie es hören konnte, denn Carina war kommentarlos zu den nächsten Steinen weitergezogen. Agnes’ Augen blieben auf die Fossilien gerichtet, und sie wusste, dass das ein Moment war, den sie nicht vergessen würde. Ja, sogar Carina, die Gernot seither nur noch den Museumscasanova nennt, spürte das.
Aber dass ihre Beziehung ein wenig eingeschlafen ist, dafür sieht sie sich auch selbst in der Verantwortung. Agnes’ erstes Jahr am Krankenhaus war anstrengender als erwartet gewesen. Mit der plötzlichen Verantwortung, der Intensität der Dienste hatte sie gerechnet. Doch es kamen Aspekte hinzu, die sie nicht bedacht hatte. Mit jeder Station wurde sie in ein neues Biotop geworfen, das eigenen Regeln gehorchte. Auf jeder Abteilung musste sie von vorne anfangen, ihre Position zwischen Ärzten und Pflegepersonal einnehmen, den richtigen Ton finden, Gruppen und Gräben erkennen. Für Beziehungspflege hatte sie wenig Energie aufgebracht im letzten Jahr. Das sollte sich ändern.
Das Wasser fließt schon wieder nicht ab. Agnes holt fluchend die Saugglocke, den sogenannten Hektor, und macht sich an die Arbeit. Gernot taucht hinter ihr auf und nimmt ihr den Hektor ab:
Du weißt, du kannst jederzeit zu mir ziehen. Bei mir ist der Abfluss tipptopp, grinst er. Aber ich weiß schon, so leicht kriege ich dich nicht raus aus dem Loch.
Aus meinem Loch, präzisiert Agnes. Sie weiß, dass es ihm völlig unbegreiflich ist, weshalb sie, die Jungärztin, an dieser abgenutzten Altbauwohnung festhält.
Was macht eigentlich dein Pflegeprojekt? fragt der pumpende Gernot, die Stimme etwas gepresst vor Anstrengung: Wie heißt er noch?
Herr Zerai.
Genau, Zerai. Was macht der Ausschlag, war er beim Arzt?
Ich hab ihn gestern im Stiegenhaus getroffen. Aber ich komm nicht so richtig durch zu ihm.
Das stimmte so nicht. Agnes hat an Herrn Zerais Reaktionen erkannt, dass sie durchaus zu ihm durchgedrungen war. Sie kann sich ihr Interesse für den alten Mann selbst nicht erklären. Herr Zerai ist kein Vateroder Großvaterersatz. Es ist dieses Gefühl, wenn sie ihm im Stiegenhaus gegenübersteht und ihn anblickt. Das Wissen, dass hinter der Maske, die sich dieser einsame Mann aufgesetzt hat, etwas Lehrreiches steckt. Sie würde gern hinter die Maske schauen.
Agnes sitzt im Stiegenhaus. Wenn das jemand sieht. Frau Doktor sitzt auf der obersten Stufe und wartet auf ihren Patienten. Der genau genommen gar nicht ihr Patient ist, gar nicht sein will. Und: Wen würde es schon interessieren, was sie da macht? Sitzt doch nur da.
Aber wenn sie dem Zerai das Crotamitex nun in die Hand drückt, dann zwingt sie ihn quasi in die Patientenrolle. Idiotische Bedenken. Der Mann ist krank, da ist es meine Pflicht, etwas zu tun.
Sie versucht, die Tube um ihren Zeigefinger kreisen zu lassen. Wie die Bleistifte während der Unterrichtsstunden, die Kugelschreiber in den Vorlesungen. Aber die Tube ist zu breit und das Training zu lange her, die Tube fällt immer wieder herunter.
Agnes hört die Tür zufallen, Zerai! ist ihr erster Gedanke. Schritte im Stiegenhaus, langsam, wie die eines alten Mannes. Sie steht auf, der Hintern schmerzt nach dem langen Sitzen auf dem harten Boden. Von dem bisschen Rumsitzen? Hypochondrischer Eid, so der Dauerscherz auf der Gastro. Beim ersten Mal fand sie ihn auch witzig.
Nein, da sind noch andere Schritte, eine zweite Person. Sie hört eine fremde Stimme: Wieso soll ich denen Information frei Haus liefern? Liefern ist schon mein Ding, aber Daten kriegen sie nicht von mir, verstehst du? Ich meine, Daten schon, aber was für welche, das ist der Witz dran.
Agnes erkennt den Grund für die Langsamkeit, mit der die Schritte die Stufen heraufkommen. Das ist nicht Gebrechlichkeit, sondern eine Mischung aus angeregtem Gedankenaustausch und studentisch-coolem Schlurfgang. Es nähert sich der Student, der schräg über ihr wohnt, in Begleitung eines Freundes.
Entschuldige, aber das ist schon ein Schmarrn, sagt der Student lachend. Möglichst unterschiedliche Sachen liken, nur damit die nicht wissen, wie du tickst? Warum dann überhaupt das ganze Liken? Da kannst du – Oh, hallo!
Als ob sie die zwei Jungs abpassen würde. Unaufgefordert erklärt Agnes, dass sie auf ihren Nachbarn warte, weil sie ihm eine Salbe geben wolle. Was zu viel Info ist, wieso sag ich das, kann denen ja egal sein. Und wahrscheinlich halten die beiden sie für eine, die jedem auf die Nase binden will, was sie von Beruf ist: Frau Doktor Wallner, ja, ich mache Karriere, aber hey, meine Studienzeit ist noch gar nicht lange her.
Gesagtes lässt sich nun mal nicht rückgängig machen, aber die beiden gehen an ihr vorbei und scheinen sich überhaupt nicht zu fragen, weshalb sie da im Stiegenhaus rumsteht und auf einen Patienten wartet. Die nicht abgeholte Bestellung. Ihr fällt zum ersten Mal auf, dass das ein schon irgendwie schräges Bild ist: Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Während oben Schlüsselgeklimper und das Aufsperren von Tür 4 zu hören ist, stellt sie sich eine ausgekühlte Pizza mit ihrem Gesicht drauf vor, Olivenaugen, Pilznase, Schinkenmund.
Pizza. Carina und sie haben jedes Jahr ihre Projekte. Vor zwei Jahren klapperten sie die Stadt auf der Suche nach dem perfekten Sushi ab – wenig überraschend gewann ein Restaurant im ersten Bezirk. Letztes Jahr galt es, Wiens besten Falaffelproduzenten ausfindig zu machen, und heuer lautet die Frage: Wo gibt es die ultimative Pizza wie in Italien?
Es ist September und ihr habt die perfekte Pizza immer noch nicht gefunden, stellte Gernot vor zwei Tagen am Telefon fest: Darf ich euch ein wenig unter die Arme greifen, damit ihr nicht bis zum Jahresende im Dunklen tappt? Ich hab für uns zwei einen Tisch bei Da Ferdinando reserviert.
Müsste es nicht heißen: Ich hab einen Tisch da Ferdinando reserviert? warf Agnes ein.
Wenn du meinst. Von Sprachen hab ich keine Ahnung, mein Gaumen ist dafür praktisch unfehlbar. Wenn ich dich da Ferdinando überzeuge, dass es dort die beste Pizza Wiens gibt, kannst du ja mit Carina noch mal hingehen.
Schon gut, beim Abschiedsabend muss Carina nicht dabei sein. Bist mein Freund, nicht ihrer.
Der Italiener in Hietzing servierte wirklich die ultimative Pizza, und Agnes fand noch irgendwie Platz für Peperonata-, Bresaola- und Rigatoni-Kostproben. Nicht weniger exzellent war die Flasche Aglianico del Vulture. Am Heimweg im Taxi flüsterte Gernot ihr ins Ohr: Ich hoffe, du langweilst dich nicht zu sehr, während ich in Moskau bin.
Eine Woche ist schnell rum – vor allem wenn man täglich da Ferdinando pilgert, um sich systematisch durch die Pizzaauswahl zu probieren. Wirst ganz schön Augen machen, wenn eine kugelrunde Agnes dir die Tür aufmacht.
Mmmmh, noch mehr Agnes. Gernot strich über die Innenseite ihres Schenkels, seine Hand rutschte immer höher. Er küsste ihren Hals, die Stelle unterm Ohr. Offensichtlich konnte er es kaum erwarten, ins Bett zu kommen und die Noch-nicht-kugelrunde-Agnes zu kosten.

7
Gar nicht langweilig, die Nachbarin, sagt Benno. Hast du bei der mal was probiert?
Marek bereut, dass er Benno zu sich eingeladen hat. Wie konnte er auf den Gedanken kommen, dass ausgerechnet Benno weiß, wo er Bea finden kann. Auch wenn Benno gerne behauptet, jeden zu kennen, egal wie doof oder hässlich. Gerade deshalb ist ihm Bea verborgen geblieben. Er hat keinen Sinn für sie, er kann sie gar nicht kennen.
Ihm zu sagen, er solle die Klappe halten und abhauen, würde eine Grenze überschreiten. In dem Jahr, das sie zusammen in einer WG verbrachten, haben sie sich nicht unbedingt Höflichkeiten an den Kopf geworfen. Aber inzwischen sieht man sich zu selten, um ohne weiteres verbale Grobheiten auszutauschen. Marek muss Bennos Besuch einfach aussitzen.
Außerdem will er etwas von ihm. Wenn der sich nur beeilen könnte: Benno holt ein schwarzes Täschchen aus seinem Rucksack, öffnet langsam wie ein Hohepriester den Reißverschluss und nimmt eine Digitalwaage heraus. Er will wohl zeigen, wie professionell er inzwischen ist. Dabei ist er, seinem manchmal verwirrten Gefasel nach zu schließen, noch immer selbst sein bester Kunde.
Damit du weißt, dass ich dich nicht übers Ohr hau, siehst du, aufs Milligrämmchen, sagt er, und im Handumdrehen baut er einen Joint, natürlich inside-out und natürlich auf Mareks Kosten. Aber Marek sagt nichts, er weiß schon, wie Bennos Reaktion aussehen würde: Wir müssen doch kontrollieren, ob’s gut ist. Einmalige Protodrehung gehört zum Lieferservice. Irgendetwas in der Art.
Marek zieht am Joint, wartet auf die Wirkung. Die setzt zwar nach wenigen Augenblicken ein, trotzdem möchte er Benno nur loswerden. Du gehst mir grad unglaublich auf die Nerven mit deinem ewig gleichen Gerede, schwirrt es ihm durch den Kopf. Kannst du jetzt einfach gehen? Nein, unmöglich.
Kannst du gehen, ich ruf dich irgendwann an, okay? Nein, die Abneigung, die er gerade spürt, lässt sich nicht in Worte fassen. Ist auch nicht durch Worte zu verbergen. Würde er den Mund aufmachen, er würde so oder so verletzend. Marek erinnert sich, wie die WG damals kollabiert ist: Als die Besucher bei Benno überhandnahmen und Theresa (die Jura-Studentin!) nicht länger ignorieren konnte, dass ihr Mitbewohner etwas definitiv Illegales betrieb, spielte sie die Empörte. Marek hat Benno damals verteidigt, wenn auch mit diffuser Argumentationslinie. Ihm wollte kein stichhaltiger Grund einfallen, weshalb es in Ordnung sei, dass Tag und Nacht Fremde an der Tür läuteten, um auf die Schnelle ein paar Gramm Gras zu kaufen. Marek warf Theresa vor, spießig zu sein, ihre Biederkeit nervte letztlich noch mehr als Bennos Geschwätz. Die Stimmung in der WG kippte und das Ergebnis war, dass Theresa (angehende Juristin und Hauptmieterin!) erst den Vermieter kontaktierte und sie schließlich durch handzahme Mitbewohner ersetzte. Marek erklärte Benno daraufhin, er habe fürs Erste genug von Wohngemeinschaften, womit er einer gemeinsamen Wohnungssuche indirekt eine Abfuhr erteilte, gleichzeitig aber eine lose Freundschaft am Leben erhielt, die nicht zuletzt einen praktischen Marihuana-Zustelldienst beinhaltete.
Alter, schau, dass du mal was auf die Reihe kriegst, sagt Benno. Jedes Mal, wenn ich herkomme, sieht’s hier noch ein wenig grindiger aus. Hast du keinen Geschirrspüler? Ich war zwar nicht auf’m Klo, aber wenn ich mich so umschaue, verkneif ich mir das lieber. Was ist, wenn du eine Frau hierher mitnimmst? Die holt sich ja einen Pilz, noch bevor sie im Bett mit dir landet.
Bea würde es nichts ausmachen. Sie ist nicht von der pingeligen Sorte, sie trinkt aus Bierflaschen, die sie aus Badewannen angelt und mit dem Feuerzeug öffnet.
Benno gibt Marek den Joint.
Hast du ein halbwegs sauberes Glas, ich hätte gern ein Wasser.
Eine heikle Situation: Wenn Benno anfängt, sich wohl zu fühlen, schwelgt er bald in Erinnerungen an die WG-Zeit. Das kann sich in die Länge ziehen, und er beginnt wie nebenbei den nächsten Joint zu drehen und Marek hat ihn den ganzen Nachmittag dasitzen. Soll er sagen, dass ihm nicht gut ist, dass er Zahnschmerzen hat? Oder Kopfweh?
Mann, diese gelben Ränder. Besorg dir so Chlorzeug zum Sprühen, sonst kriegst du das nie mehr weg. Oder ist das cool, fährst du auf dem Shabby-Chic-Zug mit?
Ja, Kopfweh geht: Hast du ein Aspirin dabei?
Nein, wieso? Kopfweh?
Mhm.
Hab mich schon gefragt, warum du so still bist. Komm, ich massier dich.
Benno lacht und boxt Marek gegen die Schulter.
Dann werd ich mal aufbrechen.
Hat geklappt.
Danke fürs Wasser. War ausgezeichnet. Und igel dich nicht so ein, meld dich mal. Musst ja nicht wieder bis zur nächsten Bestellung warten.

8
Was ist los ich erreiche dich nicht, tippt sie ins Handy. Seit drei Tagen ist Gernot in Moskau. Sie haben vereinbart, dass er sich meldet, schon gestern hätte er anrufen sollen. Wie sie das hasst, wenn er sich nicht einmal an einfache Vereinbarungen hält. Kurz melden, dass man gut angekommen ist, was ist da schon dabei. Eine SMS, dass der Tag lang war und die Unterkunft wieder einmal untere Liga. Jeder macht so etwas. Bloß Gernot nicht. Und wenn sie dann eingeschnappt ist, kommen ein weiteres Mal die halbgaren Ausreden: So viel um die Ohren, es war schon so spät, nächstes Mal meld ich mich bestimmt. Und dann meldet er sich bei der nächsten Dienstreise auch wirklich gleich, sobald er im Hotel angekommen ist. Und bei der übernächsten? Wieder totale Stille.
Das war früher anders. In den ersten Wochen hat Gernot ihr fast jede Stunde eine SMS aus dem Büro geschickt. Die Nachrichten waren charmant, verspielt, flirtend, er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. Einmal hatte er ihr einen unverständlichen Text geschickt, fremdsprachige Wörter, dazwischen Zahlen. Sie hat den Text in die Google-Suchmaske eingegeben und herausgefunden, dass es Tschechisch war für Du hast zwischen 17. und 19. Juni nichts geplant, oder? Ich schon. Gernot hatte heimlich in ihrem Kalender nachgesehen, wann sie ein freies Wochenende hatte, und für sie beide ein Vier-Sternehotel in Prag reserviert.
Agnes durchforstet ihr Smartphone. Facebook, WhatsApp, Skype. Online findet sie ihn nicht. Wie satt sie das hat, immer soll sie ihm hinterherlaufen. Auch das war nicht immer so.
Drei Tage. Ihre Nachricht bleibt unbeantwortet. Agnes wählt Gernots Nummer, hört, wie ihr Anruf reist: maschinelle Töne, die ein Inlandsgespräch nicht produziert, sondern nur ein Telefonat in die Ferne. Es surrt und pfeift, bis auf einmal der Empfänger in Moskau erreicht ist: Am anderen Ende läutet es. Und da auf einmal die Stimme. Eine Frau. Russisch.
Agnes legt auf.
Dafür gibt es jetzt sicher hundert Erklärungen, aber sie hat nur das Bild von einer Russin und Gernot. Gernot mit einer Russin. Gernot, der der Russin das Telefon abnimmt, Spinnst du! sagt, auch wenn sie das nicht verstehen kann. Sie sieht, wie die Russin kichert, und sie sieht Gernot, der die Frau zu sich zieht, weil es ihm schon wieder egal ist, schließlich gibt es hundert Erklärungen:
Die haben mein Handy gestohlen, mir ist es nicht gleich aufgefallen, ich hatte ja viel um die –
Mein Handy ist auf dem Tisch gelegen und eine Kollegin vor Ort ist einfach drangegangen. So sind die in Russland, nehmen schon mal ab, wenn’s irgendwo läutet und keiner abhebt.
Das Handy ist rumgelegen. Ich war gerade bei einer Besprechung.
Ich war gerade am Klo.
Ich war –
Ich war mit den Kollegen essen, den Mantel hab ich abgegeben. Die Kellnerin hat gehört, dass etwas läutet, ist einfach drangegangen, so sind die, und sie hat nur gesagt, du sollst bitte warten, sie ist gerade dabei, mir das Handy zu bringen. Warum legst du auch gleich auf?
Agnes läuft durch die Wohnung. Sie hat Hemmungen, noch einmal anzurufen. Was macht man in so einer Situation?
Die Stimme der Frau geht ihr nicht aus dem Kopf. Wie vergnügt sie geklungen hat, dabei der sarkastische Unterton.
Wie sie wohl heißt? Mascha vielleicht. Ivana? Agnes stellt sich vor, wie Gernot neben ihr liegt. Sie raucht. Er nimmt ihre Zigarette und zieht. Ein leichter Schwindel, ein angenehmes Gefühl. Der russische Tabak ist stärker und er hat lange nicht mehr geraucht. Dort ist alles ein wenig anders, warum sollte nicht auch er ein wenig anders sein. Sie kann ja auch anders sein. Während er früher höchstens ein bisschen gepafft hat, inhaliert er jetzt den Rauch, als wäre er eine Delikatesse. Ansonsten ist er im Bett eher passiv, hier nimmt er Ivanas Hand und legt sie entschlossen auf seinen Schwanz –
Wenn sie nichts macht, wird sie wahnsinnig. Agnes muss etwas unternehmen, sonst geht die Fantasie mit ihr durch.
Sie ruft noch einmal an. Wieder die metallenen Geräusche, dann bricht die Verbindung auf einmal ab. Das Handy ist ausgeschaltet. Er hat es abgedreht.
Das muss nichts bedeuten, vielleicht ist der Akku leer.
Vielleicht –
Agnes geht in die Küche. Was gibt es zu tun? Irgendwann sollte sie was essen, längst Zeit fürs Abendessen. Was ist da? Sie hat jetzt wirklich keine Lust, etwas zu kochen. Lieber eine Tiefkühlpizza in den Ofen, zusehen, wie sie langsam genießbar wird. Klingt beruhigend, ist es sicher, irgendwie.
Wir nehmen eine Flasche Cabernet Sauvignon dazu. (Wie Gernot die Kellnerin angelächelt hat, und wie die zurücklächelte.) In einer Gasse unweit des Pantheons hatten sie eine Osteria entdeckt, die ihnen nicht als Touristenfalle erschienen war. Agnes beeindruckte, wie natürlich Gernot mit den Italienern auf Deutsch redete. Wenn sie grüßte oder etwas bestellte, packte sie ein paar Italienischvokabeln aus und formte Minimalsätze. Gernot gab sich hingegen keine Mühe. Was ihm aber niemand übelnahm. Im Gegenteil, er wurde von jedem verstanden und in den paar Tagen, die sie in Rom verbrachten, wiederholt in Gespräche verwickelt. Agnes stand dann daneben, während die Einheimischen auf Gernot einredeten und er auf Deutsch antwortete, als handle es sich dabei um eine Spielart des Italienischen.