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Der Rektor war an diesem Tag nicht im Dienst und wurde durch Oberstudienrat Udo Klausen vertreten. Klausen war ein schlanker, hochgewachsener Mann. Er war fast ebenso groß wie Josef Tann, der über ein Meter neunzig maß. Sein dunkles, dichtes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar war lockig und eine Spur zu lang. Sie saßen in der Besucherecke neben dem Lehrerzimmer.
»Ein schreckliches Unglück. Für uns alle unfassbar«, sagte Klausen. Man sah ihm die Betroffenheit an. Da die Beamten ihn nicht unterbrachen, fuhr er fort: »Susanne Gressmer war eine hervorragende Schülerin. Als Klassenlehrer, ich unterrichte Englisch und Mathematik, kannte ich sie ein wenig. Es ist mir völlig unverständlich, dass dieses Mädchen einen Suizid begangen hat. Haben Sie schon herausbekommen, was die Ursache war?«
»Deshalb sind wir hier. Wir dachten, Ihnen sei vielleicht etwas aufgefallen«, antwortete Tann.
»Mir? Was soll mir aufgefallen sein? Am Morgen vor dem Unfall war sie in der Schule. Sie wirkte wie immer. Vielleicht können Ihnen die Mitschüler etwas berichten. Susanne hatte viele Freunde. Sie war sehr beliebt.« Klausen erhob sich und zeigte zum Fenster: »Sehen Sie dort die Sitzgruppe unter dem Vordach?«
Tann war neben ihn getreten: »Drüben am Zaun?«, erkundigte er sich.
»Ja! Dort ist der Treffpunkt der zwölften Klasse. Am besten, Sie warten bis zur nächsten Pause. Ich werde Sie hinführen.«
»Danke, Herr Klausen, das wird nicht nötig sein. Wir kommen schon zurecht«, versicherte Alfons Weiß.
Sie verabschiedeten sich und gingen zu ihrem Wagen.
»Irgendwas an diesem Klausen gefällt mir nicht«, sagte Josef Tann, als sie im Wagen saßen.
Alfons Weiß hatte gerade sein Frühstücksbrot hervorgeholt und biss ein Stück von seiner Stulle ab. Auf seinen Knien stand eine Brotdose mit verschiedenen belegten Brotsorten, einem gekochten Ei und Gurkenscheiben.
»Ist halt ein Pauker. Wie die ebenso sind«, antwortete Weiß mit vollen Backen kauend und schüttete sich Kaffee aus seiner Thermoskanne in einen Becher.
»Man, was deine Frau dir zum Frühstück einpackt, unverschämt viel! Du wirst noch kugelrund«, lästerte Tann und holte eine Flasche Mineralwasser aus seiner Tasche.
Weiß lachte und verschluckte sich prompt. Nachdem ihm sein Kollege hilfreich auf den Rücken geklopft hatte, meinte er prustend:
»Du bist doch bloß neidisch. Solltest auch heiraten, täte dir wirklich gut. Die kleine Sportlehrerin, wäre das nicht was für dich?«
»Lehrerin? Niemals! Außerdem ist die höchstens zweiundzwanzig«, entrüstete sich Josef Tann.
»Sieht aber gut aus«, grinste Weiß.
Die Befragung der Schüler brachte wie erwartet keine neuen Erkenntnisse. Selbst Veronika Brauer, die beste Freundin von Susanne, konnte keinerlei Hinweise geben.
Die Beerdigung von Susanne Gressmer war vier Tage später. Ihre gesamte Klasse und das Lehrerkollegium nahmen daran teil. Die Beisetzung fand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Die Kirche konnte die Trauergäste kaum fassen. Oberstudienrat Klausen hielt eine bewegende Trauerrede. Er endete mit den Worten: »Verzeih Susanne, dass wir dich allein ließen, als du uns brauchtest.«
Seine Frau Sybille war stolz auf ihren Mann, der wie immer die richtigen Worte gefunden hatte.
Es war ein milder Frühlingstag Anfang April. Josef Tann hatte seinen freien Tag. Er hatte sein Fahrrad gereinigt und überholt und machte seine erste Tour. Er wählte eine gut ausgeschilderte Route und benutzte nur geteerte Wirtschafts- oder gut ausgebaute Radwege. Auf den Feldern herrschte emsige Betriebsamkeit. Die Bauern nutzten das gute Wetter zur Feldbestellung. Die ersten Kiebitze waren bereits zurück und ließen ihr munteres »Kiwitt, Kiwitt« erschallen. Josef Tann war auf einem Bauernhof aufgewachsen. Er liebte die erwachende Natur im Frühjahr. Er fuhr gemütlich. Das Gebrumm der Traktoren störte ihn nicht. In Rheda nutzte er den Weg durch die Feuchtwiesen um das Schloss und fuhr dann weiter in Richtung Stromberg. Kurze Zeit später befand er sich auf einer Autobahnbrücke. Er dachte an Susanne Gressmer, die sich vor einigen Wochen von einer anderen Brücke hinunter gestürzt hatte. Er war etwas außer Atem, stellte sein Rad ab und schaute hinunter. Es war nicht viel Verkehr. Richtig voll würde es wohl erst wieder gegen zwölf Uhr sein, jetzt war es gerade zehn Uhr dreißig.
Am anderen Ende der Brücke sah Tann einen Rennradfahrer heraufkommen, der sich beim Näherkommen als Radfahrerin entpuppte. Sie fuhr genau auf ihn zu.
»Na, so was! Ein Polizist mit dem Fahrrad und ohne Helm! Das ist aber kein gutes Beispiel für die Jugend!«, ertönte eine helle Stimme.
Dann erkannte er Cäcilia Brant.
»Außer Ihnen sehe ich hier keine kleinen Kinder«, knurrte Josef Tann.
Sie hielt direkt vor ihm an und streckte ihm lachend die Hand zur Begrüßung entgegen. Er ergriff sie und fragte überrascht:
»Was treibt Sie denn schon so früh in die Natur? Keinen Unterricht heute?«
Sie riss ihren Fahrradhelm vom Kopf und eine dunkelrote Flut von Haaren ergoss sich über ihre Schultern. Sie beugte sich nach vorn, sodass die dunkle Masse fast bis zu ihren Knien reichte, schüttelte sich, warf den Kopf zurück und strich mit der linken Hand das Haar aus der Stirn. Josef Tann hatte ihr fasziniert zugeschaut. Als sie es bemerkte, meinte sie schulterzuckend, ohne auf seine Frage einzugehen:
»Unter dem Helm werden die Haare so erdrückt, ich hasse es!«
Er grinste: »Lassen Sie ihn doch weg!«
»Also wirklich! Ich mache keine Spazierfahrten, ich trainiere! Da ist der Helm lebenswichtig.« Als er noch immer grinste, fuhr sie zornig fort: »Für einen Polizisten haben Sie ziemlich wenig Ahnung.«
»Stimmt genau, Frau Lehrerin!«, sagte er mit Bedauern in der Stimme, konnte aber dennoch sein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
»Machen Sie sich nur lustig! Was sagt denn Ihre Frau, wenn Ihre Kinder ohne Helm fahren? Findet die das auch lustig?«, schnaufte sie verärgert.
»Da ich keine habe, muss ich mir die Frage nicht stellen!« antwortete er und ließ dabei offen, ob er die Frau oder die Kinder meinte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er setzte schnell hinzu: »Kinder sollten trotzdem unbedingt einen Helm tragen.«
Sie war verärgert, drehte ihr Haar zu einem glatten Zopf zusammen und stülpte sich den Helm wieder über.
»Wollen Sie schon weg? Sind Sie beleidigt? Ich würde Sie gern noch etwas fragen, wenn es Ihre Zeit zulässt.«
Er wollte sich noch mit ihr unterhalten.
»Beleidigt? Wieso? Wo Sie doch so höflich waren! Worum geht es denn?«, wollte sie pikiert wissen.
»Irgendwie geht mir dieses Mädchen nicht aus dem Kopf. Warum hat es sich nur umgebracht? Was sagen denn die anderen Schüler so? Haben Sie nicht etwas mitbekommen? Oder ist Ihnen das so egal?«, hakte er schnell nach.
»Ach deswegen stehen Sie hier. Vielleicht hat jemand nachgeholfen!«
Cäcilia Brant hatte hastig gesprochen. Doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, dass es ein Gedanke war, den sie von Anfang an gehabt hatte.
Josef Tann sah sie an, bemerkte plötzlich, dass sie wunderschöne, lange Wimpern hatte, und ganz schmale Augenbrauen, dunkel und kupferfarben. Er beugte sich über das Geländer und meinte:
»Schauen Sie, sie muss kopfüber hinuntergesprungen sein.«
»So springt doch niemand! Schon gar kein Selbstmörder!«, entgegnete sie empört und schaute ebenfalls hinunter auf die Autobahn.
»Das habe ich auch gedacht«, sagte er und ohne Übergang fuhr er fort: »Was halten Sie davon, wenn wir unsere Vermutungen zu diesem Fall bei einem Glas Bier austauschen?«
»Vielleicht!« Sie lachte und ließ ihre ebenmäßigen Zähne sehen.
Er wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
»Am Samstag habe ich frei.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Die Ferien fangen an, da bin ich zwei Wochen lang nicht da.«
Er gab nicht auf: »Dann der erste Samstag nach Ferienende. Ich melde mich bei Ihnen.«
»Okay, ich wohne …«
Er winkte ab. »Nicht verraten! Schließlich bin ich Polizist!«, meinte er großspurig.
Cäcilia Brant zog eine Grimasse und schwang sich aufs Fahrrad. Gedankenverloren schaute er ihr nach.
Es war still auf dem Friedhof. Nur die Vögel in den Bäumen zwitscherten, was das Zeug hielt. Auf den Gräbern blühten Narzissen, Hyazinthen und Tulpen um die Wette. Alles war gepflegt und ordentlich.
Heidelinde Gressmer stand vor dem Grab ihrer Tochter und goss die frisch gesetzten Pflanzen. Der Grabstein war erst vor zwei Tagen aufgestellt worden. Pünktlich zum sechswöchigen Seelenamt war alles fertig geworden. Frau Gressmer war in den letzten Wochen merklich gealtert. Es war nicht allein die Trauer, es war die ständig wiederkehrende, bohrende Frage, warum Susanne fortgegangen war. Sie hatte in dem Zimmer ihrer Tochter alles umgedreht, das Tagebuch gelesen, in allen Papierkörben nach den herausgerissenen letzten Seiten gefahndet und immer und immer wieder von Neuem eine Antwort gesucht. Vergebens. Ihr Mann hatte sich in die Arbeit gestürzt und kam jeden Tag später heim. Nach dem ersten Schock hatten sie heftig gestritten. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen waren einer kühlen Distanz gewichen. Sie sprachen nur noch das Nötigste miteinander.
»Guten Tag, Frau Gressmer«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Sie schrak auf und schaute in das Gesicht von Veronika Brauer. Sie hatte das Mädchen nicht kommen hören.
»Guten Tag, Veronika, wie schön, dass du da bist«, beteuerte Heidelinde und lächelte zaghaft.
»Ich komme öfter her«, erklärte Veronika scheu. Sie hatte ein Glas und einen Strauß roter Tulpen mitgebracht.
»Ich habe noch Wasser genug in der Kanne«, murmelte Heidelinde, füllte das Glas und drückte es neben dem Grabstein in die Erde. Veronika ordnete die Tulpen hinein. Die beiden Frauen standen eine Weile still da. Heidelinde Gressmer brach das Schweigen.
»Veronika, ich gäbe was darum, wenn ich nur wüsste, was da geschehen ist. Du warst doch täglich mit ihr zusammen, ist dir denn gar nichts aufgefallen?«
Veronika schüttelte stumm den Kopf.
Heidelinde Gressmer fasste in ihre Manteltasche und zog einen hölzernen Gegenstand heraus. Es war ein schlichter, handgeschnitzter Engel aus hellem Holz.
»In Susannes Nachttisch habe ich diesen Engel gefunden. Weißt du, wo sie ihn herhat?«
Veronika nahm den Engel und nickte.
»Solche Engel schnitzt der Georg. Alle nennen ihn Schorsch. Er hat seine Werkstatt auf dem Bauernhof Osthager in der Scheune. Wir sind oft mit dem Fahrrad hingefahren.«
»Was ist denn das für ein Mensch? Susanne hat gar nichts von ihm erzählt«, erkundigte sich Heidelinde erstaunt.
»Er ist bereits etwas älter. Dreißig oder so. Hat einen Vollbart. Den haben Sie bestimmt schon gesehen. Er war sogar auf der Beerdigung«, erklärte Veronika.
»Auf der Beerdigung? Ich erinnere mich nicht«, sagte Heidelinde und bemühte sich, ihre Aufregung zu verbergen. »Ist auch nicht so wichtig, Kind. Ich muss noch etwas erledigen. Grüß deine Eltern.«
Heidelinde Gressmer nahm entschlossen ihre Gießkanne und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen. Veronika Brauer schaute ihr überrascht nach.
»Ich weiß es! Er hat es getan, jawohl! Dieser verrückte Holzschnitzer!«
Heidelinde Gressmer schrie. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und Tränen in den Augen. Ihre Bluse war knitterig und ihr Haar ungekämmt. Gernot Gressmer stand am Fenster und sah hinaus. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Die Ausbrüche seiner Frau kannte er zur Genüge. Seit einigen Tagen ging das so und es wurde immer schlimmer. Jetzt rannte Heidelinde auf ihn zu, fasste ihn am Arm und riss ihn zu sich herum. Ihr Gesicht war verzerrt.
»Hörst du mir überhaupt zu? Ich rede mit dir!«, keifte sie.
Er schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt.
»Natürlich, du schreist ja laut genug«, tadelte er müde und sank in einen Sessel.
Sie waren im Wohnzimmer. Zeitungen lagen überall herum. Der Staub auf dem dunklen Mahagoni des Schrankes war lange nicht aufgewischt worden. Heidelinde ließ den Haushalt seit Wochen verkommen. Gernot hasste Unordnung.
»Warum gehst du nicht zu einer Selbsthilfegruppe oder zu einem Arzt? Diese Schuldzuweisungen bringen doch niemand etwas. Du machst dich kaputt mit deiner ewigen Suche nach einem Schuldigen.« ›Und mich auch‹, dachte er, sprach es aber nicht aus.
Heidelinde hatte sich ebenfalls gesetzt. Sie schluchzte jetzt wie ein Kind. Niemand verstand sie. Ihr Mann schon gar nicht. Sie war zu dem Bauernhof gefahren, von dem Veronika Brauer gesprochen hatte. In der Werkstatt traf sie einen jungen Mann mit Vollbart und langen Haaren. Er machte einen verwirrten Eindruck und gab auf ihre Fragen nur unvollständige Antworten. Sie war sicher, dass der Mann etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hatte. Als sie ihn ausfragen wollte, kam eine alte Frau dazu und erklärte ihr barsch, dass ihr Sohn krank sei und sie solle ihn in Ruhe lassen. Ergebnislos war sie nach Hause gefahren. Sie hatte auf die Unterstützung ihres Mannes gehofft. Da er ihre Besorgnis als Hirngespinst abtat, würde sie allein zu Polizei gehen müssen.
Gernot Gressmer nahm seine Jacke ging leise aus dem Zimmer. Seine Frau hatte sich beruhigt und war in stumme Melancholie verfallen.
Den ganzen Tag hatte es in Strömen geregnet. Cäcilia Brant stand vor dem Spiegel. Sie hatte eine Verabredung mit Josef Tann.
In den Osterferien war sie für zwei Wochen bei ihren Eltern im Sauerland gewesen. Ihr Vater war Revierförster. Das Forsthaus lag an einer einsamen Straße im Wald. Sie liebte es, mit ihrem Vater auf die Pirsch zu gehen. Besonders im Frühling, wenn des Morgens die Vögel erwachten und das Wild für Nachwuchs sorgte.
An Josef Tann hatte sie gar nicht mehr gedacht. Kaum war sie zurück, rief er an. Sie war nicht begeistert, hatte aber zugesagt. Es würde ein öder Abend werden mit diesem aufgeblasenen Polizisten. Sie war unschlüssig, was sie tragen sollte. Jeans oder etwa einen eleganten Hosenanzug? Ärgerlich schaute sie auf die Uhr und holte ihre dunkelblaue Jeans mit der passenden Weste und einen mintfarbenen Rolli. Kaum hatte sie sich angezogen, klingelte es. Verärgert schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war schon zehn Minuten über die verabredete Zeit. Zu spät um die Haare hochzustecken, dachte sie. Schnell fuhr sie mit der Bürste durch den dichten Schopf und ging zur Tür.
»Guten Abend!«, begrüßte Josef Tann sie etwas steif und überreichte ihr einen Strauß gelber Tulpen.
Es war laut in der kleinen Kneipe. Sie saßen in einer Ecke und die Kellnerin hatte gerade das Bier gebracht.
»Prost, Frau Lehrerin!«, sagte er grinsend.
Cäcilia Brand lächelte und trank ihm zu.
»Aber Herr Kommissar, warum so förmlich, ich heiße Cäcilia, meine Freunde nennen mich Cil.«
»Cil klingt nett. Zu mir sagen fast alle Jupp«, antwortete er.
»Mögen Sie es nicht, wenn man Sie Jupp nennt?«, erkundigte sich Cil interessiert.
Er zuckte die Schultern. »Na, ja. Meine Mutter sagt manchmal Jos, früher habe ich das gemocht.«
»Jos hört sich gut an.« Sie lächelte wieder.
Er stellte fest, dass ihr Gesicht nicht mehr ganz so blass war wie zuvor. Der Alkohol tat ihr gut.
Cil fühlte sich wohl. Die Kneipe gefiel ihr und ihr Gegenüber war sympathischer, als sie gedacht hatte. Tann hatte nochmals bestellt. Cil spielte mit dem Bierdeckel, bis die Kellnerin erneut servierte. Als er ihr zu prostete, nippte sie nur und erinnerte ihn:
»Wollten wir uns nicht über Susanne Gressmer unterhalten?«
Josef Tann war ganz woanders mit seinen Gedanken und schaute überrascht auf, fing sich jedoch sofort.
»Ist Ihnen im Sportunterricht irgendetwas aufgefallen? Haben die Schüler sich über den Fall unterhalten?«
»Natürlich haben sie darüber gesprochen! Aber selbst die beste Freundin von Susanne, Veronika Brauer, konnte sich den Selbstmord nicht erklären«, gab Cil sinnierend zurück.
»Hatte Susanne denn keinen Freund?«
Er sah sie aufmerksam an und strich dabei mit dem rechten Zeigefinger über den Rand seines Glases.
»Ich glaube nicht, zumindest keinen der Schüler. Ich hatte eher den Eindruck, dass Susanne an älteren Männern interessiert war. Sie führte oft ein Gespräch mit Herrn Klausen.«
Cil hatte einmal gesehen, wie Susanne Gressmer sich mit dem Oberstudienrat Klausen unterhielt. Das Mädchen himmelte ihn an. Tann war jetzt wieder ganz Kommissar. Sein Gesicht war ernst, und Cil konnte fast sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitete.
»Klausen hat behauptet, er kenne das Mädchen nur flüchtig.«
»Wer kennt schon einen Schüler wirklich? Er kennt sie aus der Schule. Schließlich war er ihr Klassenlehrer. Oberstudienrat Klausen unterrichtet Englisch und Mathematik.«
Tann hatte Cil nachdenklich zugehört. Dann fiel ihm etwas ein. »Haben Sie schon einmal vom Schorsch, dem Holzschnitzer gehört? Frau Gressmer war vorgestern bei der Polizei. Sie war der Meinung, Georg Osthager habe ihrer Tochter nachgestellt.«
»Das ist doch Blödsinn! Der Schorsch tut keiner Fliege etwas zuleide!«, ereiferte sich Cil.
»Wir reden hier aber nicht über Fliegen«, schmunzelte Tann, was ihm einen strafenden Blick aus tiefblauen Augen einbrachte.
»Machen Sie sich nur lustig. Ich finde es einfach empörend, dass jemand schon in Verdacht gerät, nur weil er ein wenig sonderbar ist. Alle Schüler waren schon einmal in der Holzschnitzerei. Schorsch ist ein Künstler.«
»Nun regen Sie sich mal nicht so auf! Man könnte meinen, Sie hätten ein persönliches Interesse an dem jungen Mann.«
Tann lachte und bestellte ein neues Pils.
»Ich rege mich nicht auf. Ich finde es nur ungerecht, dass ein Mensch, der schon genug durchgemacht hat, bei jeder Gelegenheit als Sündenbock herhalten soll«, rügte Cil ein wenig versöhnlicher gestimmt.
Tann ergriff ihre Hand, spürte, dass sie zurückzuckte, und ließ sie gleich wieder los.
»Keine Sorge, Frau Lehrerin, ich vergreife mich nicht an Ihnen«, frotzelte er und sie wurde puterrot.
»Ein unverschämter Kerl sind Sie. Ich frage mich wirklich, warum ich hier sitze«, fauchte sie.
Jetzt breitete sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus und der Schalk blitzte in seinen Augen.
»Weil ich so ein toller Typ bin, oder?«
Sie wusste nicht so recht, sollte sie zornig werden oder einfach lachen, entschied sich dann aber für Letzteres.
»So gefallen Sie mir! Ich mag Frauen, die gern lachen.«
Die Kellnerin brachte das Bier und er hob sein Glas, um mit ihr anzustoßen.
»Prost, Cil! Sollten wir nicht einfach Du zueinander sagen, wo wir doch so herrlich miteinander streiten können?«
Cil hob ebenfalls ihr Glas. »Nur wenn du mir versprichst, in den nächsten Tagen einmal in Schorschs Werkstatt vorbeizuschauen.«
»Abgemacht! Wenn dir so viel daran liegt.«
Sie saßen fast bis Mitternacht in dem kleinen Lokal. Als Cil endlich wieder zu Hause war, galt ihr letzter Blick vorm Schlafengehen dem Strauß gelber Tulpen.
Gernot Gressmer kam aus dem Krankenhaus. Seine Frau hatte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Er hatte mit dem Arzt gesprochen. Die Behandlung würde einige Zeit dauern.
Die letzten Wochen waren hart gewesen. Der häusliche Stress um den Selbstmord seiner Tochter hatte seine berufliche Leistung stark beeinträchtigt. In seiner Firma hatte man ihm nahegelegt, eine Kur zu machen. Anfangs verärgert darüber, hatte er nach einem Gespräch mit dem Betriebsarzt eingesehen, dass er wirklich eine Auszeit brauchte. Die Krankenkasse hatte schnell und problemlos reagiert. In zwei Wochen war es soweit. Heidelinde war gut versorgt und würde die nächsten Wochen ohnehin in der Klinik bleiben müssen.
Er hatte bis zum Beginn der Kur Urlaub. Unschlüssig lief er durch das leere Haus. Irgendwann betrat er Susannes Zimmer. Er setzte sich auf das Bett und schaute sich um. Auf dem Nachttisch lag ein Tagebuch. Er nahm es in die Hand und las einige Zeilen. Nichts von Bedeutung. Er blätterte weiter und sah, dass mehrere Seiten am Schluss der Eintragungen herausgerissen waren. Seufzend legte er das Buch zur Seite. Es war müßig, sich zu überlegen, warum Susanne die Seiten herausgetrennt hatte. Diese Grübeleien hatten bei Heidelinde zu einem Zusammenbruch geführt.
Woher sollte man wissen, was in dem Kopf eines jungen Mädchens vorging? Er war so stolz auf seine Tochter gewesen. Besonders im letzten Jahr waren ihre schulischen Leistungen hervorragend gewesen. Ob sie einen Freund gehabt hatte? Was war mit diesem Osthager von dem seine Frau erzählt hatte? Vielleicht wusste er etwas. Den kleinen hölzernen Engel hatte seine Frau neben das Tagebuch gelegt. Er nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Es war eine gute Arbeit. Seufzend legte er ihn zurück und verließ das Zimmer.
II
Der Fahrtwind strich ihr das Haar aus dem Gesicht und trocknete die Tränen, die ihr ununterbrochen die Wangen hinunterliefen. Sie schniefte heftig und versuchte sich mit dem linken Arm durchs Gesicht zu wischen, es brachte nur mäßigen Erfolg und der ungebetene Tränenstrom ließ sich nicht eindämmen. Der Wagen machte einen Schlenker zur Seite, und sie schüttelte unwirsch mit dem Kopf. Das fehlte noch, wenn sie wegen dieses Idioten einen Unfall bauen würde! Energisch setzte sie sich auf und blickte auf das graue Band vor sich. Sie war schon eine gute halbe Stunde unterwegs und mindestens zwanzig Kilometer vom Ort ihrer Schmach entfernt.
Die Bundesstraße führte hier durch leicht hügeliges Gelände. Ohne groß zu überlegen, war sie in Richtung Sauerland gefahren, dort hatte ihr Onkel, ihr einziger Verwandter, eine kleine Hütte, na, mehr schon ein Häuschen. Es lag an einem Stausee in einer Ferienhaussiedlung. Sie hatte einen Schlüssel. Onkel Franz war wie jedes Jahr für mehrere Wochen nach Mallorca geflogen.
Thea war oft dort gewesen, meistens mit ihren Eltern oder in den letzten Jahren mit einer Freundin. Nur mit Maik war sie noch nie dort. Anfangs hatte es sie geärgert, dass er den Besitz eines Wochenendhauses als Naturtick belächelte, jetzt war sie froh darüber. So würde er sie zumindest nicht gleich finden.
Wieder liefen die Tränen. Dieser verdammte Mistkerl. Zwei Monate vor der Hochzeit vergnügte er sich mit diesem Flittchen. Sie hatte Beate schon in der Schule nicht gemocht. Eine impertinente Person, diese blöde Zicke! Immer wenn ihr in ihrer Schulzeit ein Junge gefallen hatte, war Beate aufgetaucht. Ihrem Puppengesicht und den blonden Silberlöckchen konnte keiner widerstehen. Später trug sie hautenge Oberteile und tief ausgeschnittene Blusen, die ihre üppige Oberweite betonten. Thea musste an Andreas denken, groß, dunkelhaarig und schlaksig. Damals war sie sechzehn und er stand kurz vor dem Abitur. Er hatte ihr Mathematik erklärt, und plötzlich machte ihr sogar dieses schwierige Fach Spaß. Ihm verdankte sie eine Drei.
Eines Tages, sie standen vor der Schule und unterhielten sich, da kam, lässig die Tasche über die rechte Schulter gehängt, Beate auf sie zu.
»Hallo, ihr zwei«, sagte sie, hängte sich bei Thea ein und lächelte Andreas an.
Von dem Moment an war Thea Nebensache. Beate belegte Andreas so mit Beschlag, dass er nur noch selten dazu kam, Thea bei den Aufgaben zu helfen. Dabei hatte Beate Nachhilfe gar nicht nötig gehabt. Sie war bei allen Lehrern beliebt und bekam immer gute Zensuren. Trotzdem war sie noch vor dem Abitur von der Schule gegangen.
›Blöde Tucke‹, dachte Thea und seufzte.
So glücklich war sie morgens aufgewacht. Eigentlich musste sie bis Freitag arbeiten, aber gestern war der Chef zu ihr gekommen und hatte gemeint:
»Sie haben doch sicher noch einiges vorzubereiten bis zu Ihrer Hochzeit. Nehmen Sie sich ein paar Tage frei, ich habe mich kurzfristig zu dem Kongress in Berlin angemeldet. Am nächsten Donnerstag bin ich zurück.«


