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Überglücklich wollte sie dann Maik anrufen, hatte es sich aber anders überlegt. Sie wollte ihn überraschen.
Die Überraschung war perfekt, nur leider auch für sie selbst! Sie seufzte tief, und wieder wollten die Tränen kommen, aber mit einem heftigen Schlucken unterband sie energisch den warmen Strom. Zorn breitete sich in ihrem Gemüt aus und verbannte jetzt alle anderen Gefühle.
Sie sah Maiks entgeistertes Gesicht vor sich. Sie hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Mit einem Korb voller Leckereien fürs Frühstück war sie schon in der Frühe zu ihm gefahren. Leise war sie hineingeschlüpft und hatte sich gewundert, dass am Garderobenhaken ein grellrotes Cape hing.
Gerade als sie überlegte, wer es wohl hier vergessen haben könnte, hörte sie leises Lachen aus dem Schlafzimmer. Sie schrak zusammen und blieb unwillkürlich stehen. Sie hörte eine weibliche Stimme.
»Und wie stellst du dir unser Zusammensein vor, wenn du verheiratet bist? Ich habe keine Lust, wegen dieser Bauerndirn Schwierigkeiten zu bekommen.«
»Lass mich nur machen, sie hat doch bisher nichts gemerkt, warum sollte sie dann?«
Maiks Stimme klang selbstbewusst. Also ging das schon länger! Thea wollte gerade voller Wut ins Schlafzimmer stürmen, als sie erneut Maik vernahm:
»Thea hat auch gute Eigenschaften, sonst würde ich sie ja nicht heiraten.«
Mit klopfendem Herzen und mittlerweile hochroten Kopf stand Thea bewegungslos vor der Zimmertür. Den Frühstückskorb schwer am Arm. Sie hörte die Frau laut lachen, und jetzt erkannte sie Beates Tonfall.
»Mein Gott, ich verstehe dich wirklich nicht! Sie ist so hässlich! Formlos und dürr wie eine Bohnenstange und ihr Haar erst, wie bei einem Straßenköter und wie sie sich anzieht …!«
Thea wollte etwas tun, aber sie stand nur steif da. Dann erklang wieder Maiks Flüstern: »Komm, lass uns von etwas anderem reden.«
Beates helles Organ platzte dazwischen: »Mein Gott, Maik, wie kannst du nur so dumm sein, sie ist sicher völlig mittellos, oder?«
Hier wurde sie ärgerlich unterbrochen: »Sei still. Das geht dich nichts an.«
Beate ließ sich nicht abspeisen und triumphierte: »Aha! Also doch!«
Jetzt konnte und wollte Thea nichts mehr hören, sie drückte die Klinke heftig herunter. Wie die beiden entsetzt hochgefahren waren! Zu jeder anderen Zeit hätte sie darüber schallend gelacht. Beates volle Brüste lugten über die Decke, die sie hastig hochzog und Maik machte ein total belämmertes Gesicht.
»Aber … aber … Thea?!«, stotterte er, und hüpfte auf die Füße, schnell mit dem Kopfkissen seine Blöße verdeckend.
Thea staunte noch immer, wie ruhig sie in diesem Moment gewesen war! Sie zog ihren Verlobungsring vom Finger und warf ihn auf das Bett.
»Ich wünsche weiterhin viel Vergnügen!«, sagte sie, drehte sich um und warf die Tür hinter sich zu.
Und nun saß sie allein in ihrem Auto und fuhr durch die Gegend. Was hatte Beate gesagt? Himmel, sollte es etwa wahr sein! Aber wieso? Verflixt, so konnte es gar nicht sein! Maik Lohberg war hinter ihrem Erbe her? Warum? Wegen dem bisschen Geld, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten? Sie wusste zwar nicht genau wie viel, aber Maik war doch nicht arm! Er war der Sohn eines bekannten Anwalts!
Sie kannte Maik schon länger, aber erst seit zwei Jahren, sie war damals neunzehn, waren sie zusammen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern.
Es war an einem kalten, nassen Oktobertag gewesen. Sie hatte gerade mit ihrer Ausbildung begonnen und musste länger arbeiten, weil wichtige Briefe verschickt werden sollten. Als sie endlich das Büro verließ, war es schon sieben Uhr abends. Sie wollte rasch eine Kleinigkeit einkaufen, aber es regnete so stark, dass sie schon auf dem Weg zu ihrem Auto völlig durchnässt war. Wie ein begossener Pudel stand sie vor dem Discount, als die Tür gerade von innen verriegelt wurde.
»Verdammt«, fluchte sie laut, und hinter ihr antwortete jemand: »An der Tanke ist immer auf!«
Als sie sich erschrocken umdrehte, wäre sie fast mit Maik zusammengestoßen. Sie lachten beide herzlich darüber und fuhren dann gemeinsam zur Tankstelle, kauften Spaghetti, Gehacktes, Ketchup und Wein.
Maik lud sie zum gemeinsamen Kochen und Essen in seine Wohnung ein. Seit dem Tag waren sie ein Paar.
Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, Maik könne es auf ihr Geld abgesehen haben. Aber sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, dass er etwas mit Beate hatte!
Wenn Beate recht hätte, dann könnte es sich doch wohl nur um den Hof handeln. Maik war leidenschaftlicher Jäger. Sein Vater hatte mit einigen anderen Jägern eine größere Jagd gepachtet. Wenn er sie heiratete, würde er irgendwann in den Genuss einer eigenen Jagd kommen, wenn Onkel Franz tot war.
Da musste es noch etwas geben, etwas wovon sie nichts wusste. Maiks Vater war Notar und führte die Anwaltskanzlei, die ihre Erbangelegenheiten regelte. In einigen Wochen, gleich nach ihrer Hochzeit, ihrer geplanten Hochzeit, dachte sie grimmig, wenn sie einundzwanzig Jahre alt wurde, sollte sie über ihr Erbe verfügen können. Obwohl sie schon mit achtzehn volljährig war. Ihr Vater hatte es so bestimmt. Es konnte sich aber nur um Bargeld handeln. Davon besaß Maik garantiert genug, denn er hatte erst vor zwei Wochen einen tollen Wagen gekauft. Und überhaupt, das Testament war nicht einsehbar. Maiks Vater hatte ihr gesagt, der Erbvertrag wurde versiegelt. Erst am Tag ihres einundzwanzigsten Geburtstages dürfe der Notar das Siegel brechen. Also konnte Maik gar nichts wissen! Alles Angeberei! Sollte er doch selig werden mit dieser Tussi!
Der Gedanke an ihr Erbteil ließ sie nun nicht mehr los und lenkte sie von ihrem Ärger ab. Theas Vater stammte von einem Gutshof, der Onkel Franz, dem Bruder ihres Vaters, gehörte. Das heißt, er beaufsichtigte den Hof nur, denn er war Arzt, besser gesagt, Chefarzt am städtischen Krankenhaus. Da er keinen Wert auf den Hof legte, ließ er ihn von einem Verwalter bewirtschaften und hatte die Jagd, die dazugehörte, verpachtet. Sie würde den Hof frühestens nach Onkel Franz‘ Tod erben. Da ihr Onkel sich hervorragender Gesundheit erfreute und erst vierundvierzig Jahre zählte, dürfte das wohl vorläufig nicht in Betracht kommen. Wenn er noch heiraten würde und selbst Kinder hätte, wäre das auch vorbei.
Sie schüttelte den Kopf. Das war kein Grund jemanden zu heiraten, den man nicht liebte. Warum dann?
Das Erbteil ihrer Mutter hatte sie bereits mit achtzehn Jahren erhalten. Von der Seite war nichts mehr zu erwarten, obwohl auch ihre Mutter von einem großen Hof stammte. Aber die Großeltern waren früh gestorben und als einzige Tochter hatte die Mutter bei ihrer Heirat den Hof verkauft und das Geld größtenteils in die Unternehmungen des Vaters gesteckt. Bei dem Bargeld, welches sie mit achtzehn bekommen hatte, handelte es um festverzinsliche Rentenpapiere, deren Erlöse sie für Extraanschaffungen wie eine Wohnungseinrichtung und ihr Auto genutzt hatte.
Die Grübeleien hatten die Tränen versiegen lassen und langsam rollte das mintgrüne Käfercabrio durch die kurvenreiche Straße in Richtung Arnsberg. Der Wald war dicht. Bis zur Hütte würde sie noch mindestens eine Stunde brauchen, deshalb wollte sie kurz anhalten. Sie parkte den Wagen am Anfang eines Waldwegs vor einem Schlagbaum, der halb mit einem üppigen Holunderbusch zugewachsen war.
Jede andere Frau hätte sicher Angst gehabt allein mitten im Wald, nicht so Thea. Sie hatte immer auf dem Hof ihrer Eltern gelebt. Als sie siebzehn war, verunglückten ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich. Thea blieb auf dem Hof. Das große Haus verfügte über zwei riesige Wohnungen mit getrennten Eingängen. Eine wurde von ihrem Onkel bewohnt, die andere Wohnung gehörte ihrer Familie.
Als die Eltern starben, stand Onkel Franz ihr mit Geduld und Liebe zur Seite und drängte sie, die geräumige Wohnung zu behalten. Heute war sie froh darüber. Sie hatte ihr Abitur gemacht und dann in einem Zeitungsverlag ihre Ausbildung als Verlagskauffrau begonnen. Ihre Arbeit gefiel ihr und ihre Freizeit verbrachte sie auf dem Hof. Sie liebte Gartenarbeit, war eine hervorragende Reiterin und stromerte gern durch Feld und Wald. Sie liebte das Alleinsein. Obwohl sie mit Maik zusammen war, hatte sich daran nicht viel geändert. Sie gingen zusammen aus, verbrachten die Wochenenden miteinander, aber sonst führte jeder sein eigenes Leben. Nach der Hochzeit wollte sie in Maiks Wohnung ziehen. Maik verfügte über ein Haus mit sechs Zimmern. Es würde reichlich Platz für sie beide da sein.
Das hatte sich nun wohl erledigt, dachte Thea resigniert und schlüpfte durch die Bäume ins Unterholz.
Nach kurzer Zeit kam sie wieder hervor und zupfte sich kleine Äste und Tannennadeln von der Kleidung. Sie holte ihren Taschenspiegel und einen Kamm aus ihrer Handtasche. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Die Tränen hatten ihr Make-up verwischt. In ihrem Haar hatten sich kleine Blättchen verfangen. Sie fuhr mit dem Kamm kräftig durch den dichten Schopf und schüttelte ihn energisch. Dann schnitt sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse und steckte ihr Handwerkszeug wieder ein.
›Wie ein Straßenköter‹, hatte Beate gesagt. ›Na ja‹, dachte Thea beleidigt, ›mein Haar ist wirklich nicht schön, dicht und fest wie Stroh und von einer Farbe, ein komisches, dreckiges Blond, eben straßenköterblond!‹ Ob eine Tönung helfen würde? Unsinn, wozu? Nun war das sowieso egal. Sie würde Maik nicht heiraten, niemals.
Langsam schlenderte sie zu ihrem Auto zurück. Sie musste an ihren Vater denken. Sie hatte ihn geliebt. Es schmerzte sie heute noch, wenn sie daran dachte, dass er nie mehr den Arm um ihre Schultern legen und aufmunternd ihr Haar streicheln würde. Er hatte spitzbübisch gegrinst und sie aufgemuntert, wenn sie mit sich nicht zufrieden war:
»Komm, Prinzessin, mach nicht so ein Gesicht! Bald wird ein junger Mann kommen und dich mir wegnehmen. Ich bin schon jetzt eifersüchtig. Hoffentlich vergisst du deinen alten Vater dann nicht ganz!«
Das war kurz vor seinem Unfall gewesen. Ihr Vater hatte ihr immer das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein.
»Ach, Papa«, wisperte Thea, »was soll ich nur tun?«
Erneut kamen ihr die Tränen. Es hatte keinen Zweck, an alte Zeiten zu denken. Sie musste sich der Realität stellen und Tränen machten alles nur noch schlimmer. Sie wischte sich übers Gesicht und ging zu ihrem Auto. Sie hatte den Wagen nah an den Holunderstrauch gefahren. Jetzt bemerkte sie unter dem Strauch ein Haufen dreckiger Kleider.
›Tja, da hat mal wieder jemand seinen Müll abgeladen‹, dachte sie und wollte einsteigen. Dann schrak sie zusammen. Unter dem Kleiderbündel schaute ein Schuh heraus, nein, nicht nur ein Schuh, ein Fuß steckte in dem Schuh! Ihr wurde ein wenig mulmig zumute. Behutsam trat sie näher.
»He«, sagte sie laut und stieß leicht an den Schuh. Sofort wurde der Schuh eingezogen und ein schmutziges Gesicht tauche aus dem Strauch auf.
»Lass mich in Ruhe!«, knurrte der Mann sie an und rollte sich mit angezogenen Beinen wieder unter die dichten Blätter.
»He, Sie können doch hier nicht so liegen bleiben. Sind Sie verletzt?«
Theas Herz klopfte vor Angst. Sie schüttelte den Mann leicht. Stöhnend kroch er unter dem Laub hervor. Er war nicht alt, vielleicht dreißig. Seine Kleidung bestand nur aus einem mit Flecken übersäten Pullover und einer speckigen Jeans. Sein Gesicht war ebenfalls nicht gerade sauber zu nennen und sein Haar blutverklebt. Vorsichtig tastete er sich hoch.
»Was? Wer sind Sie?«, fragte er unsicher.
Jetzt hatte Thea das Gefühl, der Mann sei betrunken, und der Anflug von Angst war urplötzlich verschwunden. In ihr wuchs eine Wut auf den Mann vor ihr, auf alle Männer, der ganze Ärger dieses Morgens entlud sich auf die arme Kreatur vor ihren Füßen:
»Sie unverschämter Kerl! Sie sollten sich schämen, hier im Dreck zu liegen. Fast hätte ich meinen Wagen auf ihre Füße gestellt. Sie … Sie Idiot. Alter Säufer! Sie … Sie … Straßendreck, Sie!«
Sie verlor den Faden und hielt abrupt inne. Der Mann hatte sich aufgesetzt und starrte sie an. Er hatte große braune Augen mit kleinen, gelben Tupfen darin.
Erschrocken über ihren Wutausbruch senkte Thea den Kopf und schwieg. Langsam und wankend erhob sich der Mann. Er war fast einen ganzen Kopf größer als Thea. Unter dem Schmutz war sein Gesicht kalkweiß geworden. Seine Hände zitterten. Er versuchte eine knappe Verbeugung, die aussah, als suche er irgendwo Halt und sagte:
»Ich, äh ich wollte Sie nicht erschrecken. Würden Sie … könnten Sie mich bis zum nächsten Gasthof mitnehmen?«
Thea betrachtete ihn stirnrunzelnd. ›Na, der muss ja gebechert haben‹, dachte sie. Wie er wohl hierhergekommen war? Was ging sie das an?! Aber mitnehmen? Stets hatte Onkel Franz sie beschworen, nur ja keine Anhalter mitzunehmen. Und nun? Der Mann brauchte Hilfe. Wie ein Verbrecher sah er eigentlich nicht aus. Obwohl man sich da natürlich sehr täuschen kann, dachte sie mit dem Anflug eines Lächelns. Der Mann hatte sich nun etwas gefangen und deutete ihr Lächeln als Zustimmung.
»Ich würde Sie selbstverständlich bezahlen«, beteuerte er.
Sie musterte ihn erstaunt und meinte sarkastisch: »Wenn Sie Geld hätten, ganz bestimmt!«
Dann ging sie ohne weitere Worte um den Wagen herum, setzte sich hinters Steuer und schaute ihn abwartend an. Als er zögerte, fauchte sie:
»Die Tür müssen Sie schon selbst aufmachen.«
Er klopfte sich den Schmutz so gut es ging von der Kleidung und schwang sich wortlos auf den Beifahrersitz. Thea setzte ihre Sonnenbrille auf, fuhr den Wagen zurück auf die Straße und mit einem kleinen Hüpfer brauste der Käfer davon. Der Mann saß tief in die Polster gedrückt und Thea betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte sie dann so unvermittelt, dass er zusammenschrak. Er war scheinbar eingenickt.
»Roland, Roland Winters!«, antwortete er und versuchte ein Lächeln.
Thea konzentrierte sich auf die Straße, denn es kam ihr gerade ein Lastwagen entgegen, dann meinte sie:
»Freut mich, ich bin Thea Mehrwald.«
Jetzt erst schaute der Mann sie richtig an. Er sah ihr halblanges Haar im Wind flattern und bemerkte die Tränenspuren auf ihrem Gesicht.
»Haben Sie geweint?«, fragte er ohne Umschweife.
Sie sah ihn entsetzt an und murrte, den Blick zurück auf die Straße gerichtet:
»Das geht Sie nichts an!« Eine Zeit lang fuhr sie schweigend, dann lächelte sie und lenkte ein: »Wo soll ich Sie hinbringen?«
Ihr Begleiter hatte mithilfe des Seitenspiegels versucht sein Aussehen etwas zu verbessern, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.
»Ich weiß es nicht«, gestand er und blickte Thea unsicher an.
Ohne den Blick von der Straße zu lassen, schnaubte sie: »Was heißt, Sie wissen es nicht? Haben Sie kein Zuhause?«
Herr Winters hob resignierend die Hände. »Ich kenne mich nicht aus, ich bin hier absolut fremd und weiß überhaupt nicht, wie ich in diese Gegend gekommen bin.«
Mit quietschenden Reifen und einem kräftigen Ruck brachte sie den Käfer abrupt zum Stehen.
»Was wissen Sie nicht?«
Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und funkelte ihn zornig an. Er war bei ihrem heftigen Bremsmanöver mit dem Kopf gegen die Frontscheibe gestoßen, fasste an seine schmerzende Stirn und stöhnte:
»Oh, Mann! Sind Sie verrückt!«
»Wer hier verrückt ist, das wird sich gleich rausstellen«, fauchte sie, griff über ihn hinweg und öffnete die Tür.
»Verschwinden Sie aus meinem Wagen, aber dalli! Für Landstreicher habe ich nichts übrig!«
Roland Winters sah sie entsetzt an und hob abwehrend die Hände:
»Bitte, lassen Sie mich weiter mitfahren. Ich erkläre es Ihnen. Ich war mit Freunden Kegeln, anschließend sind wir noch in einer Bar gelandet, da hat es mir absolut nicht gefallen, und so habe ich mich in eine andere Bar bringen lassen. Irgendwann bin ich komischerweise in einem Auto wach geworden. Als ich gefragt habe, was los ist, habe ich einen Schlag auf den Kopf gekriegt. Am Straßenrand bin ich schließlich zu mir gekommen. Mein Geld, meine Scheckkarte, meine ganzen Papiere waren weg. Mir war schrecklich schlecht, und so habe ich mich zunächst unter dem Strauch zusammengerollt. Dann sind Sie gekommen. Bitte nehmen Sie mich weiter mit. Ich muss dringend zu Hause anrufen!«
Skeptisch blickte Thea ihn an.
»Das Telefongeld wollen Sie sicher von mir haben?! Wo wohnen Sie denn?«
»In der Nähe von Hannover.«
»Na, ja. Dann ist es ja kein Auslandsgespräch«, meinte Thea lakonisch und startete ihren Wagen erneut.
Von nun an herrschte Schweigen. Thea verfluchte insgeheim ihre soziale Ader. Nun hatte sie diesen Kerl am Hals. Kurzerhand entschloss sie sich, ihn einfach mit zum Wochenendhaus zu nehmen. Dort würde man weiter sehen. Roland Winters drückte sich tief in den Sitz und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie gefiel ihm. Wenn ihm bloß nicht so schlecht wäre.
Mit einem Male stöhnte er: »Anhalten, bitte.«
Bremsen kreischten und der Käfer kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Winters sprang mit einem Satz heraus und übergab sich im Graben. Missbilligend schaute Thea ihm zu, wartete, bis er zitternd wieder einstieg und fuhr kommentarlos weiter. Sie erreichten eine malerische, an den Berg geduckte Siedlung aus kleinen, hübschen Häuschen. Thea fuhr langsam eine kurvenreiche Straße hoch, bog rechts in einen Hof ein und parkte den Wagen unter einem Abdach.
»Wir sind da!«, sagte sie überflüssigerweise.
Sie wuchtete einen großen Frühstückskorb vom Rücksitz und ging einen schmalen, mit Rosen gesäumten Weg zum Haus. Winters folgte ihr zögernd.
»Na, kommen Sie endlich«, spornte sie ihn ungeduldig an, und als sie im Hausflur standen, wies sie auf eine Treppe:
»Die Treppe rauf, gleich die erste Tür rechts ist das Bad, ich schau mal, ob ich etwas zum Anziehen für Sie finde.«
Er war so verdutzt, dass er ihr noch nachschaute, als sie schon mit dem Korb verschwunden war. Sie steckte den Kopf durch die Tür und fuhr ihn an:
»Nun machen Sie schon, oder meinen Sie, ich serviere Ihnen in dem Aufzug Ihr Frühstück?«
Er beeilte sich und kam aus dem Staunen nicht heraus, als er das Bad betrat. Es war raumhoch gekachelt, modern eingerichtet und verfügte über Dusche und Badewanne. Auf der Konsole fand er alles, was er brauchte, Rasierzeug eingeschlossen. Gerade als er in der gläsernen Kabine den Schmutz von seinem Körper schrubbte, öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, ein schlanker Arm legte ein Häufchen Stoff auf den Hocker und Theas Stimme erklang:
»Ein paar Sachen für Sie. Beeilen Sie sich, das Frühstück ist fertig.«
Wie spät war es eigentlich? Ein Blick zu seinem Arm zeigte nur zu deutlich, dass man ihm auch die Uhr gestohlen hatte. Nach dem Duschen rasierte er sich und hoffte, nicht plötzlich mit einem grimmigen Ehemann konfrontiert zu werden. Eigentlich war sie dafür zu jung. Sicher war sie nicht älter als zwanzig. Die Sachen, die sie hingelegt hatten, passten leidlich. Wer der Mann auch war, er war kleiner und dicker. Er kämmte sein dunkles Haar ordentlich und wurde sich schmerzhaft der Beule auf seinem Kopf bewusst, wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Es ging ihm zum Glück nicht mehr schlecht. Im Gegenteil, er freute sich auf das Frühstück. Selbst ohne Uhr wusste er jetzt, dass es bald Mittag sein musste. Langsam ging er die Treppe hinunter. Unten stand eine Tür offen und Theas Stimme erscholl aus einem Raum, wahrscheinlich war das die Küche:
»Mein Gott, Sie brauchen aber lange.«
Entschlossen ging er hinein. Es war wirklich die Küche, modern mit allem Schnick- Schnack ausgestattet. In einem hübschen Erker aus Glas, der aussah wie ein kleiner Wintergarten mit Blick auf einen grünen Hang, stand ein runder, reich gedeckter Holztisch mit bequemen Stühlen. Thea hatte gerade Kaffee eingeschenkt. Roland Winters blieb stehen.
»Wunderschön haben Sie es hier!«, meinte er anerkennend.
Thea wies auf einen Stuhl, auf dem er Platz nehmen sollte.
»Schön, dass es Ihnen gefällt. Möchten Sie Orangensaft?«
Winters setzte sich und nickte. »Ja, danke. Sie haben ein tolles Frühstück zusammengestellt. Machen Sie das immer so.«
Thea lachte. »Klar doch! Immer wenn ich jemanden auf der Straße auflese!«
Sie frühstückten schweigend. Winters stellte fest, dass seine Retterin sich umgezogen hatte, und ihr Haar war ordentlich gekämmt. Es war fast schulterlang, glatt und hatte die Farbe von frischreifen Nüssen. Ihr Gesicht war schmal, und Augen hatte sie, von einem ganz hellen Blau mit einem dunklen Rand um die Iris, aber irgendetwas machte ihren Blick dunkel und traurig. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht.
Thea hatte festgestellt, dass ihre Zufallsbekanntschaft jetzt nach der Dusche recht sympathisch aussah, und war erfreut, mit welch großem Appetit er zugriff.
Irgendwann erdrückte sie das Schweigen.
»Wenn Sie telefonieren möchten, das Telefon steht in der Diele neben der Eingangstür.«
Er nickte und stand auf.
»Ich helfe Ihnen aber noch beim Abräumen.«
Sie reagierte nicht darauf, und nachdem sie alles weggeräumt hatten, erledigte er sein Telefonat. Als er zurückkam, hatte Thea die Glastüren weit aufgemacht und sich im Garten in die Sonne gesetzt. Roland Winters kam näher und blieb unentschlossen neben ihrem Stuhl stehen. Thea nahm ihre Sonnenbrille ab und blinzelte ihn an.
»Wollen Sie sich nicht setzten?« Ihre Hand wies einladend auf den Stuhl neben sich und sogleich fuhr sie fort: »Na, was haben Ihre Leute gesagt?«
Roland Winters setzte sich.
»Mein Vater war zum Glück nicht zu Hause. Nur meine Schwester. Sie will meine EC--Karte sperren lassen, leider kann sie mich erst morgen abholen. Können Sie mir ein Hotel empfehlen?«
Thea hatte ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schaute gedankenverloren über den Hügel in den blauen Himmel.
»Ich weiß nicht.« Sie überlegte. »Vielleicht können Sie ja hier übernachten. Das Haus hat zwei Schlafzimmer.«
Roland Winters war überrascht, aber er ließ sich nichts anmerken.
»Wenn Sie die Möglichkeit haben«, erwiderte er gedehnt. »Was wird Ihr Mann dazu sagen?«
Abrupt drehte Thea sich zu ihm um: »Mein - was?«
Sie begann schallend zu lachen, lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen. Es dauerte einen Moment, bis Roland Winters begriff, dass sie wirklich weinte. Erschrocken strich er ihr vorsichtig und etwas linkisch übers Haar:
»Aber … aber …«, stotterte er, »ich wollte doch nicht … Hab ich etwas Falsches gesagt?«
Er konnte den plötzlichen Gefühlsausbruch nicht einordnen, verstand jedoch bald, dass nicht er die Ursache ihres Kummers war. Nach ein paar Minuten wischte sich Thea entschlossen durchs Gesicht und versuchte zu lächeln.
»Es ist … ist nicht Ihre Schuld«, schluchzte sie und unvermittelt stellte sie ihm die Frage:
»Sagen Sie, bitte ehrlich, finden Sie mich hässlich?«
Er war verdutzt und wollte abwinken, doch in diesem Moment hörten sie einen Wagen vorfahren, der ihm die Antwort ersparte.
»Oh Gott!«, flüsterte sie, »das ist Maik. Schnell verstecken Sie sich.«
In dieser Sekunde läutete es. Sie wischte sich hastig die Tränen ab und ging zur Haustür. Winters verschwand hinterm Haus in einem Gebüsch, von dem aus er die Terrasse übersehen konnte. Ein gut gekleideter, junger Mann, der Winters merkwürdig bekannt vorkam, trat auf die Terrasse und redete auf Thea ein:
»Sei doch nicht gleich eingeschnappt! Wir können doch wegen solch einer Lappalie die Hochzeit nicht abblasen! Die Einladungskarten sind schon verschickt! Thea, wie stellst du dir das vor?«
Thea warf sich in ihren Gartenstuhl und setzte ihre Sonnenbrille auf. Ihre Stimme klang hohl, als sie antwortete:
»Ich weiß nicht, was du von mir willst! Heirate meinetwegen Beate! Sie scheint ja sowieso bei dir ein und aus zu gehen.«
Maik Lohberg legte sich jetzt richtig ins Zeug.
»Thea, bitte! Lass dir doch erklären. Das mit Beate, das war doch nur Spaß. Ich liebe nur dich.«
Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie gab ihm eine Backpfeife, dass es nur so klatschte.
»Verschwinde!«, schrie sie, »oder ich hole die Polizei.«
Einen kurzen Moment blieb er stehen und schaute sich ratlos um, dann rannte er davon. Kurz darauf verriet das Geräusch seines Wagens, dass er wegfuhr. Thea nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich durch das Gesicht.


