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»Elisabeth!« Mutter schüttelte tadelnd den Kopf.
»Ich erkläre es dir nachher, ja?!« Alfred lächelte mich bittend an und ich setzte mich schmollend wieder an den Tisch.
Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang. Alfred erzählte von seinen Eltern und ihren geschäftlichen Schwierigkeiten und kam zum Schluss mit der Tatsache heraus, dass seine Eltern unmöglich der Hochzeit beiwohnen könnten.
»Was hat unsere Hochzeit mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu tun? Deine Eltern müssen nichts bezahlen, ich möchte sie nur dabeihaben«, empörte ich mich.
Alfred hörte geduldig zu und beschwichtigte: »Wir reisen hin, sobald sie alles geregelt haben.«
Anfangs schmollte ich, ließ mich aber besänftigen, schließlich wollte ich Alfred und nicht seine Eltern heiraten. Dann berichtigte ich ihm von dem Mordfall im Hotel.
»Das tut mir leid, ich konnte nicht ahnen, dass so etwas passiert!« Er nahm mich in die Arme und küsste mich und endlich, nach Tagen des Zorns, fühlte ich mich getröstet und beruhigte mich langsam. Mit Alfred sprach ich nicht mehr über seine Eltern, denn ich hatte gespürt, wie sehr es ihn bedrückte, dass sie nicht kommen konnten.
Drei Tage später war er für seine Firma unterwegs nach Norddeutschland und ich machte mich auf den Weg nach Heidelberg.
Ich wusste nur den Straßennamen, doch Alfred hatte von einem großen Haus mit Garten erzählt, von einem Dienstmädchen und einer Köchin; da würde es sicher kein Problem sein, seine Eltern zu finden. Mit klopfendem Herzen ging ich die Straße entlang. Es war eine vornehme Villengegend mit imposanten Häusern.
War ich seinen Eltern nicht gut genug? Oder hatte sich Alfred geschämt, mich ihnen vorzustellen? Ich kam mir klein und schäbig vor angesichts des Reichtums in dieser Straße, obwohl der Bauernhof meiner Eltern durchaus nicht armselig zu nennen war.
Aufmerksam betrachtete ich die Klingelanlagen an den Toren, fand aber nirgends den Namen Derfeld, da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein Postbote fuhr von Haus zu Haus, ich ging auf ihn zu und fragte ihn.
»Derfeld? Nein, in dieser Straße gibt es niemanden, der so heißt.«
»Es muss hier sein!«, beteuerte ich.
Der Postler schüttelte den Kopf. »In dieser ganzen Siedlung gibt es einen derartigen Namen nicht, da bin ganz sicher! Sie müssen sich irren.« Er hob seine Hand zum Gruß an die Mütze und fuhr davon.
Anfangs war ich ratlos, dann ging ich zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich dort. Auf dem Amt kannte man nur den Namen Alfred Derfeld. Die Anschrift gab man mir nicht, aber ich forschte im Telefonbuch und wurde fündig. Seine Wohnung war in einem Hochhaus im dritten Stock. Ich fuhr zu dieser Adresse, hastete die Stufen hinauf und klingelte. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine alte Dame mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem geblümten Kittel sprach mich an: »Herr Derfeld ist nicht da. Ist beruflich unterwegs.«
»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, hakte ich nach.
Die Alte wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Er war erst letzte Woche ein paar Tage da. Soll ich ihm etwas bestellen?«
Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und fuhr davon. Auf dem Weg nach Hause zermarterte ich mir das Hirn, warum er mir so viele Lügen aufgetischt hatte. Kam noch etwas dazu? Waren Stellung und Beruf ebenfalls erfunden? Ich kam mir ausgenommen und verraten vor. Ich wusste nichts von ihm, außer dem, was er mir erzählt hatte. Wo war er in der Zeit, als der Mord im Wochenendhaus geschah? In seiner Wohnung, wie es die Nachbarin gesagt hatte? Vielleicht mit einer anderen Frau? Oder hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Die ganze Fahrt über grübelte ich. Zu Hause sprach ich allerdings mit niemandem darüber.
Eine Woche später kam Alfred zurück, gut gelaunt und liebenswürdig wie eh und je. Er hatte in den letzten Wochen immer unser Gästezimmer benutzt und war gerade auf dem Weg dorthin.
Ich ging ihm entgegen und zischte: »Du kannst deine Sachen packen! Wir sind geschiedene Leute!«
Ungläubig starrte er mich an. »Was soll das heißen? Kannst du mir das zumindest erklären?«
»Hauptstraße 97, dritter Stock«, fauchte ich ihn an.
Er wurde blass und stotterte: »Du weißt…?«
Ich nickte. »Lügner sind in diesem Haus nicht willkommen. Pack deine Sachen und lass dich hier niemals mehr blicken!«
Ich hatte mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, stattdessen hörte ich meine eigene keifende Stimme im Haus widerhallen und augenblicklich öffnete sich die Küchentür und meine Schwägerin stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.
»Was ist denn hier los?«, ging sie dazwischen.
Ich wurde rot vor Wut, ohne dass ich es wollte, klatschte meine Hand auf seine Wange und hinterließ dort deutliche Spuren, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief mit wehendem Rock und tränenüberströmtem Gesicht davon.
Alfred Derfeld stand einen Moment verdutzt da, schüttelte sich, ging in das Gästezimmer, packte seine Sachen und verschwand vom Hof. Gerda wollte ihn zurückhalten, aber er eilte stumm an ihr vorbei, stieg in seinen Wagen und wurde nie wieder in unserer Gegend gesehen.
Ohne Kommentar ertrug ich die Empörung meiner Familie über mein unmögliches Benehmen und die Frage nach den Gründen unseres Streites. Niemandem verriet ich, was vorgefallen war. Ich verschloss mich jeder Frage und Anteilnahme, bewarb mich um eine Stelle in Süddeutschland und ließ mich für Jahre nach Singen am Hohentwiel versetzen, woraus dann zehn Jahre wurden, bis ich nach Ostwestfalen zurückkam. Danach arbeitete ich bis zu meiner Frühpensionierung am Gymnasium der Kreisstadt.
Von Singen aus forschte ich allerdings gründlich nach der Familie Derfeld. Viel kam nicht dabei heraus, außer dass die Derfelds einst relativ wohlhabend waren. Jahre bevor ich Alfred kennenlernte, gerieten sie in eine finanzielle Krise und verloren Haus und Firma. Alfreds Vater nahm sich das Leben, kurze Zeit später ebenfalls die Mutter. Nach seinem zwölften Lebensjahr wurde Alfred in einem Heim untergebracht, danach verlor sich jede Spur von ihm. Erst bei der Anmeldung in seiner Wohnung in Heidelberg tauchte der Name wieder auf. Ob er Geschwister oder andere Verwandte hatte, erfuhr ich nicht.
Warum hatte er mir nichts von seiner Kindheit erzählt? Ich erwog, ihm zu schreiben, doch ich verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Er hatte mich belogen und so etwas konnte ich nicht durchgehen lassen.
Ich war gerade ein Jahr in Singen, als eines Tages ein Polizeibeamter bei mir auftauchte und mich erneut zu dem Mord in dem Ferienhaus vernahm. Diesmal informierte sich der Kommissar eingehend über Alfred Derfeld. Angeblich war er in Zusammenhang mit verschiedenen Mordfällen, die noch immer nicht aufgeklärt waren, gesehen worden. Jedes Mal, wenn eine junge Frau ermordet worden war, hielt er sich zufällig in der Nähe auf.
Erstaunt erkundigte ich mich nach den fraglichen Zeiten und stellte fest, dass alle drei vorangegangenen Morde geschahen, als ich Alfred für einige Tage bei seinen Eltern oder beruflich unterwegs wähnte. Ich gab dem Kommissar die Auskunft, die er benötigte und versicherte ihm, ich hätte Derfeld seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seine Anschrift in Heidelberg verriet ich ihm nicht. Der Beamte hinterließ seine Karte und verabschiedete sich mit den Worten: »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte umgehend an.«
Der Besuch ließ mir keine Ruhe und ich machte mich einige Tage später ein weiteres Mal auf nach Heidelberg zu Alfred Derfelds Wohnung. Das Namensschild an der Tür war verschwunden. Als ich klingelte, öffnete eine junge Frau und sagte auf meine Frage nach dem Vormieter, sie wisse nicht, wer vor ihr hier gewohnt habe. Gerade als ich gehen wollte, öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung und die ältere Dame, die ich schon vor einem Jahr kennengelernt hatte, stand vor mir.
»Er ist vor einigen Monaten ausgezogen. Seine Firma hat ein Großprojekt in Schleswig-Holstein. Er wollte sich dort eine Wohnung nehmen, um näher an seinem Arbeitsplatz zu sein.«
Ich bedankte mich und fuhr davon.
Alfred war diplomierter Vermessungsingenieur und war für seine Firma häufig unterwegs. In Schleswig sollte ein Autobahnprojekt verwirklicht werden, davon hatte er mir erzählt. Seine Firma hatte sich damals um den Vermessungsauftrag beworben und wohl den Zuschlag erhalten. Mittlerweile konnte ich mir durchaus vorstellen, dass auch die Geschichte mit den Vermessungsingenieur und dem Großprojekt erlogen war.
Ich machte mich wieder auf den Heimweg und grübelte tagelang darüber nach, ob er wirklich in der Lage sei, solche Morde zu begehen. Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass er wohl ein gerissener Lügner, aber kein Mörder war.
Das erste Schuljahr in Singen ging dem Ende zu und ich hatte mich nach einem Haus umgesehen. Unterhalb des Hohentwiels in einem hübschen Vorort entdeckte ich ein Häuschen mit Garten, welches ich dank der Tatsache, dass ich Lehrerin war und an der Mittelschule in Singen unterrichtete, sofort übernehmen konnte. In den Ferien richtete ich mich ein und verbrachte herrliche Tage in dem kleinen Garten.
An einem sonnigen Tag hatte ich es mir auf der Terrasse gemütlich gemacht. Es klingelte an der Haustür. Es war Alfred. Anfangs zögerte ich ihn einzulassen, aber meine Nachbarin grüßte neugierig herüber und so beobachtet, reagierte ich anders, als ich es mir vorgenommen hatte, sollte er jemals vor mir stehen. Doch jetzt wurde ich plötzlich von einem solch merkwürdigen, sehnsüchtigen Gefühl übermannt, dass ich ihn mit klopfendem Herzen und atemloser Stimme hereinbat.
Er folgte mir langsam, sich aufmerksam umschauend, ins Wohnzimmer.
»Schön hast du es hier!«, meinte er anerkennend.
»Es ist noch nicht alles fertig«, sagte ich, nahm in einem Korbsessel gegenüber dem Fernseher Platz und bot ihm den Sitz zu meiner Linken. Schweigend musterten wir einander und ich hoffte, dass er meine innere Unruhe und mein heftig pochendes Herz nicht bemerken würde. Doch Alfred machte nicht den Eindruck, überhaupt irgendetwas zu bemerken, im Gegenteil, er wirkte ebenfalls nervös und war eifrig bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, unter welch großer Anspannung er stand.
Um das sich unangenehm ausdehnende Schweigen zu beenden, fragte ich: »Darf ich dir etwas anbieten? Ein Bier oder vielleicht ein Glas Wein? Ich könnte auch einen Kaffee machen.«
»Alkohol am Nachmittag ist wohl nicht das Richtige, außerdem muss ich noch fahren, ein Kaffee wäre ideal.«
Glücklich, Zeit zu gewinnen, stand ich auf, ging in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Gang, holte einen Rest Kuchen aus dem Kühlschrank, deckte den Tisch und nach einer Viertelstunde saßen wir etwas entspannter einander gegenüber. Ich wunderte mich, dass ich mich nach wie vor in seiner Gegenwart geborgen fühlte, was mich zornig machte und zu einer aggressiven Äußerung veranlasste.
»Willst du dich hier vor der Polizei verstecken oder hast du schon wieder eine Leiche im Keller?«
Er setzte seine Tasse so heftig ab, dass die Untertasse zerbrach, und fauchte mich an: »Ich habe nichts mit diesen Morden zu tun, das weißt du genau!«
»Ach, woher sollte ich? Ich bin doch die Blöde, der du jedes Märchen erzählen kannst!«, giftete ich.
Er sprang auf und lief im Zimmer herum. »Du hast recht, ich habe dich belogen. Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, jemandem zu erklären, dass man seine Eltern verloren hat, und vor allem, wie sie gestorben sind? Ich kann diese Mitleidsbekundungen nicht mehr ertragen!«
»Setz dich bitte wieder«, sagte ich mit unterdrücktem Zorn und meine Schultern bebten.
Er sah wohl meine innere Anspannung und tat mir den Gefallen. Ich sammelte die Scherben seiner Untertasse ein, brachte sie in die Küche und kam mit einer neuen zurück.
»Vor fast achtzehn Jahren«, fuhr er fort, »hatten wir wirklich ein Haus mit einem großen Garten in Heidelberg, die Straße kennst du. Als ich zwölf war, starb mein Vater, er hat sich umgebracht, das erfuhr ich erst viel später. Meine Mutter in ihrer Verzweiflung brachte sich ebenfalls um. Erspare mir bitte die Einzelheiten. Man brachte mich in ein Heim und ein Vormund wurde Verwalter meines Vermögens.«
Ich sah ihn zweifelnd mit großen Augen an.
»Du hast richtig verstanden«, versicherte er gereizt. »Es war nach dem Verkauf des Hauses und der Firma meines Vaters ein Restvermögen vorhanden, das mein Vormund, der leider mittlerweile auch verstorben ist, für mich so geschickt angelegt hatte, dass ich mir nach dem Abitur das Studium finanzieren konnte.«
Plötzlich konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte: »Warum hast du mir das nicht vorher erzählt? Ich hätte dich trotzdem geheiratet.«
Er trat zu mir und legte mir den Arm um die Schulter. »Es ist noch nicht zu spät. Elisabeth, lass uns einfach von vorn anfangen. Ich liebe dich.«
Ich wischte energisch die Tränen ab und schüttelte den Kopf. »Nein! Was ist mit den Morden?«
Seine Faust knallte auf den Tisch, bevor ich geendet hatte und das Geschirr begann bedrohlich zu wackeln.
»Verdammt! Ich habe nichts damit zu tun!«, brüllte er.
»Und warum sucht dich dann die Polizei?«, herrschte ich ihn an.
»Es gibt jemanden, der meinen Namen missbraucht. Er ist vor zwei Jahren bei mir zu Hause eingebrochen und hat meinen Pass gestohlen. Seitdem verfolgt er mich und hinterlässt Spuren, die auf mich hinweisen.«
»Das soll ich dir glauben?«, zischte ich verächtlich und versuchte, die erneut strömenden Tränen zu unterdrücken. »Die Polizei würde so etwas doch merken!«
»Dein Wort in Gottes Ohr!«, stöhnte er und fuhr sich mit den Händen durch das dunkle, wellige Haar. »Er verfolgt mich und ist immer ausgerechnet in der Gegend, in der ich mich gerade aufhalte. Sogar die Wohnung in Heidelberg hat er gefunden. Wenn ich wüsste, wer es ist, ich könnte ihn umbringen!«
»Das erledigst du dann lieber bei den Frauen«, warf ich entrüstet ein, schrak augenblicklich zusammen, weil er mit zornig zusammengekniffenen Augen abrupt vor mir stehen geblieben war. Instinktiv hielt ich einen Arm vors Gesicht und wich ängstlich zurück, mir erst jetzt meiner eigenen Worte bewusst werdend.
Sein Zorn war schneller erloschen, als er aufgekeimt war. Er ließ die Arme sinken und murmelte mit müder Stimme: »Wenn sogar du Angst vor mir hast, dann bin ich wirklich verloren.«
Er trat ans Fenster, während ich mit hastigen Bewegungen den Tisch abräumte und in die Küche eilte. Ohne auf mich zu achten, stand er da, sah hinaus und seufzte tief. Ich kam herein, setzte mich wortlos und überlegte, ob ich ihm glauben konnte.
»Warum gehst du nicht zur Polizei und erklärst alles?«
»Das ist unmöglich. Sie würden mir genauso wenig glauben wie du.«
Er kramte in seiner Tasche, holte etwas zum Vorschein und legte es auf den Tisch. Es war ein Ohrring mit einer kleinen Kette, an der ein Kreuz hing.
Voller Entsetzen starrte ich darauf und flüsterte in Panik: »Woher hast du ihn?«
»Er war in meiner Tasche. Jede der ermordeten Frauen trug nur einen Ohrring.«
Die Angst kroch in mir hoch. Dieser Mann vor mir war ein Mörder, trotzdem schienen seine Ausführungen glaubhaft, zumindest er selbst glaubte daran. Schizophrenie? Anders konnte ich mir seinen Zustand nicht erklären. Die absolute Verdrängung der Morde aus seinem Gedächtnis und die erstaunte Präsentation eines Beweisstückes ließen keinen anderen Schluss zu. Ich musste sehen, dass ich ihn loswurde, und dann sofort die Polizei einschalten. Alfred hatte sich wieder gefangen und war nun, nachdem er mit mir geredet hatte, ruhiger.
»Warum heiraten wir nicht, Elisabeth? Ich könnte deinen Namen annehmen und der Mann wäre für mich nicht mehr so bedrohlich.«
Ich war so verdutzt, dass ich es für einen Scherz gehalten hätte, wäre nicht sein ehrlicher Gesichtsausdruck gewesen. Dieser Mensch war gefährlich und ein guter Schauspieler dazu, ich musste sehr vorsichtig sein mit meiner Antwort.
»Wenn du mir das alles eher gesagt hättest, jetzt ist es zu spät.« Ich beobachtete ihn kritisch. Außer einem aufrichtigen Bedauern konnte ich nichts aus seiner Mimik herauslesen.
Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Ich hatte gehofft, wenigstens du würdest mir glauben, aber ich sehe, ich habe mich geirrt«, bedauerte er resigniert und verabschiedete sich.
Als ich sicher war, dass er mein Grundstück verlassen hatte, suchte ich mit zitternden Fingern nach der Visitenkarte des Kommissars.
Einige Monate später las ich in einem Boulevardblatt die Schlagzeile: Wochenendmörder endlich hinter Gittern!
Mit klopfendem Herzen las ich den Artikel, in dem unter anderem stand, dass der als mutmaßlicher Mörder verhaftete Alfred D. keinerlei Reue zeigte und alle Taten abstritt. Das Foto daneben war schlecht getroffen. Der dunkelhaarige Mann darauf hatte seine Jacke halb über das Gesicht gezogen, und war deshalb kaum zu erkennen. Ich legte die Zeitung beiseite und weinte hemmungslos. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich Alfred noch immer liebte.
In der nächsten Zeit stürzte ich mich in die Arbeit und nach zwei Jahren heiratete ich einen Kollegen.
Norbert Vemo kannte ich von meiner Zeit auf dem Gymnasium in Gütersloh. Er hatte mit seinen Eltern einige Jahre in unserer Kreisstadt gewohnt, und wir waren ab und zu miteinander ausgegangen. Kurz bevor ich Alfred kennenlernte, zog seine Familie nach Süddeutschland.
Es war nicht die große Liebe, wir hatten viele Gemeinsamkeiten und führten ein zufriedenes Leben. Leider blieb unsere Ehe kinderlos, was nach fünf Jahren zur Scheidung führte. Wenn ich ehrlich war, gab es andere wesentlichere Gründe, aber ich wollte und konnte mir unsere Entfremdung, die zum großen Teil in mir selbst begründet war, nicht eingestehen. Ich nahm meinen Mädchennamen an und verlor jeglichen Kontakt zu ihm. Anschließend bewarb ich mich um eine Versetzung zurück nach Nordrhein-Westfalen, was nach weiteren fünf Jahren endlich gelang. Bis zu meinem Ausscheiden aus dem Dienst war ich am Gymnasium in unserer Kreisstadt tätig.
Und jetzt, nach über zwanzig Jahren holte mich die Vergangenheit wieder ein. Kurzerhand hatte ich meine Koffer gepackt und war nach Süddeutschland gefahren. In meinem Gepäck hatte ich den alten Zeitungsartikel. Wenn Alfred zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden war, hatte man ihn vielleicht schon vor einigen Jahren entlassen. Ich wollte mich in den umliegenden Haftanstalten nach ihm erkundigen. Noch immer schmerzte mich der Gedanke an ihn. Irgendwie hatte ich seinetwegen Schuldgefühle, obwohl die völlig unbegründet waren. Allerdings musste ich mir heute eingestehen, dass durch die Verbindung zu Alfred meine kurze Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war.
In Singen angekommen nahm ich ein Zimmer in einem kleinen Hotel unterhalb des Hohentwiels mit Blick auf den Weinberg. Ich wollte die Tage auch nutzen, um einige frühere Kollegen zu besuchen und meine beste Freundin Marita Jonas zu treffen.
Marita wohnte in einem Penthouse mitten in der Stadt mit einem reizvollen Dachbalkon, der durch üppige Bepflanzung wirkte wie ein Garten über den Dächern. Marita war fünfundvierzig Jahre alt, dunkelhaarig und von biegsamer, sportlicher Figur, die sie wesentlich jünger erscheinen ließ.
Wir saßen auf dem Balkon und ich genoss den herrlichen Ausblick über die Stadt. Marita deckte den Kaffeetisch und als sie sich endlich zu mir setzte, plauderten wir angeregt. Sie beobachtete mich prüfend und nach einiger Zeit belanglosen Geschwätzes brachte sie mich mit einer gezielten Frage in Verlegenheit.
»Was ist los, Elisabeth? Du bist nicht gekommen, um mit mir zu plaudern. Es muss etwas passiert sein.«
Ich führte langsam meine Kaffeetasse zum Mund, um Zeit zu gewinnen. Ihre gespannte Aufmerksamkeit verfolgte jede meiner Bewegungen und ließ eine Ausrede nicht zu.
»Es gibt wieder eine Leiche mit nur einem Ohrring.«
»Nein!« Entsetzen stand in ihrem Gesicht.
Mein Blick glitt über die Dächer der Häuser und blieb weit hinten am makellos blauen Horizont hängen. Ohne Marita anzusehen, erzählte ich ihr von dem Fund im Moor.
»Du bist nicht zur Polizei gegangen?«, fragte sie verständnislos.
Ich schüttelte stumm den Kopf. »Der Ohrring rechts fehlte und da fiel mir alles von früher ein. Ich habe die Tote wieder versenkt und bin auf und davon. Ich muss wissen, ob Alfred entlassen ist«, brachte ich heraus.
Marita war aufgestanden und ging langsam hin und her. »Du musst die Polizei informieren!«, drängte sie.
Ich seufzte tief. »Ich weiß. Die Frau ist tot, ob sie zwei Tage eher oder später gefunden wird, ist für sie egal.«
Marita lachte hart auf. »Das mach mal der Polizei klar! Die werden anderer Meinung sein. Fahr zurück, geh zur Polizei und vergiss das Ganze. Der fehlende Ohrring kann Zufall sein.«
»Und wenn es Alfred war?« Ich war unentschlossen und unsicher.
»Himmel, Elisabeth, du bist kein Kind mehr! Wenn Alfred wirklich seinerzeit des Mordes überführt wurde, dann hat er bestimmt lebenslänglich bekommen. Möglicherweise ist er inzwischen aus dem Gefängnis entlassen. Aber bitte sag mir, warum sollte er - vorausgesetzt, er hat die Morde damals tatsächlich begangen - nach über zwanzig Jahren plötzlich das gleiche Verbrechen wiederholen?«
Verzweifelt fuhr ich mir durchs Haar. »Ich weiß es nicht.«
Marita blieb vor mir stehen und sah mich durchdringend an. »Du hast es nicht nachgeprüft, ob er es war? Du wolltest es gar nicht wissen, oder?«
Ohne zu antworten, stand ich auf. Ich hatte mir meinen Besuch bei ihr anders vorgestellt. Ich griff nach meiner Handtasche. Marita hielt mich nicht zurück. Wortlos begleitete sie mich zur Tür. Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck.
Ich war schon am Treppenabsatz, als ich ihre leise Stimme hörte. »Du hast nie aufgehört, ihn zu lieben, nicht wahr?«
Ertappt drehte ich mich um und sah ein schwaches Lächeln auf ihrem sympathischen Gesicht.
»Quatsch!«, winkte ich ab, aber meine plötzlich brennenden Wangen straften mich Lügen.
Ich hastete die Treppe hinunter und lief auf die Straße. Fast eine Stunde lang streifte ich durch die Stadt, ohne auch nur annähernd etwas von der Umgebung mitzubekommen. Irgendwann setzte ich mich erschöpft in ein Café, bestellte mir ein Kännchen Kaffee und ein Stück Kirschkuchen und überlegte. Endlich wurde ich ruhiger und mein Zorn auf Marita war verraucht. Ich hatte gehofft, sie würde mich unterstützen, um etwas über Alfred zu erfahren, aber sie hatte mit ihrem scharfen Verstand wieder einmal voll ins Schwarze getroffen. Eigentlich sollte ich ihr dankbar sein.
Es war weit nach Mitternacht, als ich zu Hause ankam. Meine Schwägerin hatte die Zeitungen und meine Post auf dem Esszimmertisch gestapelt. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf, fand nichts Besonderes und ging gleich zu Bett.
Nach nur drei Stunden Schlaf wachte ich auf und stolperte zum Kühlschrank, um einen kleinen Imbiss zu nehmen. Ich machte mir einen starken Kaffee, holte die neue Zeitung aus dem Briefkasten und vertiefte mich darin. Es war gerade sieben Uhr, als ich mich anzog und zu einem Ausgang startete. Leichter Nebel lag über den Wiesen und es war kühl, es würde ein schöner Tag werden. Im Hühnermoor angekommen, fand ich alles so vor, wie ich es verlassen hatte. Nach einem Moment des Zögerns, setzte ich all meine Kräfte ein, zog an dem Ast und mit klopfendem Herzen beobachtete ich, wie das morastige Wasser nach und nach das Bündel mit der Toten freigab. Erschöpft sank ich neben dem Fang zu Boden, riss daran und obwohl ich wusste, was mich erwartete, erfasste mich ein würgendes Gefühl der Übelkeit, als ich plötzlich das fast bis zur Unkenntlichkeit verquollene Gesicht vor mir sah. Mit zitternden Gliedern erhob ich mich, registrierte im Unterbewusstsein, dass wirklich nur ein Ohrring da war, entfernte mich ein Stück vom Fundort und holte mein Handy aus der Tasche.
Bis zum Eintreffen der Polizei hockte ich mich etwas abseits auf den Boden und überlegte, wie der grausige Fund ins Moor gelangt war. Der Bulli, der vor einigen Tagen etwa fünfzig Meter von hier abgestellt war, konnte damit in Zusammenhang stehen. Ich ging zu der Stelle, an der das Fahrzeug gestanden hatte, aber es waren keine Reifenspuren mehr zu sehen, schließlich waren drei Tage vergangen. Gerade als ich zurückging, rollte langsam ein Polizeiwagen heran und blieb direkt vor mir stehen.


