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Himmel, dachte ich, sie sind nur zu zweit gekommen, als hätte ich ihnen einen Bären aufgebunden.
Eine junge Frau mit perfekt sitzender Uniform und ebenso perfektem Make-up, sprang aus dem Wagen.
»Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Sind Sie die Dame, die uns angerufen hat?«
»Allerdings«, gestand ich leicht gereizt und ging ohne Umschweife durchs Gebüsch, den schmalen Weg entlang, bis an den Rand des Moores.
»Hier liegt sie«, sagte ich trocken und zeigte auf den feuchten Stoffballen.
Die Polizistin strebte darauf zu, zog mit spitzen Fingern den bunten Stoff zur Seite und wurde augenblicklich kalkweiß im Gesicht. Sie trat entsetzt einen Schritt zurück, wandte sich angewidert ab und wankte zitternd zum Wagen zurück. Ihr Kollege stand in der offenen Fahrertür, beobachtete sie grinsend und empfing sie mit den Worten: »Sieht aus, als könntest du einen Schnaps vertragen!«
Sie antwortete nicht, griff an ihm vorbei ins Wageninnere, holte das Mikro heraus und forderte mit belegter Stimme die Kriminalpolizei und einen Polizeiarzt an.
»Sieh zu, dass du in die Gänge kommst«, pfiff sie ihren Kollegen an. »Sperr den Weg ab, damit wir keinen unerwünschten Besuch bekommen.«
Der Kollege machte sich immer noch grinsend an die Arbeit, holte rot-weißes Band und Stäbe aus dem Kofferraum, sicherte die Fundstelle ab und erst danach wagte auch er einen Blick auf die Tote und das Grinsen in seinem Gesicht wich einer vom Schreck geprägten Grimasse. Im Nu wechselte seine frische Farbe in einen grünlich blassen Ton. Mit einer plötzlichen Drehung erbrach er sich hinter einem Strauch und kam verzagt wieder hervor. Seine Kollegin eilte mit versteinerter Miene hinzu und bedeckte die Leiche mit einer grauen Decke.
Ich beobachtete die Szenerie, als stünde ich auf einer Bühne, was sicher auf Außenstehende als kalt und herzlos empfunden wurde, aber ich wusste ja seit ein paar Tagen von der Toten und meine Gedanken befassten sich unablässig mit dem Mörder, den ich zu kennen glaubte, obwohl ich keinen Beweis dafür hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Arzt und Kripo eintrafen. Der Kommissar, ein Mann Ende dreißig, schlank, fast hager, mit dichten dunklen Haaren, stellte sich mit Hauptkommissar Tann vor. Er warf einen kurzen Blick auf die Leiche und kam dann zu mir.
»Sie haben die Leiche entdeckt?«, vergewisserte er sich und zückte seinen Notizblock.
Ich nickte stumm und sah ihn erwartungsvoll an. Anscheinend war er wohl der Ansicht, es sei an mir, mich zu äußern. So gab ich ihm meine Anschrift und meinen Namen und wartete auf seine Fragen.
Er ging hingegen zu der Toten, die mit der grauen Decke verhüllt worden war, wechselte einige Worte mit dem Arzt und winkte mich heran. Zögernd folgte ich seiner Aufforderung.
»Wann haben Sie die Tote gefunden, Frau Landner?«
Da war sie, die Frage, die ich befürchtet hatte. Die ganze Zeit hatte ich gegrübelt, was ich darauf antworten sollte. Jetzt entschloss ich mich zur Wahrheit.
»Am Dienstagmorgen, so gegen sechs Uhr in der Frühe.«
Der Kommissar sah mich erstaunt an und seine braunen Augen waren aufmerksam auf mich gerichtet.
»Am Dienstag?«, wiederholte er ungläubig und sein Notizblock glitt ihm aus der Hand. Er bückte sich schnell, hob ihn auf und ließ mich dabei nicht aus den Augen.
Ich nickte bestätigtend und überlegte mir eine plausible Erklärung. Hörte mich dann zu meiner Überraschung sagen: »Am Dienstag habe ich mich über das Kleiderbündel aufgeregt und wollte es aus dem Schlamm ziehen, es war mir zu schwer. Zu allem Überfluss begann es zu regnen und ich gab auf. Heute Morgen habe ich es dann erneut versucht.«
Kommissar Tann sah mich skeptisch an, notierte sich meine Aussage, schlug die Decke zurück, mit der die Leiche bedeckt war, und wollte wissen: »Kennen Sie die Tote?«
Ich verneinte und bemühte mich angestrengt, nicht in das wässrig aufgedunsene Gesicht zu schauen. In diesem Moment kam der Arzt, der vorher zu seinem Wagen gegangen war, zurück und erklärte: »Wir haben in ihrer Jeanstasche ein kleines Portemonnaie gefunden. Es war eine Plastikkarte der Sparkasse Gütersloh darin. Sie heißt Sonja Bonder. Höchstwahrscheinlich erdrosselt. Bei dem Lederriemen handelt es sich wohl um eine Hundeleine.«
Der Arzt war mittelgroß und schlank. Er machte auf mich einen gehetzten Eindruck. Sein Alter schätzte ich auf sechzig.
»Können Sie bereits etwas über den Todeszeitpunkt sagen, Doktor?«, erkundigte sich Kommissar Tann und ich wartete gespannt auf die Antwort.
Der Arzt hatte sich schon zum Gehen gewandt und zuckte die Schultern. »Ein paar Tage sicherlich, vielleicht auch eine Woche. Das muss die Obduktion klären. Sie lag zu lange im Wasser, um Genaueres sagen zu können.« Er holte tief Luft, sah auf die Tote, bückte sich, zog die Decke wieder über das Gesicht der Frau und eilte ohne ein weiteres Wort davon.
Der Kommissar befasste sich nun mit mir. »Sind Sie sicher, diese Frau nie gesehen zu haben?«
Ich ging in Gedanken erneut alle meine Bekannten durch und nickte. »Die Frau ist mir völlig unbekannt.«
Der Kommissar sah mich an und holte zu einer weiteren Frage aus. »Sie waren Lehrerin in Gütersloh. Könnte es eventuell eine ehemalige Schülerin von Ihnen sein?«
In diesem Moment hielt ein dunkler Kombi etwas entfernt an dem schmalen Fußweg, was mich einer Antwort enthob. Zwei Männer stiegen aus, holten einen Metallsarg aus dem Auto und kamen zu uns herüber. Sie legten die Tote hinein, gingen den Weg zurück, schoben die grausige Fracht in den Wagen und fuhren mit knappem Gruß zu den Beamten, die dort den Weg absperrten, davon. Einige Leute von der Spurensicherung streunten weiterhin durch das Gelände, fanden aber augenscheinlich nichts.
Ich überlegte, ob ich von dem Bulli erzählen sollte, der vor Tagen etwas weiter im Gebüsch gestanden hatte, verwarf den Gedanken sofort und fragte stattdessen den Kommissar: »Kann ich gehen oder benötigen Sie mich noch?«
Er war mit den Gedanken woanders, schrak ein wenig auf und lächelte schwach. »Gehen Sie nur, ich habe ja Ihre Adresse. Wenn Unklarheiten bestehen, melde ich mich.«
Langsam verließ ich die Stätte des Grauens. Am Ende des Weges schaute ich mich um. Kommissar Tann war an den Rand des Moores getreten und sprach mit einem Kollegen der Spurensicherung. An ihren Mienen konnte ich selbst auf diese Entfernung sehen, dass sie nichts Außergewöhnliches gefunden hatten. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Sonne hoch am Himmel stand, kaum eine Wolke zu sehen war und ein Blick zur Uhr sagte mir, dass es schon elf Uhr durch war. Ich schaute einem Sperber nach, der fast direkt über mir flatternd in der Luft stand und nach Beute Ausschau hielt. Plötzlich drehte er ab und flog davon.
So einen Überblick müsste man haben, von ganz da oben, und natürlich das gute Auge des Sperbers, der selbst eine Maus aus der Entfernung erkennen konnte, dachte ich und grübelte auf dem Heimweg darüber nach, wo ich schon einmal diesen dunkelroten Granatohrring gesehen hatte.
Es war am nächsten Tag um drei Uhr in der Frühe, als ich aufwachte und es mir schlagartig einfiel: Im letzten Sommer hatte ich einen Einkaufsbummel in Gütersloh gemacht und nach mehrstündigem Gang durch die Geschäfte bekam ich Lust auf ein leckeres Eis und ich setzte mich an einen Tisch vor einer Eisdiele am Dreiecksplatz. Eine Kellnerin, bekleidet mit weißer Bluse und schwarzem, langem Rock und einer ebenso schwarzen Schürze, erkundigte sich nach meinen Wünschen. Sie trug ihr blondes Haar hochgesteckt und an ihren Ohren hingen rote Ohrringe in der Form eines Tropfens. Ähnelten sie nicht dem, den ich bei dem Mordopfer am linken Ohr gesehen hatte?
Ich konnte mich nicht mehr so genau erinnern, sprang aus dem Bett, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Wie es meine Art war, hatte ich kein Licht gemacht und sah durch das Küchenfenster hinaus. Ein sternenklarer Himmel hob sich leicht von den hohen Eichen des Hofes ab, deren Wipfel sich sanft im Wind bewegten. Gemächlich ging ich mit dem Glas in der Hand durch das dunkle Haus bis zur Terrasse auf der anderen Seite, öffnete weit die Tür nach draußen und setzte mich auf die hölzerne Bank neben der Tür. Tief atmete ich die frische Nachtluft ein und überlegte, ob die Eisverkäuferin die Tote sein könnte.
Ein merkwürdig heulendes Geräusch ließ mich zusammenfahren. Einen Moment lang hielt ich den Atem an, dann vernahm ich es wieder. Es klang wie ein entfernter, lang gezogener Sirenenton, fast wie das Heulen eines Wolfes. Schlagartig fiel mir ein, dass es der Welpe von Liedmanns sein musste, dessen Mutter kürzlich von einem Auto überfahren worden war, und das Tier jaulte nach seiner Mutter. Liedmanns hatten versucht, für ihn eine Hundeamme zu finden, was allerdings bisher nicht gelungen war, und so blieb ihnen nur der Versuch, das Junge mit der Flasche aufzupäppeln. Trotzdem hatte das Tierchen Heimweh nach der Mutter, was es mit durchdringendem Gewinsel zum Ausdruck brachte.
Mein Glas war leer, ich stellte es auf dem Gartentisch ab und ging auf der steinernen Terrasse auf und ab. Nach kurzer Zeit gab ich das Grübeln auf und beschloss, am Morgen in die Stadt zu fahren und der Sache auf den Grund zu gehen. Mit diesem Gedanken ging ich zu Bett und schlief tatsächlich noch einmal fest ein.
II
Herzhaft gähnend öffnete Hauptkommissar Tann die Tür zu seinem Büro im Kommissariat an der Herzebrocker Straße und setzte als Erstes die Kaffeemaschine in Gang. Erst danach schaltete er den Computer ein und sah flüchtig die Post durch. Er war völlig übermüdet. Vor drei Tagen war seine Frau mit dem Erstgeborenen aus dem Krankenhaus zurückgekommen und seitdem gab es in seinem Hause keine ruhige Nacht mehr. Das kleine Windelbündel hatte es geschafft, seine Eltern mit seiner durchdringenden Stimme zu steter Wachsamkeit zu zwingen. Fahrig goss er sich einen Kaffee ein und studierte gerade die Bilder des Polizeifotografen von der Moorleiche, als sein Kollege Alfons Weiß hereinkam.
»Na, wie geht es der jungen Familie?«, sprudelte er schmunzelnd heraus und nahm sich ebenfalls einen Kaffee.
Tann grinste. »Hervorragend! Mutter und Sohn wohlauf, Vater k.o.«
Weiß fuhr sich durch sein struppiges, rotes Haar und stichelte freundschaftlich: »So muss das sein! Warum soll es dir besser gehen als anderen? So ein Wonneproppen macht die Nacht zum Tag.«
»Trotzdem ist es ein irres Gefühl, so einen Winzling im Arm zu halten«, lächelte Tann versonnen und schenkte sich erneut Kaffee ein.
Einen kurzen Moment war es still, bis Alfons Weiß sich nach dem neuen Fall erkundigte.
»Morgen bekomme ich den Bericht der Rechtsmedizin. Die Leiche lag einige Tage im Moor, das ist sicher«, sagte Tann, fischte aus seinem Ablagekörbchen ein Schreiben und reichte es Weiß.
»Was ist mit dieser Lehrerin, die die Leiche gefunden hat?«, hakte Weiß nach, nachdem er den Text gelesen hatte.
»Eine merkwürdige Person, behauptet, schon zwei Tage vorher das Bündel gefunden zu haben. Anstatt die Polizei zu rufen, hat sie erst abgewartet, dadurch sind uns sicher wichtige Spuren verloren gegangen«, ärgerte sich Tann.
»Hast du sie überprüfen lassen?«
Tann nickte. »Keine Auffälligkeiten. Neunundvierzig Jahre alt, früh pensioniert, eine von diesen alten Schachteln, die immer alles besser wissen, aber ansonsten harmlos sind.«
»Alte Schachtel? Mit neunundvierzig? Das solltest du mal meiner Schwester erzählen, sie würde dich lynchen«, lachte Weiß. »Gibt es sonstige Anhaltspunkte zu der Getöteten, Freunde, Familie?«
Tann stand auf, ging ans Fenster, öffnete es weit und sah hinaus. »Die Familie wohnt in Bad Oeynhausen, die Vernehmung wird dort vor Ort gemacht. Sie wohnte zusammen mit ihrem Freund in Harsewinkel in einer gemeinsamen Wohnung. Sein Alibi ist absolut wasserdicht. Die Kleine war Kellnerin im Stadtcafé. Vielleicht können wir dort etwas erfahren.«
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, kündigte Weiß an, ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und schlug grinsend vor: »Mach heute früher Schluss, frisch gebackene Väter werden zu Hause gebraucht!«
Tann seufzte tief und dachte etwas wehmütig, aber voller Stolz an seinen Sohn, der mit Inbrunst nach seiner Mutter schrie, bis sie ihn an die Brust nahm und seinen Hunger stillte.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als ich erwachte. Es war bereits neun Uhr und vom Hof her hallten die Geräusche des laufenden Traktors. Schnell sprang ich aus dem Bett und eine Stunde später saß ich im Wagen, fuhr am Flughafen vorbei in Richtung Gütersloh.
Mein erster Weg führte vom Parkplatz neben dem Wasserturm zum Eiscafé am Dreiecksplatz. Ich bestellte einen Kaffee und musterte die drei Kellnerinnen. Die hatten dunkles Haar. Nach einiger Zeit erkundigte ich nach ihrer Kollegin mit den blonden Haaren, die vor einem Jahr hier bedient hatte. Die Serviererin vor mir klimperte mit ihrer Geldtasche und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Blond? Wir haben keine Blonde, wir sind alle brünett«, entgegnete sie mit leichtem Akzent und schaute dabei ratlos zu ihrer Kollegin hinüber, die hinter der Theke gerade Spaghetti-Eis presste und es mit rotem Erdbeersaft und Kokosflocken verzierte. Kurz darauf gesellte sich diese zu uns und ich wiederholte meine Frage nach der Blondine.
»Bestimmt eine Aushilfe«, sinnierte sie, hob den Kopf in den Nacken, als schaue sie den Tauben nach, die über den Platz hinwegflogen, und nach einigem Nachdenken fuhr sie fort: »Ich weiß jetzt, wen Sie meinen könnten. Es war bestimmt Manuela. Sie ging noch zur Schule, hatte so rote Hänger in den Ohren.« Sie stieß ihre Kollegin an und beide bemühten sich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Unter Prusten und Kichern erzählten sie mir dann, dass ein blondes Mädchen ausgeholfen habe und plötzlich ein Gast einen ihrer Ohrringe im Eis entdeckt habe. Nach seiner Beschwerde habe der Chef Manuela sofort gekündigt.
»Können Sie mir den Ohrring beschreiben?«
Sie nickte. »Rot war er, wie ein Tropfen, der an einer kleinen Kette baumelte. Ich glaube, es war ein Granat.«
In diesem Augenblick rief jemand und die beiden Mädchen schwirrten kichernd davon, um neue Gäste zu bedienen. Ich rührte gedankenverloren in meinem Kaffee und betrachtete dabei einen Gärtner, der dem Rasen auf dem Dreiecksplatz einen neuen Schnitt verpasste. In der Annahme, mehr zu erfahren, zahlte ich an der Kasse und erkundigte mich bei einem Herrn, der seine schwarzen, dichten Haare modisch mit hellen Strähnen aufgepeppt hatte und allem Anschein nach der Chef war, ob die blonde Kellnerin, die in den Sommerferien bedient hatte, gerade Urlaub machte.
»Blond?« Er kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und blockte ab: »Eine Blondine haben wir hier nicht beschäftigt.«
»Ich bin im vorigen Jahr von ihr bedient worden«, beharrte ich.
»Bedaure, Madame, das kann sich nur um einen Irrtum handeln«, wiegelte er ab, drehte sich abrupt um und kümmerte sich, ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden, um die Befüllung des Sahneautomaten.
Einen Moment lang zögerte ich, dann ging ich schnellen Schrittes davon. Warum wollte der Besitzer der Eisdiele mir keine Auskunft geben? Nachdem die beiden Kellnerinnen mir den Namen Manuela genannt hatten, war ich sicher, dass ich mich nicht irrte und sie hier gearbeitet hatte.
Nachdenklich flanierte ich durch die Stadt und plötzlich stand ich, ganz ohne es zu wollen, vor Kirsten Vollmanns Tür und klingelte.
Kirsten war natürlich nicht zu Hause, aber eine freundliche Sekretärin öffnete, bat mich herein und verkündete fröhlich: »Frau Vollmann wird jede Minute zurück sein.«
Ich setzte mich in den kleinen Sessel neben der Tür und stellte erstaunt fest, dass seit meinem letzten Besuch nicht nur die Bürokraft, sondern auch noch einiges andere neu war.
Kirsten kannte ich seit unserer gemeinsamen Schulzeit. Sie hatte nach dem Abitur eine Ausbildung bei der Polizei gemacht, damals ein seltener Frauenberuf, den sie später wieder aufgab, um sich selbstständig zu machen. Vor zehn Jahren, als ich zur Einweihung von Kirstens Detektivbüro eingeladen war, hatte sie nur einen Raum mit einem Schreibtisch und einem Computer, mittlerweile waren es zwei verbundene Räume mit einer Glastür, die jetzt offen stand. Die Regale an den Wänden waren bis zur Decke mit Aktenordnern vollgestopft. Die Sekretärin saß, mit einem Kopfhörer versehen und ohne sich weiter um mich zu kümmern, vor ihrem Bildschirm und hämmerte wie wild auf den Tasten herum. Ab und zu drückte sie den Knopf des Diktiergerätes, spulte das Diktat zurück und verglich konzentriert das Geschriebene mit dem Gehörten.
Etwa eine Viertelstunde wartete ich und wollte gerade unverrichteter Dinge gehen, als Kirsten in einem sportlichen schwarzen Lederanzug hereinkam und mich herzlich umarmte.
»Elli, wie schön! Wartest du schon lange?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nur ein Viertelstündchen!« Mit einem anerkennenden Blick in die Runde fuhr ich fort: »Hier hat sich ja einiges verändert, da musste ich mich endlich mal sehen lassen!«
Kirsten zog mich am Arm durch die Glastür, schloss sie hinter sich und ließ sich hinter einem riesigen Schreibtisch aus Buche nieder, bot mir den Platz gegenüber an und nahm den Hörer ab, um bei ihrer Vorzimmerdame einen Kaffee zu ordern.
Ich sah mich um und stellte fest, dass dieser Raum ganz anders war als das Vorzimmer. Alle Möbel waren aus Buche, gegenüber der Tür lud eine gemütliche Sitzgruppe aus rotem Leder zum Verweilen ein und zu meiner Überraschung standen überall Blumen, rote Rosen wohlgemerkt.
Kirsten lachte plötzlich schallend. »Ich habe einen Verehrer, Elli. Man kann deinem Gesicht ansehen, dass du dir wegen der Rosen Gedanken gemacht hast.«
»Keine Spur«, sagte ich, doch das Brennen auf meinen Wangen verriet mich. Zum Glück erschien die Sekretärin mit dem Kaffee und ich wurde so einer weiteren Antwort enthoben.
Kirsten schenkte ein und als der dienstbare Geist verschwunden war, belustigte sie sich: »Es ist immer wieder schön, zu sehen, wie es im Gehirn anderer arbeitet, wenn bei einer alleinstehenden Frau Rosen den Raum verschönern.«
Ich führte umständlich die Tasse zum Mund und musste unwillkürlich lächeln. »Du hast recht, ich habe mir auch Gedanken gemacht und nun will ich wissen, was an der Sache dran ist!«
»Nichts, zumindest nicht das, was du denkst. Ich hatte bei Walter Mohrer, vom Blumengeschäft Mohrer, Gestecke für das Büro bestellt, und er empfahl Rosen, das ist alles.«
»Und Mohrer ist Familienvater mit Frau und drei Kindern!?«, scherzte ich und Kirstens schönes, dunkles Lachen erschallte erneut.
»Du könntest bei mir anfangen, deine Fragen locken selbst dem Verbocktesten noch ein Geständnis ab.«
»War nur so eine Vermutung«, lächelte ich und Kirsten nickte zustimmend.
»Womit du absolut recht hast, denn Walter ist seit Jahren geschieden und macht mir seit einiger Zeit eindeutige Angebote. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du deshalb gekommen bist, nach so langer Zeit. Was macht die Schule?«
Jetzt war es an mir zu lachen. »Nichts, ich habe den Job aufgegeben.«
»Was?« Ihre großen, grauen Augen sahen mich entsetzt an.
»Du warst Lehrerin aus Leidenschaft, Elli. Wie konnte das passieren?«
»Nun, eine kleine Erbschaft und ein Vertrag mit einem Übersetzungsbüro, schon hatte ich neue Pläne.«
Kirsten schüttelte tadelnd den Kopf und lehnte sich zurück, bevor sie sich zu einer Äußerung entschloss, die eher ein Statement war.
»Bei dir hat alles ein Ende. Erst die Verlobung, dann der Aufenthalt in Süddeutschland und zu guter Letzt deine Lehramtstätigkeit.«
»Du hast meine Ehe vergessen«, sagte ich lakonisch und der überraschte Ausdruck in ihrem Gesicht, ließ mich ergänzen: »Schau an, die beste Detektivin aus dem Kreis ist ahnungslos.«
Sie zog eine Schnute und erkundigte sich: »Also hast du Alfred doch noch geheiratet, oder?«
Ich winkte ab und berichtete ihr von meiner kurzen Ehe mit Norbert Vemo und endete mit dem Satz: »Ich habe seit zehn Jahren nichts mehr von ihm gehört.«
Kirsten stand auf, ging zu dem Schrank gegenüber, öffnete eine Tür, holte zwei Gläser und eine Flasche Sherry heraus, schenkte uns ein und prostete mir zu: »Auf dein bewegtes Leben!«
Ich nahm mein Glas und und fügte hinzu. »Und auf deine Detektei.«
In der nächsten halben Stunde unterhielten wir uns angeregt über ihren Beruf, was mich endlich dazu veranlasste, mein Anliegen vorzubringen.
»Du musst Alfred suchen!«, bat ich sie.
Dann erzählte ich ihr von dem Leichenfund, meiner Fahrt nach Singen und natürlich von dem Ohrring.
Sie lehnte sich weit zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre schwarze, schulterlange Mähne.
»Und du denkst, der Chef des Eiscafés verbirgt etwas?«
Ich nickte. »Die Kellnerin sprach von einer Manuela, die dort ausgeholfen hat und Granatohrringe trug. Der Chef kannte sie angeblich nicht.«
»Er ist Franzose und leitet das Café erst seit zwei Jahren. Vielleicht weiß er wirklich nichts. Die Mädchen werden oft von Marietta, seiner Partnerin, angeheuert. Außerdem ist ein Jahr eine lange Zeit, trotzdem müsste er sich eigentlich erinnern. Ich kenne ihn recht gut. Mach dir mal keine Sorgen, ich werde der Sache nachgehen.«
Wir unterhielten uns, bis ein Kunde von der Sekretärin gemeldet wurde, und verabredeten uns für die kommende Woche.
In den nächsten Tagen ergriff mich eine Rastlosigkeit, die ich mit allerhand Tätigkeiten auszufüllen versuchte, was mir jedoch nur schwer gelang. Selbst meine Schüler - ich gab regelmäßig Unterricht in einer Nachhilfeeinrichtung - bemerkten meine Zerstreutheit und Unruhe.
Edvina Schneeberg stand kurz vor dem Abitur und kam gewöhnlich zur Nachhilfe für Mathematik und Englisch. Sie hatte gute Fortschritte gemacht und würde das Abitur im nächsten Jahr ohne große Probleme schaffen. Edvina war Halbwaise und lebte mit ihrem Vater am Ohlbrocksweg, in einem alten, etwas heruntergekommenen Haus. Sie war fast immer allein, weil ihr Vater ständig auf Reisen war. Ich kannte den Mann nicht, war allerdings erstaunt, dass er seine Tochter so allein in dem Haus zurückließ. Edvina schien jedoch gut damit zurechtzukommen.
Als ich sie einmal nach ihrem Tagesablauf befragte, wiegelte sie ab: »Ich habe ›Big Man‹. Er ist den ganzen Tag bei mir und beschützt mich.«
Sie erzählte mir begeistert von ihrem Bernhardiner und ich verkniff mir jegliche Kritik an ihrem Vater, der aus beruflichen Gründen nur selten zu Hause sein konnte und seine Tochter, wie mir schien, zu oft allein ließ.
Heute strahlte sie vor Freude, weil ihr Vater zurückgekommen war und für eine Woche bleiben wollte.
»Dann wollen wir die Stunde nicht zu lange ausdehnen, damit du mit deinem Vater noch etwas unternehmen kannst«, spornte ich sie an und begann mit einem kurzen englischen Diktat.
Nach dem Unterricht fuhr ich zur Polizei, denn ich musste das Protokoll meiner Aussage vom Tag zuvor unterschreiben.
Wie erwartet, hatten die Beamten bisher nicht viel herausgefunden. Die Kontokarte auf den Namen Sonja Bonder hatte nichts Konkretes gebracht. Bei der Sparkasse existierte zwar ein Konto, es hatten aber schon längere Zeit keine Bewegungen mehr stattgefunden und die Anschrift, die bei der Sparkasse angegeben wurde, entpuppte sich als falsch. Allerdings war es den Polizisten gelungen, ein Foto der Toten zu bekommen, das am selben Tag veröffentlicht wurde, um eventuelle Zeugen zu finden.
Auf dem Bild sah die Frau der ehemaligen Kellnerin des Eiscafés sehr ähnlich und ich gab dem Beamten einen Hinweis, der ebenfalls zu Protokoll genommen wurde.
Es war schon spät, als ich an diesem Tag heimkam und überrascht feststellte, dass ich Besuch bekommen hatte. Vor meiner Haustür saß meine Freundin Marita Jonas auf den Treppenstufen. Sie hielt ihren Kopf weit nach hinten gebeugt und ließ sich von der Sonne bescheinen.
»Deine Schwägerin war sicher, dass du bald zurück sein würdest und hier können wir uns wenigstens nicht verfehlen«, lachte sie und folgte mir gut gelaunt ins Haus. »Du solltest eine Bank neben deinen Eingang stellen, dort ist es wunderschön in der Sonne.«
»Ich habe im Garten einen bequemeren Sonnenplatz«, schmunzelte ich, zeigte ihr die neue überdachte Terrasse und begleitete sie anschließend in das Gästezimmer im Obergeschoss.


