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Während Marita ihren Koffer auspackte, bereitete ich einen kleinen Imbiss vor und kurz darauf aßen wir draußen und genossen die Aussicht meines Gartens auf den angrenzenden Wald. Die Nachmittagssonne warf ihre Strahlen durch die Zweige der hohen Bäume und malte goldene Muster auf meinen Rasen.
Marita hatte sich zurückgelehnt und seufzte. »Herrlich hast du es hier. Wie hast du es nur so lange in Singen ausgehalten?«
»Singen ist auch sehr schön. Du wohnst schließlich da«, lächelte ich, während ich das Geschirr zusammenräumte.
»Ich bin dort geboren, das ist etwas anderes, du stammst von hier.«
Ich schwebte mit dem Tablett davon und überließ sie ihren Betrachtungen. Sie war schon häufiger für einige Tage mein Gast gewesen und ich war glücklich, dass sie unseren kleinen Disput mit keinem Wort erwähnte. Trotzdem war ich gespannt, welche Neuigkeit sie so überraschend zu mir geführt hatte.
Mit Gläsern und einer Flasche Wein ging ich zurück zur Terrasse, wo ich Maritas Platz verwaist vorfand. Bei einem Blick in die Runde entdeckte ich sie an meinem Kräuterbeet hinter dem großen Kirschbaum. Ich schenkte Wein ein und ging ihr mit dem Glas in der Hand entgegen.
»Dein Kräutergarten ist gut bestückt«, meinte sie anerkennend und nahm den Wein. Wir prosteten einander zu und gingen langsam zum Freisitz zurück.
»Bist du eigentlich gar nicht neugierig, was mich so kurz nach deinem Besuch zu dir führt?«, erkundigte sich Marita, nachdem wir unsere Plätze eingenommen hatten.
»Du wirst es mir sicher gleich erzählen«, gab ich vorsichtig zur Antwort, wohl wissend, dass ihre Eröffnung mich in irgendeiner Weise betreffen würde.
»Ich habe bei allen Haftanstalten in unserer Umgebung geforscht. Der Name Alfred Derfeld taucht nirgends auf. Wer auch immer damals in Haft war, Derfeld jedenfalls nicht, es sei denn, er wurde kurzfristig wieder entlassen, da werden die Daten wohl längst gelöscht sein.«
»Die Zeitungen haben berichtet, dass der Mann unter falschem Namen gelebt haben soll«, konterte ich matt.
Marita lachte hart auf. »Dein Derfeld lebte nicht unter falschem Namen oder?«
Ich rang die Hände und flüsterte: »Ich weiß es nicht.«
»Sagtest du nicht, dass ihr zwei Jahre zusammen wart?« Ich nickte und sie fuhr fort: »Na also, er hatte ein Bankkonto, eine Wohnung und bei eurem Urlaub einen Pass. Wenn irgendetwas daran gefälscht gewesen wäre, hättest du garantiert etwas gemerkt.«
»Und was ist mit dem Ohrring? Woher hatte er den?«
»Wenn es wahr ist, was er dir gesagt hat, dann hat ihm tatsächlich jemand einen bösen Streich gespielt.«
Ich zuckte resigniert die Schultern. »Du hast recht, ich hätte damals nicht so schnell aufgeben sollen, aber ich war verletzt und wütend, weil er mich belogen hatte. Wir sollten uns lieber mit dem neuen Mord beschäftigen. Die Polizei hat ein Bild der Toten veröffentlicht.«
»Vermisst denn niemand die junge Frau?«, fragte Marita und genoss den Wein in kleinen Schlucken.
»Davon gehe ich doch aus«, merkte ich an. »Sie hatte eine Bankkarte bei sich, auf der der Name Sonja Bonder steht. Ich habe vor einem Jahr eine Bedienung im Eiscafé am Dreiecksplatz gesehen, die denselben Ohrring trug wie die Tote. Die junge Frau war ebenfalls blond.«
»Wie ich dich kenne, hast du bestimmt nachgeforscht«, meinte Marita lächelnd und sah mich gespannt an.
»Der Chef des Cafés behauptet, eine Blondine habe nie bei ihm serviert.«
»Was dich zu besonderen Ermittlungen anspornen wird!«, grinste Marita und reckte sich ausgiebig, bevor sie fortfuhr: »Schade, dass ich nur kurze Zeit bleiben kann, die Sache interessiert mich.«
»Mir wäre es lieber, ich hätte die Tote nicht gefunden«, versicherte ich lakonisch und verteilte den letzten Wein in unsere Gläser.
Marita ging sehr früh zu Bett, weil sie nach dem Wein und der langen Fahrt müde war. Ich sah bis Mitternacht fern und war gerade eingeschlafen, als das Telefon mich aufschreckte. Einen Moment lang hörte ich nichts, nur den Atem eines Menschen.
»Hallo, wer ist denn da?«
Eine leise Männerstimme antwortete: »Oh, pardon, ich habe mich verwählt.«
Ich legte wütend auf und rollte mich in meine Decke, aber der Schlaf wollte sich nicht gleich einstellen. Im Nachhinein kam mir die Stimme merkwürdig vor, überbetont langsam und höflich. Vielleicht hatte sich der Mann gar nicht verwählt, sondern wollte nur testen, ob jemand daheim war. Lag es am Wein oder wirkte der Fund der Toten sich noch aus? Auf jeden Fall steigerte ich mich in eine solche Unruhe hinein, dass ich leise aufstand, mir einen Tee kochte und erst gegen drei Uhr in der Frühe in einen kurzen Schlaf fiel.
Diesmal war es nicht das Telefon, das mich weckte, sondern Schritte! Unten im Wohnzimmer lief jemand auf und ab. Dann war alles wieder still. Mit angehaltenem Atem lag ich im Bett, bis mir einfiel, dass Marita im Gästezimmer war. Sicher war sie ebenfalls aufgestanden, um etwas zu trinken. Ich wartete ein wenig ab und schlief dann endlich fest ein.
Am nächsten Morgen erschien Marita verschlafen am Frühstückstisch. »Meine Güte, ich habe geschlafen wie ein Stein.«
»Bist du nicht in der Nacht aufgestanden? Ich habe dich unten gehört.«
Sie zuckte die Schultern. »Mich mit Sicherheit nicht. Nach dem Wein und der Fahrt hätte man mich aus dem Bett klauen können, ich hätte es nicht bemerkt.« Sie gähnte herzhaft und ich berichtete ihr von meiner unruhigen Nacht.
»Es kann doch niemand herein. Oder hat noch jemand einen Schlüssel?«, wollte Marita wissen.
»Auf dem Hof gibt es einen Schlüssel, aber keiner meiner Verwandten würde auf die Idee kommen, hier des Nachts herumzuspazieren. Bist du sicher, dass du nicht aufgestanden bist, Marita?«
Marita sah mich empört an. »Erlaube mal! Ich weiß schließlich, was ich tue! Lass uns lieber nachsehen, ob etwas fehlt.«
Ich holte tief Luft. »Es fehlt nichts. Ich habe bereits nachgeschaut. Sogar die Haustür habe ich überprüft, sie ist unversehrt und abgeschlossen.«
Marita schmierte langsam und sorgfältig ihr Brötchen, biss herzhaft hinein und ich tat es ihr gleich. So saßen wir wortlos einander gegenüber, jede mit den Gedanken weit weg und erst nachdem wir beide ausgiebig gefrühstückt hatten, erklärte Marita: »Du hast ein wunderschönes altes Haus, mit viel Holz, da könnte es sein, dass die Geräusche vom Holz verursacht wurden. Dielen knarren manchmal durch Temperaturschwankungen oder Feuchtigkeit, dehnen sich oder ziehen sich zusammen.«
Ich nickte. »Daran habe ich ebenfalls gedacht. Vielleicht lag es auch an dem Telefongespräch, dass ich mich so aufgeregt habe.«
»Telefongespräch?« Marita sah mich erstaunt an.
»Du warst längst im Bett. Nach Mitternacht rief jemand an, er hatte sich verwählt.«
Wir standen auf, räumten gemeinsam den Tisch ab und plötzlich meinte Marita: »Du wohnst über ein Jahr hier im Haus. Wie ist es möglich, dass du sonst nie etwas gehört hast?«
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, in der Regel schlafe ich fest.«
»Dann sollten wir das Ganze vergessen. Sicher hat deine Wahrnehmung dir einen Streich gespielt.«
Marita nahm meinen Arm und wir gingen in den Garten.
In der nächsten Nacht schlief ich tief wie immer.
Am Morgen bedauerte mich Marita: »Du konntest wieder nicht schlafen, nicht wahr?«
»Im Gegenteil, ich habe von der Nacht nichts mitbekommen«, sagte ich, während ich die Frühstücksbrötchen in den Backofen legte.
»Nun mach mal einen Punkt. Ich habe dich gehört, sogar deine Schritte auf der Treppe.« Ich sah sie so entsetzt an, dass sie blass wurde. »Die Schritte haben vor meiner Tür angehalten, ich wollte dich rufen, habe es aber unterlassen«, brachte sie kleinlaut heraus.
Sie setzte sich an den Tisch und ich schenkte Kaffee ein. Sie führte die Tasse zum Mund und ihre Hand zitterte.
»Es war jemand im Haus, Elli. Ganz sicher.«
Der Duft frischer Brötchen verteilte sich langsam in der Küche, doch wir saßen am Tisch und es lief uns kalt über den Rücken.
»Gestern hast du das noch ganz anders gesehen«, flüsterte ich schwach.
Marita, deren Gesicht allmählich Farbe bekam, wisperte: »Tut mir leid, ich habe dir nicht geglaubt. Jetzt habe ich es selbst gehört. Du darfst auf gar keinen Fall allein hier im Haus bleiben!«
Ich stand auf, holte die Brötchen aus dem Backofen, stellte sie auf den Tisch und zerstreute Maritas Bedenken. »Von einem Geist werde ich mich garantiert nicht vertreiben lassen!«
Am Nachmittag, nachdem Marita abgereist war, untersuchte ich gründlich das Haus. Anschließend sprach ich mit meiner Schwägerin. Auch sie konnte sich die Geräusche nur als Dehnungsgeräusche im Holz erklären.
Gerda war nicht gut auf mich zu sprechen, weil sie erst aus der Zeitung erfahren hatte, dass ich im Hühnermoor eine Leiche entdeckt hatte.
»Dreimal war heute ein Reporter hier und hat mich gefragt, ob uns etwas aufgefallen sei, dabei liegt das Moor fast zwei Kilometer entfernt«, empörte sie sich. »Wenn du schon dort des Nachts Leichen aufstöberst, dann informiere uns bitte demnächst.«
Ich wollte keinen Streit und entschuldigte mich bei ihr, worauf sie leicht grinsend bemerkte: »Besser, du findest sie als ich.«
In dem Moment kam mein Bruder hinzu und machte seinem Ärger Luft. »Diese Reporter stöbern überall herum. Sie stiefeln rücksichtslos durch das Korn und zertrampeln mir die Äcker!«
Als Gerda ihm von den nächtlichen Geräuschen erzählte, fauchte er mich an: »Wenn ich eine Leiche ausgebuddelt hätte, würde ich ebenso an Halluzinationen leiden! Was stromerst du eigentlich im Dunkeln durchs Moor?«
Damit war für ihn das Thema erledigt und ich schlief in den nächsten Tagen trotzdem gut, denn die Geräusche traten nicht wieder auf.
III
Mittlerweile hatte die Polizei nähere Erkenntnisse zum Mordfall Sonja Bonder. Es handelte sich bei der Toten um eine junge Frau aus Bad Oeynhausen, die einige Zeit in Gütersloh gewohnt hatte. Die Eltern hatten ihre Tochter als vermisst gemeldet, weil sie seit Kurzem wie vom Erdboden verschwunden war. Ihr richtiger Name war Sonja Manuela Bonder, sie war zweiundzwanzig Jahre alt, blond und etwa ein Meter fünfundsiebzig groß. Sie hatte im Sommer des vergangenen Jahres in Gütersloh ein Praktikum bei der Stadtverwaltung absolviert.
Sofort nachdem ich diese Neuigkeiten erfahren hatte, machte ich mich auf den Weg zu Kirsten Vollmann.
Kirsten hatte mich schon erwartet und teilte mir mit, dass ihre Nachfragen im Eiscafé ebenso negativ verlaufen waren wie meine und rätselte: »Warum sollte ein Mädchen als Bedienung aushelfen, wenn es bei der Stadtverwaltung ein Praktikum macht?«
Ich nahm einen ihrer Reklamezettel zur Hand und sah nachdenklich auf den Spruch: ›Vor Vollmann ist kein Geheimnis sicher!‹
»Dein Spruch ist nicht unbedingt richtig. Zumindest Raouls Geheimnis hast du nicht gelüftet«, lästerte ich freundschaftlich.
»Es ist alles eine Frage der Zeit«, ging sie auf meinen Ton ein und zwinkerte mir zu. Sie holte einen Ordner aus dem Regal und zeigte mir ein Foto. »Ist das die Gesuchte?«
Ich sah verblüfft auf das Bild. Es war im Sommer aufgenommen worden. Vor einem Tisch mit mehreren Personen stand eine Blondine mit einer braunen, langen Schürze. Sie hielt einen Block in der Hand, um eine Bestellung zu notieren. Die junge Frau trug ihr Haar hochgesteckt und ein roter Ohrring hing ihr bis auf die Schulter.
»Woher hast du das?«
Kirsten grinste. »Mein Geheimnis! Das Bild wurde am Dreiecksplatz aufgenommen.«
»Ich sehe es. Also hat Raoul gelogen!«
Kirsten wiegte den Kopf bedächtig hin und her und die lange Kette aus grünen Steinen schwang auf ihrem Dekolleté sanft mit.
»Ich würde nicht behaupten, dass er gelogen hat. Ich würde eher sagen, es ist ihm entfallen.«
Ich starrte sie ungläubig an. »Du meinst, er hat es nur vergessen?«
»So könnte man es nennen. Es gibt Menschen, die streichen Dinge aus ihrem Gedächtnis, die ihnen unangenehm sind.«
Ich lachte auf. »Also wirklich, Kirsten! Du willst mir doch nicht weismachen, dass Raoul es vergisst, wenn er eine Bedienung rausschmeißt, weil sie einen Ohrring im Eisbecher verloren hat. Die Kündigung war durchaus legitim. Außerdem war das erst im vorigen Jahr!«
Sie sah mich überrascht an. »Sie hat einen Ohrring verloren?«
Ich nickte. »Eines der Mädchen erzählte von einer blonden Manuela, deren Ohrring von einem Gast im Eisbecher gefunden wurde. Sie ist daraufhin rausgeflogen. Es war genau so ein Ohrring wie der auf dem Foto.«
Kirsten stand auf, ging an ihr Barfach und holte zwei Gläser und eine Flasche Wasser heraus.
»Ich habe Durst. Möchtest du auch Wasser oder soll ich einen Kaffee kommen lassen?«
»Danke, ich nehme Wasser.«
Nachdem sie sich gesetzt hatte, sagte sie: »Ich habe mich bei einem Juwelier erkundigt. Den Ohrring auf dem Bild gibt es aus hochkarätigem Gelbgold mit einem eingefassten Granaten, ein Paar kostet etwa fünfhundert Euro.«
»Der Wert ist nicht so bedeutend. Wichtig ist, was das Mädchen in Gütersloh wollte und wo zum Teufel der andere Ohrring ist«, schärfte ich ihr ein.
Kirsten sah mich siegesgewiss an. »Wir werden es herausfinden!«
»Wenn du dabei genauso viel Glück hast wie bei der Befragung im Eiscafé, wirst du nichts herausbekommen«, erwiderte ich skeptisch.
Sie lachte. »Sei nicht so pingelig. Sicher kennt Raoul das Mädchen. Ich glaube sogar, er hatte ein Techtelmechtel mit ihr. Ist es da nicht verständlich, dass er sich unwissend stellt? Sie war im vorigen Jahr bei ihm. Soll er sich deshalb heute völlig unnütz von der Polizei ausquetschen lassen?«
»Und wenn er der Mörder ist?«, empörte ich mich.
»Das ist er nicht, da bin ich ganz sicher. Ich vermute eher, dass sie hier in der Gegend einen Freund hatte, der als Täter infrage kommt.«
Ich konnte ihr zwar nicht zustimmen, allerdings war ihre These nicht von der Hand zu weisen, außerdem hatte ich ohnehin eigene Vorstellungen vom Täter und der arbeitete nicht in einem Eiscafé.
Die Tage vergingen schnell. Es war schon wieder Dienstag und der Nachhilfeunterricht stand an. Edvina Schneeberg kam etwas später und ich widmete mich inzwischen zwei anderen Schülern, die gerade erst angefangen hatten, bis sie eine Entschuldigung murmelnd, hereinkam und ihre Utensilien ausbreitete.
Sie reichte mir ihr Heft zur Korrektur. Alle Schüler erhielten nach dem Unterricht von mir eine kleine Aufgabe, die sie möglichst selbstständig erledigen sollten. Sie sah mich gespannt an. Es war eine Zusammenfassung über ihren Tagesablauf, ähnlich einem Tagebuch in Englisch. Edvina hatte sich Mühe gegeben und ich hatte wenig auszusetzen. Mit ihrer schönen, klaren Schrift hatte sie einen fehlerfreien Text zu Papier gebracht, der bei einer Klassenarbeit mit Sicherheit eine gute Note bekommen hätte. Zwar war die Ausdrucksweise manchmal nicht ganz korrekt, aber ich war begeistert, wie sich meine Schülerin verbessert hatte.
»Das Abitur dürfte für dich kein Problem sein, Edvina«, lobte ich und erklärte ihr einige Feinheiten.
»Papa hat auch gesagt, es ist gut«, verriet sie fröhlich und warf ihr Haar zurück, sodass der rote Ohrring hin und her schwang.
»Du hast wunderschöne Ohrringe«, wechselte ich das Thema.
Edvina lächelte stolz. »Es ist nur einer, Frau Landner. Papa war in dieser Woche zwei Tage zu Hause. Gestern Abend musste er leider weg und heute Morgen, als ich die Zeitung geholt habe, lag ein Umschlag im Briefkasten, da war der Ohrring drin.«
Ich starrte sie an, wollte etwas antworten, überlegte es mir anders und besprach mit ihr stattdessen ihren Text. Sie bemerkte meine Unruhe.
»Ist etwas nicht in Ordnung? Sie sind so blass?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Meine Migräne macht mir momentan zu schaffen. Es ist nicht so wichtig.«
»Sie sollten sich unbedingt untersuchen lassen. Meine Mutti hatte ständig Kopfschmerzen, und dann fanden die Ärzte heraus, dass es es ein Tumor war.«
Sie sah mich bei diesen Worten traurig an und ich stellte ihr die Frage, die mich seit Langem interessierte: »Wie alt warst du, als deine Mutter starb?«
»Dreizehn, aber sie fehlt mir bis heute.« Die direkte Antwort brachte mich in Verlegenheit, doch Edvina lächelte schon wieder. »In der ersten Zeit nach ihrem Tod bin ich jeden Tag zum Friedhof gegangen und habe ihr erzählt, was ich gemacht habe, wenn Papa nicht zu Hause war.«
Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen und mir wurde zum ersten Mal schmerzlich bewusst, dass es nie ein Kind geben würde, das so von mir sprach.
»Deinen Vater hat es sicher genauso schwer getroffen.«
Sie nickte nur schweigend und vertiefte sich nun intensiv in den Text, den ich ihr zum Durcharbeiten gegeben hatte.
An diesem Tag ging ich nach der Unterrichtsstunde einkaufen und kam spät heim. Mein Anrufbeantworter hatte eine Nachricht von Kirsten Vollmann gespeichert. Ich rief sie sofort an und erfuhr, dass die tote junge Frau, die ich im letzten Jahr im Eiscafé gesehen hatte, im Frühling im Stadtcafé bedient hatte.
»Man konnte sie nach dem Praktikum in der Stadtverwaltung nicht übernehmen. Sie hat dann kurzfristig bei ihren Eltern in Bad Oeynhausen gelebt. Im Frühling ist sie mit einem Freund zusammengezogen, der in Harsewinkel wohnt und hat dort bis zu ihrem Tod als Bedienung im Stadtcafé gearbeitet«, berichtete Kerstin.
»Merkwürdig, ich war erst vor einigen Wochen da, habe sie aber nicht gesehen«, murmelte ich nachdenklich.
»Vielleicht hatte sie Urlaub oder gerade ihren freien Tag, als du da warst«, meinte Kirsten. »Du könntest dich ein wenig umhören.« Ich versprach es. »Elli, ich muss jetzt leider auflegen, im Büro ist momentan der Teufel los!«, verabschiedete sie sich hektisch von mir.
Schade, denn ich wollte ihr von Edvinas Ohrring erzählen. Ich musste wohl oder übel auf einen günstigeren Zeitpunkt warten.
An diesem Abend blieb ich bis nach Mitternacht auf und schlief dementsprechend bis zum Morgen durch, unternahm einen weiten Spaziergang und kam zu Mittag zurück. Nach dem Essen las ich die Zeitung, schrieb einige längst fällige Briefe, duschte und kleidete mich sorgfältig an. Am Nachmittag wollte ich mich einmal richtig verwöhnen und machte mich gegen vier Uhr auf ins Stadtcafé. Mitten im Zentrum der Stadt in einer kleinen Sackgasse, berankt mit Weinlaub, lag das Café. Seele und Besitzerin war Karin Mann, eine reizende, etwas rundliche Mittfünfzigerin, mit freundlichen braunen Augen und einem umwerfenden Lächeln.
Als ich den gemütlichen Raum betrat, wählte ich den Tisch in der Fensterecke und bestellte Karins berühmte Preiselbeertorte. Während ich Kaffee und Kuchen genoss, beobachtete ich verstohlen die anderen Gäste. Zwei Herren mittleren Alters unterhielten sich angeregt. Die beiden Frauen, die an verschiedenen Tischen an ihrem Kaffee nippten, hatten sich in die Tagespresse vertieft und ein wenig abseits saßen vier ältere Damen, deren munteres Geplauder immer wieder durch ein Lachen unterbrochen wurde.
Die Kellnerin, eine dunkelhaarige Frau Mitte dreißig, klapperte mit dem Geschirr, als erwarte sie Heerscharen von Gästen. Leise Musik überdeckte sanft alle anderen Geräusche, wenn nicht gerade das helle Lachen vom Kaffeekränzchen herüberschallte.
Fast eine Stunde lang saß ich in meiner Ecke, rief dann die Bedienung und zahlte. Sie räumte mein Geschirr auf ein Tablett und ich schlüpfte in meine Jacke, als plötzlich Karin Mann auftauchte und mich herzlich begrüßte. Wir hatten uns lange nicht gesehen und ich begleitete sie in die Küche.
Als ich mich bei ihr nach der blonden Serviererin erkundigte, wurde sie ärgerlich und schimpfte: »Das sind die jungen Dinger! Erst betteln sie, dass man sie einstellt und wenn es darauf ankommt, bleiben sie einfach weg!«
Ich verriet ihr nicht, dass ihre Kellnerin tot war, das würde sie früh genug von der Polizei erfahren, und sagte nur: »Vielleicht gibt es nachvollziehbare Gründe, warum sie nicht zurückgekommen ist. Hast du nicht bei ihr angerufen?«
»Anrufen? Ich?«, empörte sie sich. »So weit kommt das noch! Ich habe die Papiere fertig gemacht und sie ihr zugeschickt. Hier will ich sie nicht mehr sehen. In letzter Zeit habe ich ohnehin nur Scherereien mit dem Personal!«
»Wieso? Hat das Mädchen etwas angestellt?«
Sie winkte entrüstet ab. »Unpünktlich war sie und eine Lügnerin obendrein! So etwas kann ich nicht gebrauchen! Ich erwarte von einer Arbeitskraft korrektes, ordentliches Verhalten.«
»Lügnerin, wieso?«
Karin machte eine abwertende Handbewegung. »Immer dasselbe. Kaum fangen sie an, wollen sie gleich einen freien Tag oder etwas eher gehen. Sie erzählte mir, sie habe einen Zahnarzttermin. Wenn du das Auto gesehen hättest, mit dem sie abgeholt wurde, wüsstest du, dass sie etwas anderes vorhatte.«
»Was war es denn für ein Wagen?«, hakte ich nach.
»So ein aufgeputzter Schickimicki-Schlitten, die Marke kenne ich nicht.«
»Vielleicht hat ihr Freund so einen Wagen«, warf ich ein.
»Auf keinen Fall«, hielt sie dagegen. »Der hat sie einmal vorbeigebracht, der machte einen vernünftigen Eindruck.«
»Und wie sah der Mann aus, der sie abgeholt hat?«
»Keine Ahnung, ich habe nur das Auto gesehen. Zum Zahnarzt sind die bestimmt nicht gefahren!«, ließ sie sich von ihrer Meinung nicht abbringen.
Zu Hause dachte ich noch einmal über ihre Worte nach und musste ihr recht geben. Sie lebte von den Gästen und kam nicht umhin, darauf zu achten, dass ihre Bedienung dem gehobenen Anspruch ihres Hauses gerecht wurde. Trotzdem wollte ich versuchen, mehr zu erfahren. Besonders interessierte mich, wer ihr Freund und wer die Person war, die sie vom Café abgeholt hatte.
Kirsten Vollmann hatte mir eine Adresse genannt und weil ich eine begeisterte Radfahrerin bin, machte ich mich abends auf den Weg, über den Golfplatz bis zum Berliner Ring. Langsam, die Hausnummern im Blick, fuhr ich die Straße entlang. Endlich hatte ich das Haus gefunden, stellte mein Rad ab und prüfte die Namen auf den Briefkästen, wurde fündig und klingelte mehrmals.
Nach zehn Minuten gab ich auf und wollte gerade wieder auf mein Rad steigen, als ein junger Mann seinen Wagen, einen ganz normalen VW Golf, an der Straße abstellte. Eilig ging er zur Haustür und schloss sie auf.
»Kennen Sie Frau Bonder?«, erkundigte ich mich hastig.
Er drehte sich zu mir um. Ärgerlich über die Störung fragte er zurück: »Was wollen Sie von ihr?«
Deutlich ließ er seinen Unmut erkennen und wollte in den Hausflur gehen.
»Ich habe sie im Stadtcafé kennengelernt«, sagte ich schnell.
Er blieb einen Moment stehen. »Wie schön für Sie«, entgegnete er, dann knallte die Tür vor meiner Nase zu.
Etwas empört über seine Unfreundlichkeit stand ich draußen, stieg auf mein Rad und fuhr heim.
Drei Tage später fuhr ich noch einmal zu dem Haus und befragte eine ältere Dame, die gerade ihre Mülltonne leerte. Sofort stellte sie ihren Eimer beiseite, schaute sich nach allen Seiten um und flüsterte: »Die Kleine wurde umgebracht! Stellen Sie sich das vor! Der junge Mann ist gestern von der Polizei abgeholt worden, seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Die Haustür öffnete sich und ein Mann kam heraus. Die Frau schnappte sich ihren Eimer und verschwand ohne ein weiteres Wort. Nachdenklich fuhr ich davon.
Es vergingen weitere drei Tage, da erfuhr ich von Kirsten Vollmann, dass der Freund von Sonja Bonder von der Polizei vernommen und nach einem Tag wieder freigelassen worden war, weil er wohl als Täter nicht infrage kam.
Am Dienstag beim Nachhilfeunterricht trug Edvina Schneeberg den Ohrring nicht mehr und machte einen traurigen Eindruck. Ich erkundigte mich nach dem Grund.
»Haben Sie denn nicht in der Zeitung von dem Mord gelesen?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. »Sonja Bonder ist tot. Sie ist die Tochter von Muttis bester Freundin. Früher waren sie oft bei uns zu Besuch.«
»Das tut mir leid, Edvina«, sagte ich, wagte es aber nicht, ihr zu erzählen, dass ich die Tote gefunden hatte. »Habt ihr in letzter Zeit denn noch Kontakt gehabt?«, fragte ich stattdessen.


