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Die Beamtin sah Frauke prüfend an und diese übergab ihr den mysteriösen Zettel, erzählte von ihrer Begegnung mit der Fremden und berichtete, dass ihre Tante nur deshalb hergekommen war.
»Sie haben die Zwillingsschwester Ihrer Mutter noch nie zuvor gesehen?«
»Ich habe gar nicht von ihr gewusst. Larissa hat mir nur gesagt, dass ich Wilhelmshaven meiden soll.«
Bei dem Gedanken an den Tod ihrer Tante kamen Frauke erneut die Tränen.
»Sie hängen an Ihrer Tante, nicht wahr?«
Frau Wiedemann hatte ihr Haar diesmal zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie nicht ganz so unnahbar erscheinen ließ. Frauke kramte umständlich ein Taschentuch hervor.
»Sie ist meine einzige Verwandte.«
Kaum waren die Worte heraus, schluchzte sie auf.
»Kann es sein, dass die andere, -- ich meine, es ist doch auch Larissas Schwester.« Die Kommissarin schaute durch das Fenster in den blauen Himmel, wo die Möwen ihre Kreise zogen.
»Ja«, sagte sie, »so etwas kommt vor.«
Frauke schnäuzte sich heftig.
»Ich habe Briefe und Fotos, Tante Larissa hat sie mitgebracht - gestern.«
Interessiert betrachtete Frau Wiedemann die Fotos und Briefe, die Frauke nun auf den Tisch packte.
»Sie sagten, Ihre Mutter starb, als Sie zwölf waren, haben Sie auch als Kind nie deren Zwillingsschwester gesehen?«
»Gestern Morgen am Strand sah ich sie zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war völlig durcheinander und habe anschließend Tante Larissa angerufen.«
»Was hat sie gesagt?«
Frauke seufzte.
»Nicht viel, sie hat gleich aufgelegt.«
Die blauen Augen der Beamtin funkelten ungeduldig.
»Was genau? Jeder Hinweis ist wichtig.«
Frauke kamen erneut die Tränen, und sie wischte sie mit dem Handballen weg.
»Geh nicht nach Wilhelmshaven, deine Mutter wollte nicht, dass du es erfährst. Dann hat sie aufgelegt, und ich bin mit dem Fahrrad raus. Als ich zurückkam, war sie hier und brachte den Koffer mit.«
»Haben Sie die Briefe gelesen?«
»Dazu hatte ich keine Zeit.«
»Dann fangen Sie jetzt damit an.«
Die Kommissarin wandte sich zum Gehen.
»Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas Wichtiges erfahren.«
Schon an der Tür erkundigte sie sich:
»Seit wann kennen Sie Herrn Lust?«
»Seit gestern, Zufallsbekanntschaft«, antwortete Frauke.
»Einige Zufälle zu viel, wenn Sie mich fragen«, kommentierte die Kommissarin knapp und schloss die Tür hinter sich.
Frauke schaute ihr irritiert nach. Kalt lief es ihr über den Rücken, Angst kroch in ihr hoch, ein schlummerndes Tier, welches, einmal aufgewacht, sich ihrer bemächtigte und ihr fast den Atem nahm. Zitternd und schluchzend begann sie, die Briefe ihrer Mutter zu lesen.
»Ruhe in Frieden!«
Der Pfarrer segnete das Grab, drückte Frauke die Hand und entfernte sich langsam. Es waren nur wenige Freunde und Nachbarn, die an diesem regnerischen Nachmittag mit Frauke am Grab von Larissa Norton standen. Andreas war nicht dabei. Frauke hatte ihn nicht erreichen können. Drei Tage nach dem Mord war die Leiche freigegeben worden, und Frauke hatte die Überführung nach Bielefeld veranlasst. Von dem Mörder keine Spur, die Briefe ihrer Mutter gaben keinen Anhaltspunkt, sie hatte sie Kommissarin Wiedemann zur Prüfung übergeben, die Fotos in den Koffer gepackt und mit genommen. Am nächsten Tag hatte sie einen Termin beim Notar, danach wollte sie wieder zurück ins Wangerland, schließlich hatte sie noch eine Woche Urlaub gebucht. Friedrich Lust hatte sich bei ihr nicht mehr gemeldet.
Die Wohnung von Larissa Norton sah aus, als sei die Besitzerin nur für wenige Minuten abwesend, in der Dusche lag der Duft ihres Shampoos, Fernseher und Stereoanlage waren stand-by geschaltet, in der Küche stand benutztes Geschirr, neben der Spüle lag eine Zeitung aufgeschlagen auf dem Tisch, und im Wohnzimmer blinkte der Anrufbeantworter. Frauke hatte den Briefkasten geleert, legte seinen Inhalt ungelesen auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich in den gemütlichen Fernsehsessel. Larissas Gegenwart war so heftig zu spüren, dass ihr die Tränen kamen. Zum dritten Mal im Leben hatte sie einen geliebten Menschen verloren und diesmal auf eine grausame Art. Larissa war ihr Freundin und Mutter zugleich gewesen, wenn auch die spröde, manchmal herrische Art ihrer Tante so ganz anders war, als die ihrer Mutter. Frauke vermisste sie, und die Tatsache, dass sie ihr diese schöne Eigentumswohnung hinterlassen hatte und auch noch einiges an Erspartem, trug noch mehr dazu bei. Langsam begann sie, die Post durchzusehen. Ein Brief fiel auf durch seine Handschrift, etwas eckig, weil Druckbuchstaben verwendet wurden, aber gut leserlich. Es war der Brief eines Mannes, relativ förmlich erkundigte er sich nach ihrem Befinden und nach Frauke. Überrascht drehte Frauke den Brief mehrmals um, kein Absender, der Name abgekürzt, ein Stempel aus Bremen auf dem Umschlag. Wen kannte Larissa in Bremen? Nie hatte Frauke sie mit einem Mann in Verbindung gebracht. Der Text war kurz, fast geschäftsmäßig abgefasst, wenn auch mit der Hand geschrieben. Der Schreiber, ein gewisser Herr B. berichtete, dass es ihm und der Familie gut ginge. Fraukes Herz klopfte aufgeregt, denn B. konnte niemand anders sein als ihr Onkel, der Mann von Mutters Zwillingsschwester. Aus dem Brief schloss Frauke, dass er regelmäßig Kontakt zu Larissa gehalten hatte. Fast zehn Jahre hatte sie mit ihrer Tante zusammengewohnt und nichts davon mitbekommen. Seufzend erhob sich Frauke und schaute sich in der Wohnung um, in der Hoffnung, mehr zu entdecken. Stunden vergingen, sie hatte sich eine Pizza kommen lassen, bis sie endlich im Schlafzimmer der Tante in der Rückwand des Kleiderschranks eine kleine Schiebetür fand, die einen Wandtresor zum Vorschein brachte. Er war durch einen Code gesichert. Gerade in diesem Moment ging das Telefon. Mit klopfendem Herzen lief sie hin, die Nummer war ihr unbekannt. Sie nahm ab.
»Hallo, mit wem spreche ich?« erkundigte sich die Stimme am anderen Ende.
Als hätte sie sich verbrannt, fiel ihr das Telefon aus der Hand, sie keuchte. Die Stimme ihrer Mutter! Als sie sich beruhigt hatte, hob sie das schnurlose Telefon wieder auf, lauschte und setzte es in die Ladestation zurück. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen, als ihr Blick auf den großen Umschlag fiel, den der Notar ihr mitgegeben hatte.
»Alle Unterlagen komplett, auch ein persönlicher Brief Ihrer Tante ist dabei.«
Sie sprang auf und schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Das Testament ihrer Tante und ein schmaler Umschlag mit ihrem Namen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn.
Geliebte Frauke, mein Kind.
Tränen rannen Frauke über das Gesicht, die Worte verschwammen vor ihren Augen, und sie wischte sich energisch durchs Gesicht, bevor sie weiterlas.
Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Als ich dich mit nach Bielefeld nahm, war es der Wunsch deiner Mutter und meine Pflicht, aber du bist mir ans Herz gewachsen, mehr als ich je geglaubt habe, bleib‘ wie du bist und lass dich niemals irremachen in deinen Vorstellungen.
Für immer Larissa, die auch deine Mutter war. Gott schütze dich.
Am Ende des Briefes war ein Nachsatz.
‚Deine Mutter hat ihr Geheimnis nie verraten, aber ich finde, du musst die Wahrheit wissen. ‚
Darunter standen eine Zahlenkombination und der Hinweis auf den Safe.
Frauke hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Die Wohnung lag im Parterre, sie trat ans Terrassenfenster und spähte hinaus. Nichts zu sehen, nur die Silhouette der Sparrenburg hob sich über den hohen Bäumen ab, die die Wohnanlage umsäumten, trotzdem ließ sie die Rollläden hinunter. Die Unterlagen des Notars packte sie wieder in den Umschlag und verstaute sie in ihrer Handtasche, den Brief der Tante steckte sie in ihre Hosentasche.
Bevor sie die Wohnung verließ, räumte sie ordentlich auf. Der Tresor ließ sich mit dem Code leicht öffnen. Er enthielt ein Familienbuch, Fotos, mehrere ordentlich gebündelte Briefe und einen länglichen, braunen Umschlag. Frauke nahm alles an sich, verschloss den Safe sorgfältig und verließ, sich vorsichtig umschauend, die Wohnung.
Hauptkommissarin Mira Wiedemann saß an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Büro in Hooksiel, wo das Kommissariat während der Umbauarbeiten in Wilhelmshaven ein freudloses Dasein fristete. Alle Kollegen waren in Urlaub und ausgerechnet jetzt, wo sie sich auf eine ruhige Zeit bis zu ihrer Pensionierung eingerichtet hatte, musste sich eine Fremde umbringen lassen. Missmutig betrachtete sie die Fotos des Polizeifotografen vom Tatort und sog dabei heftig an ihrer Zigarette, als läge die Erkenntnis im Tabakrauch. Es klopfte. Ihr Mitstreiter, Thorben Weller, kam zur Tür herein und warf ihr einen Stapel Briefe auf den Schreibtisch, was ihre Laune nicht unbedingt hob.
»Ich habe sie alle gelesen, keine Anhaltspunkte, nur so‘n süßlicher Liebesquatsch. Außerdem sind die Briefe uralt.«
»Noch lange kein Grund sie mir auf den Schreibtisch zu werfen«, zischte Mira und drückte ihre Zigarette aus.
»Haben Sie die Kollegen in Bielefeld kontaktiert?«
Thorben nickte.
»Fehlanzeige. Ein unbeschriebenes Blatt, diese Larissa Norton. Lehrerin, ledig, keine Kinder, einzige Angehörige die Nichte Frauke Thomas. Hat übrigens die Wohnung der Alten geerbt, dahinter sollten wir uns klemmen.«
»Dummes Zeug, sie war in der Pizzeria mit diesem Friedrich Lust, das Alibi steht.«
Thorben holte tief Luft und überlegte, ob er nicht einfach am nächsten Tag blaumachen sollte. Die Zusammenarbeit mit der Wiedemann entwickelte sich zu einem echten Horrortrip, so hatte er sich die Praxisanleitung während der Ausbildung nicht vorgestellt. Sein Gedankengang war noch nicht zu Ende, als Mira Wiedemann sich erkundigte:
»Haben Sie Lust schon überprüft?«
»Ich denke, äh, Sie wollten das übernehmen.«
»Das könnte Ihnen so passen, hier den lauen Lenz zu schieben«, schnaubte Mira. »Wir haben einen Mordfall, vergessen Sie das nicht. In einer Stunde will ich das Ergebnis.«
Er war schon in der Tür, als sie ihn zurückrief:
»Recherchieren Sie gründlich, nicht so schlecht wie bei der Norton.«
»Wieso?«
Verdattert sah er sie an.
»Die Norton hat noch eine Schwester. Ist Ihnen beim Lesen der Briefe nicht aufgefallen, dass sie von zwei verschiedenen Personen geschrieben wurden?« Thorben kam zurück.
»Aber, ich dachte ...«
Mira schnitt ihm das Wort ab.
»Sie sollen nicht denken, sondern ordentlich recherchieren, verdammt.«
Thorben sah ihre blauen Augen, die ihn durchbohrten wie giftige Pfeile und verschwand wortlos. Empört blickte sie ihm nach und griff erneut zu ihrer Zigarettenschachtel. Ausgerechnet diesen Anwärter hatte man ihr aufs Auge gedrückt.
Sie dachte den Tag ihres sechzigsten Geburtstages. Der Polizeidirektor hatte ihr mit einem Blumenstrauß gratuliert und gemeint:
»In Hooksiel haben wir extra für Sie ein kleines Kommissariat eingerichtet, da werden Sie von den Bauarbeiten nicht gestört und können jeden Mittag einen schönen Strandbummel machen.«
Alle Kollegen hatten gelacht und waren kurz darauf in Urlaub gefahren. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, allein zu sein, aber mit einem Mord hatte sie nicht gerechnet, noch weniger mit einem Anwärter, der sich mehr als dumm anstellte. Gefrustet befasste sich Mira wieder mit den Tatortfotos und dem Bericht der Spurensicherung. Bisher gab es keinerlei Erkenntnisse auf den Mörder, da war nur die Aussage der Nichte, die davon sprach, ihre Tante habe Angst gehabt. Dann noch die ominöse Schwester, Zwillingsschwester der verstorbenen Mutter von Frauke Thomas, Verena Norton, die irgendwo in der Gegend wohnen sollte. Mira drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus, stand auf und verließ das Büro.
Frauke hatte eine unruhige, von Träumen gequälte Nacht verbracht, trotz mehrmaliger Versuche konnte sie Andreas in seinem Urlaubsort auf Mallorca nicht erreichen, war weiterhin allein auf sich gestellt und schwor sich, mit ihm Schluss zu machen und so bald als möglich die gemeinsame Wohnung zu verlassen, wenn auch momentan andere Dinge anstanden. Sie packte frische Sachen in ihren Koffer und suchte verzweifelt nach ihrer Wetterjacke, bis ihr einfiel, dass sie das gute Stück in Larissas Wohnung zurückgelassen hatte. Eine Nachbarin ihrer Tante empfing sie am Eingang des Hauses, drückte Frauke ihr Beileid aus und überfiel sie mit solcher Redseligkeit, dass es eine Weile dauerte, bis Frauke endlich die Tür zur Wohnung aufschloss und ein Schrei des Entsetzens über ihre Lippen kam. Diesmal war sie froh, dass die Nachbarin neugierig hinzukam und aufgeregt ausrief:
»Um Gottes Willen! Wie sieht es denn hier aus?«
Die Wohnung glich einem Trümmerhaufen. Schränke waren umgestoßen, Vasen lagen zersplittert am Boden und Frauke sank schluchzend in einen Sessel, der seitlich mit dem Messer aufgeschlitzt worden war.
Die Polizisten waren endlich wieder weg. Frauke fand nach langem Suchen ihren Friesennerz unter einem Kleiderstapel im Flur und flüchtete aus der demolierten Wohnung. Die Polizei hatte weder Fingerabdrücke noch Einbruchsspuren an den Türen oder Fenstern finden können. Stundenlang waren Beamte damit beschäftigt gewesen, alles durchzuchecken. Frauke begann, grob aufzuräumen, unterstützt von der Nachbarin, die eifrig hin und her lief, Kaffee kochte und Frauke half.
Die beiden Frauen hatten einen großen Berg im Wohnzimmer aufgeschichtet, die Sachen waren nicht mehr zu gebrauchen. Die wertvollen Gegenstände, wie der Schmuck der Tante, der auf dem Boden verstreut war, wurden sorgfältig wieder zurückgelegt. Es war Frauke ein Rätsel, warum jemand eine ganze Wohnung auf den Kopf stellte und alles Wertvolle, sogar etwa vierhundert Euro Bargeld, zurückließ. Einzig den Tresor hatten die Einbrecher nicht gefunden.
Es war später Nachmittag, als Frauke Richtung Norden aufbrach, das Geld der Tante hatte sie sicherheitshalber eingesteckt, um den Rest ihres Urlaubs in Friesland zu verbringen.
Das Fax spuckte eine Mitteilung aus, die Mira Wiedemann wieder einmal bestätigte, dass ihr Anwärter schusselig gearbeitet hatte. Die Beamten aus Bielefeld meldeten einen Einbruch in die Eigentumswohnung von Larissa Norton. Fingerabdrücke, Einbruchspuren: Fehlanzeige, und das Merkwürdigste, Geld und Schmuck waren unangetastet geblieben. Es wurde höchste Zeit, die Schwester der Norton aufzusuchen. Mira hatte im Standesamt die Geburtsurkunden überprüft und festgestellt, dass die Nortonzwillinge 1958 am dritten August geboren waren und Waltraud Norton im Jahre 1982 den Biologen Werner Thomas geheiratet hatte. Verena Norton hatte im selben Jahr den Kaufmann Karsten Thilo Bornfeld geehelicht. Nach ihren Ermittlungen wohnten die Bornfelds in einer Villa am Stadtrand von Wilhelmshaven und hatten eine Tochter. Bornfeld galt als wohlhabend, womit er sein Geld verdiente, war ihr nicht bekannt.
Zwei Stunden später stand sie mit Thorben Weller vor einem eisernen Tor und betätigte die Klingel. Aus der Gegensprechanlage ertönte eine weibliche Stimme: »Sie wünschen, bitte?«
»Kripo Wilhelmshaven, können wir Herrn Bornfeld sprechen?«
Das Tor öffnete sich fast lautlos und der Hausherr erschien, im eleganten Nadelstreifen mit passender Krawatte zum hellblauen Hemd. Mira zeigte ihren Ausweis und erklärte:
»In der letzten Woche wurde in Hooksiel eine Larissa Norton mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Kennen Sie die Frau, Herr Bornfeld?«
Bornfeld, schlank, fast hager, mit für sein Alter dichtem, mittelblondem Haar, welches von einigen Silberfäden durchzogen war, wurde bleich:
»Larissa? Tot? Wie entsetzlich!«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« Mira lugte durch den Türspalt und fuhr fort: »Können wir hereinkommen?«
Bornfeld zögerte einen kurzen Moment, bevor er antwortete:
»Natürlich, kommen Sie.«
Die Beamten traten in eine Halle mit stuckverzierter Decke und dem Charme einer vergangenen Epoche. ‚Die Restaurierung dieser Halle muss ein Vermögen gekostet haben‘, dachte Mira und nahm in einem Sessel Platz, der in der Ecke unterhalb einer geschwungenen Treppe stand.
»Rita«, rief der Hausherr. Wie von Geisterhand schwang eine Tür auf. Eine junge Frau in einem adretten Westenkostüm mit weißer Bluse erschien knicksend:
»Haben Sie einen Wunsch, Herr Bornfeld?«
»Bringen Sie bitte etwas zu trinken. Wasser?«
Ein fragender Blick, Mira nickte zustimmend.
»Also Wasser für die Herrschaften, mir bringen Sie bitte einen Bourbon.«
Sie hatten sich nur kurz aufgehalten. Bornfeld berichtete von einem Zerwürfnis der Schwestern, konnte allerdings den Grund nicht angeben. Seine Frau befand sich außer Haus und so blieb den Polizeibeamten nichts anderes übrig, als sich für einen späteren Zeitpunkt anzumelden.
»Irgendwo habe ich den Mann schon gesehen«, erklärte Mira, als sie wieder im Wagen saßen. Thorben Weller zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Wie ein Mörder sah er jedenfalls nicht aus.«
Mira warf ihm einen verständnislosen Blick zu und bog in die nächste Seitenstraße ein.
Die Wirtin hatte das Zimmer für sie frei gehalten, und Frauke packte schnell ihren Koffer aus, lieh sich ein Rad, fuhr an den Strand und mietete sich einen Strandkorb. Sie hatte den Umschlag mitgenommen, den sie im Safe der Tante gefunden hatte. Das Familienbuch hatte sie zurückgelassen. Es enthielt die Heiratsurkunde der Eltern ihrer Mutter und die Geburtsurkunden der Zwillingsschwestern und von Larissa. In dem Umschlag befanden sich Zeitungsausschnitte, das Foto ihrer Mutter und einige Unterlagen, alte Rechnungen, handgeschriebene Notizen, die zu sichten längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Zeitung war gut dreizehn Jahre alt und zeigte das verbeulte Auto, mit dem ihr Vater tödlich verunglückt war. In dem Artikel wurde die Unfallursache mit Bremsversagen angegeben. Da es sich um einen fabrikneuen Wagen handelte, war laut Polizeibericht von einer Manipulation am Fahrzeug ausgegangen worden, diese Vermutung konnte aber trotz gründlicher Untersuchung nicht belegt werden. Frauke las den Artikel zweimal. Niemals hatte ihre Tante davon gesprochen, dass ihr Vater einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Und wenn es so war? Wer steckte dahinter? Und warum? Hatte der Einbrecher in Larissas Wohnung diese Unterlagen gesucht?
Kalt lief es Frauke über den Rücken, und sie spürte die Gefahr fast körperlich. Vorsichtig lugte sie aus dem Strandkorb hervor, nur wenige Menschen, hauptsächlich Familien mit Kleinkindern waren am Strand, die Ferien hatten noch nicht begonnen, und nur vereinzelt waren die Strandkörbe besetzt. Kinder liefen zum Wasser, die Flut hatte eingesetzt, besorgte Eltern liefen ihren Sprösslingen nach, Lachen und Schreien gingen unter im stetigen Auf und Ab der Wellen. Frauke wäre so gern hinausgelaufen mit dem Wind um die Wette, aber die Unterlagen brannten in ihrer Hand und verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihre Angst war schnell wieder verschwunden, eingekuschelt in die windgeschützte Wärme des Strandkorbs fühlte sie sich vollkommen sicher. Ihre schwarzen, sorgfältig gezupften Brauen zusammengezogen, saß sie da mit angewinkelten Knien und vertiefte sich immer mehr in die Geschichte ihrer Familie.
Eine sanfte Brise wehte ins Kommissariat, Mira Wiedemann holte tief Luft und trat ans Fenster, just in dem Moment stürmte Thorben Weller herein, und der Fensterflügel donnerte gegen ihren Kopf.
»Autsch, verdammt!«
Stöhnend rieb sie sich die schmerzende Stelle und fauchte:
»Können Sie nicht vorsichtiger hereinkommen?«
Weller grinste frech, schloss die Tür und hielt ihr ein Schriftstück unter die Nase.
»Sie wollten umgehend informiert werden, Frau Wiedemann. Ein aktuelles Fax der Kollegen aus Bielefeld.«
Seufzend nahm Mira das Schriftstück entgegen. Ein Einbruch in die Wohnung von Larissa Norton, keinerlei Hinweise auf den Täter, und nach Aussage der Nichte war nichts entwendet worden, Schmuck und Bargeld blieben unangetastet.
»Interessant! Aber das gleiche Fax habe ich schon vorher bekommen. Nur nicht so ausführlich.«
Mira rieb nachdenklich an ihrer Beule.
»Es muss in dieser Familie etwas geben, was einen Mord rechtfertigt«, sinnierte Weller und Mira pflichtete ihm bei.
»Nur, was?«
Weller hatte sich in den Sessel gegenüber von Miras Schreibtisch geworfen und kritzelte auf seinem Stenoblock herum.
»Wir müssen diese Frauke Thomas noch einmal vernehmen.«
»Ist sie nicht in Bielefeld, ihre Tante beerdigen?«
Weller schüttelte den Kopf.
»Die Kollegen in Bielefeld haben mitgeteilt, dass sie gestern Nachmittag wieder an die Nordsee gefahren ist.«
Mira blickte ihn anerkennend an.
»Wie haben Sie denn das so schnell herausgefunden?«
»Gut recherchiert.«
Er grinste.
»Sie wohnt in Hooksiel, in derselben Pension wie vorher.«
Mira überlegte nur kurz.
»Diesmal fahren Sie.«
Weller grinste.
»Meinen Sie, das ist eine gute Idee?«
Mira funkelte ihn böse an.
»Ein wenig Übung im Aushorchen tut Ihnen ganz gut.«
»So schlecht bin ich auch nicht«, maulte Weller beleidigt und fuhr fort, »Ich habe mir die Briefe noch einmal angesehen. Hat die Thomas Ihnen gesagt, woher sie stammen?«
Mira runzelte unwillig die Stirn.
»Sagte ich das nicht bereits? Die Tante hat sie ihr mitgebracht.«
»Woher hat die Tante sie?«
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
Weller setzte sich aufrecht, und Mira hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er sich einer Sache wirklich widmen konnte.
»Die Briefe sind an einen Mann gerichtet, warum hat er seine Briefe nicht einfach vernichtet, warum übergab er sie Larissa Norton?«
»Von der Seite habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet, aber Sie haben recht.«
Mira sah ihn anerkennend an und Thorben schloss weiter:
»Vielleicht hat die Norton diese Briefe entwendet, um die Schwestern gegeneinander auszuspielen.«
Mira verfolgte die Idee weiter.
»Weil beide denselben Mann liebten, gerieten sie in Streit, der bis heute anhält.«
Nach kurzem Nachdenken schüttelte Mira den Kopf.
»Unmöglich, da muss es etwas anderes geben. Beide Schwestern haben geheiratet und ein Kind vom ihrem Mann, da bringt man sich doch nicht gegenseitig um.«
»Und wenn doch?«
»Fahren Sie raus und vernehmen Sie die Thomas noch einmal. Ich werde versuchen diese Frau Bornfeld zu erreichen.«
Ein Schatten fiel über den Eingang des Strandkorbs, ein blanker Gegenstand blinkte in der Sonne, und Frauke schrak auf.
»He, Sie da! Was machen Sie da?«
Eine herrische Stimme erscholl, jemand lief davon, und ein bärtiges Gesicht über einer blaugelben Wetterjacke lugte in ihren Strandkorb. »Ist Ihnen nicht kalt, Frollein?«
Die gutmütige Stimme des Strandwächters verscheuchte die Angst aus ihrem Gesicht, und sie lächelte.
»Ich packe schon zusammen.«
»Was wollte denn der junge Mann von Ihnen?«, erkundigte sich ihr Retter.
»Ich weiß nicht, Sie haben ihn verscheucht.«
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass jemand sich unbemerkt ihrem Strandkorb genähert hatte.
»Is och man gut so, Frollein.«
Ohne ein weiteres Wort packte Frauke ihre Sachen und radelte davon. An ihrer Pension wurde sie von einem Beamten der Kripo erwartet, der sie noch einmal zu dem Tod ihrer Tante vernahm. Um den neugierigen Augen der Wirtin zu entgehen, bat sie ihn auf ihr Zimmer.
»Hier sind wir ungestört. Gibt es neue Erkenntnisse?«
Sie sah Thorben Weller fragend an. Weller wurde rot, er hatte sich die junge Frau ganz anders vorgestellt, nicht so attraktiv, und diese dunklen Haare mit den großen, grauen Augen machten ihn nervös.
»Wir sind noch in den Ermittlungen«, erklärte er und erkundigte sich: »Hatte Ihre Tante Feinde?«
Unwillig riss Frauke die Augen auf.
»Das hat Ihre Kollegin mich schon gefragt, nein.«
»Sie haben uns Briefe überlassen. Wie kam Ihre Tante in deren Besitz?«
»Es waren Briefe meiner Mutter. Fotos waren auch dabei, die habe ich mitgenommen. Sie sind noch im Auto.«


