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Der März brachte würzige Luft. Niccolò liebte diese Frische. Nach seinen Übungsstunden spazierte er über den stillen Marktplatz und begrüßte die Vögel vom letzten Jahr.
Der Monat brachte auch die Franzosen nach Italien. Antonio saß am offenen Fenster der Wohnung in Parma, schnupfte Tabak und genoss die grelle Sonne. Indessen der Sohn in einem geschützten Winkel seine täglichen Übungen absolvierte, dachte Antonio über den Einmarsch der Franzosen nach, wobei er hin und wieder laut vor sich hinschimpfte:
„Du, Giorgio, und deine Bande um Buonarotti, ihr werdet nun jubeln. Aber freut euch nicht zu früh! Die Franzosen haben mit ihrem Eroberungszug nichts anderes im Sinne, als ihre Taschen zu füllen. Ein waschechter Genueser riecht so was. An Italiens Einigung liegt ihnen nichts, solange sie von seiner Zerstrittenheit profitieren. Und einem Volk samt dessen Regierungen, die in Zeiten, als Frankreich Descartes, Diderot und Voltaire ausbrütete, in mittelalterlichen Strukturen festklebten, abergläubisch waren und politisch völlig bedeutungslos, traut doch Frankreich keine reifen Schritte zu. Ha, dass ich nicht lache!“, entfuhr es Signor Paganini laut. Niccolò erstarrte in seiner Bewegung und sah verwirrt den Vater an.
„Du hast nichts falsch gemacht, verdammt! Nach allem, was deine schlauen Lehrer behaupten, machst du doch nichts mehr falsch, figlio mio! Ich rede nur so vor mich hin. Spiel und kümmere dich nicht um meine lauten Gedanken!“
Niccolò ließ den Kopf sinken und seufzte. Vaters Worte zu ignorieren, wurde bislang mit Essensentzug oder Backpfeifen bestraft. Erleichtert über die plötzliche Veränderung legte Niccolò die Geige auf den Tisch, schüttelte kräftig seine Arme, spreizte seine Finger und streckte alle seine Glieder, als wolle er mit den Fußspitzen den Boden durchdrücken und andererseits die Zimmerdecke berühren. Sein Vater runzelte die Stirn.
„Lass das sein! Deine Glieder sind schon lang genug. Spiel, habe ich angeordnet!“
Behutsam griff Niccolò wieder zu seinem Instrument. Er nahm es so zärtlich in die Hand wie ein junges Kätzchen. Diesmal tauchte er vollständig in seine Arbeit, sah und hörte vom Vater nichts mehr.
„Freut euch nicht zu früh“, brummte dieser von neuem. „Die Franzosen scheren sich einen Dreck um unsere patriotische Entwicklung. Aber, was zum Teufel, geht mich das alles an?“
Gemütlich streckte er die Beine aus und gab sich den wohltuenden Sonnenstrahlen hin. Die Hintergrundmusik wiegte ihn. Niccolòs Klänge füllten sich mit Wärme und Herz, sein Bogenstrich griff energischer und ließ keinen Widerspruch mehr zu. Ja, brummelte Antonio tief befriedigt, was geht mich das alles an. Und allmählich döste er ein.
Und es ging ihn doch etwas an. Die politische Situation durchkreuzte Antonios Pläne. Napoleons Feldzug oder Geldzug hatte recht Aufsehen erregend begonnen. Das Königreich Sardinien legte widerstandslos die Waffen nieder, Mailand ließ sich mühelos erobern, nur in Lodi musste der Sieg erkämpft werden. Parma empfing ihn sogar freundlich. Manche jubelten ihm zu, blähten sich stolz auf, wenn der Blick des sagenumwitterten Generals zufällig auf ihnen ruhte, andere wiederum spähten keifend hinter vorgezogenen Vorhängen auf den Einmarsch und wünschten ihm den Tod. Machtgierig, geldgierig, vom Ruhm besessen, zischte es im Verborgenen. Er will die Welt, hieß es, er will Gott vom Thron stürzen, er ist vom Teufel, schaut ihn nur an.
Antonio beschloss, wie so manches Mal in seinem Leben, sein Fähnchen nach dem günstigen Wind zu richten. Und der kam von Napoleon. Diese Brise konnte eventuell auch seinem Söhnchen zum Vorteil gereichen. Während Napoleon Modena einnahm, schließlich Mantua bedrohte, das den Handelsweg nach Österreich sichern und das Piemont sowie das Kaiserreich Österreich auseinandertreiben sollte, spielte Niccolò vor den Landesherren in Colorno und Sala. Voller Mitleid erwarteten die blaublütigen Herrschaften in Sala die ersten Töne des schmalen Knaben, der nur zögernd vortrat, an dessen Arm die Geige schwer wie die Glocke der Chiese Santa Maria Maddalena zu hängen schien und dessen langes, durchsichtiges Gesicht von der Glut zweier nachtschwarzer Augen beinahe verzehrt wurde. Er führte seine Variationen zu „La Carmagnola“ vor. Die Zuhörer saßen reglos da und starrten gnädig auf den blassen Dreizehnjährigen, dessen Leben und Kraft mit unvorstellbarer Zielsicherheit in die Geige floss. Dabei fühlte Niccolò in Sala eine große Schwäche, die er in Colorno nicht bekannt hatte. Die Herbstluft draußen war nasskalt, der Saal überheizt. Er hatte schon geschwitzt, als er ankam, doch nun rann der Schweiß in Strömen an ihm herab. Sein Haar klebte, seine Kleidung klebte, seine Beine zitterten vor Mattigkeit, aber in seinen Fingern pochte wild das Leben, in seinem Kopf leuchtete sternenhell die Partitur, in seinem Herzen machte die Musik Freudensprünge. Kaum verwehte der letzte Ton im Saal, schnellte das Publikum von seinen Sitzen hoch, applaudierte, jubelte, stieß Bravorufe aus. Niccolò vernahm die Geräusche, so wie er das Rauschen des Meeres vernahm, wenn er auf den Anhöhen der Bucht von Genua spazieren ging. Er verbeugte sich mehrmals, schwankte und spürte dann ein paar Arme, die ihn stützen.
Er war erkrankt. Der Herbst in Parma bekam seiner schwachen Lunge nicht. Er hustete, atmete röchelnd, hatte blutigen Auswurf. Vater Antonio machte ein sehr besorgtes Gesicht, denn Niccolò sah wirklich elend aus. Was tun? Der Junge sehnte sich nach Genua zurück, eine Reise jedoch würde er in diesem Zustand nicht überstehen. „Trotz der verhassten Franzosen hat sich bis jetzt alles vielversprechend entwickelt“, grummelte Antonio in sich hinein. „Innerhalb eines Jahres hat der Junge gelernt, wofür andere ein achtjähriges Studium benötigen. Seine Konzerte sprechen sich herum, er wird als junges Talent bejubelt, die Kassel klingelt, ein Haus im Polcevera-Tal rückt in unmittelbare Nähe und nun das …!“ Antonio raufte sich nicht lange des Geldes wegen das Haar, sondern zitierte den besten Arzt der Region herbei. Als der Mediziner jedoch auch ein besorgtes Gesicht machte, wurde Antonio wirklich bekümmert.
„Lungenentzündung ist nicht harmlos, Signore, und der Kleine ist ja so zart gebaut wie eine Amsel. Sein Brustkorb misst kaum mehr als der Durchmesser meiner gespreizten Finger!“, konstatierte der Doktor, nachdem er Niccolò sorgfältig untersucht hatte. Unwillkürlich betrachtete Antonio die Hände des Dottore. Sie waren unverhältnismäßig groß.
„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ich zahle alles. Er muss wieder auf die Beine kommen.“
„Sollte er auf die Beine kommen, müssen Sie ihm unwiderruflich einen Monat Ruhe gönnen, sonst könnten Sie die Geige bald für horrende Panache verkaufen.“
„Ich bitte Sie um etwas mehr Pietät, Dottore! Sie sind doch Katholik. Mein Sohn ist nicht nur ein Genie, er ist auch ein Stehaufmännchen. Schon zweimal hat er dem Tod die Tür gewiesen.“
„Sehr schön! Das zeugt von starkem Lebenswillen. Hier schreibe ich Ihnen auf, was der Pharmazeut mischen soll.“ Er kritzelte ein paar unleserliche Worte auf seinen Notizblock und reichte Antonio den Zettel. „Fiebersenkende und schleimlösende Mittel und einen hustenstillenden Sirup. Sie, Signore, sorgen dafür, dass er im Bett bleibt, die Geige nicht anrührt und sehr, sehr viel trinkt. Natürlich, bei Santa Maria, kein Brunnenwasser. Übersteht er die nächsten vier Tage und ist am fünften wohlauf, darf er zurück nach Genua. Und …“,
er hob drohend den wurstigen Zeigefinger seiner riesigen Hand, „drei bis vier Wochen Ruhe, gutes Essen, Spaziergänge in der Bucht von Genua, falls es Buonaparte erlaubt.“

Buonaparte, klein geratener Sohn verarmter Adeliger, geboren in bescheidenen Verhältnissen eines rückständigen Korsikas, das unter der Rivalität und endlosen Vendetta der Clans verfaulte, sprach den korsischen Dialekt und strebte nach Höherem. Als Zehnjähriger trat er in die Militärschule ein, verließ sie mit fünfzehn als Leutnant, avancierte zum Oberfeldwebel und erhielt den Auftrag, Toulon aus englischer Hand zu reißen. Die Stadt fiel und Buonaparte, inzwischen vierundzwanzig, wurde zum General ernannt. Anschließend trieb er sich wie alle Generäle in Paris herum, entkam der Säuberungsaktion des Terrorregimes und warf den Royalistenaufstand gegen das Direktorium nieder. Zur Belohnung unterstellte man ihm die italienische Armee. Gleich anfangs ließ er sich die standhaftesten Verfechter der italienischen Befreiungsidee vorführen, unter anderen einen gewissen Buonarotti, den er aus dem Gefängnis holte und zum Chef der italienischen Patrioten auserkor. Noch im selben Jahr änderte Oberbefehlshaber Buonaparte seinen Namen in Bonaparte und heiratete Josephine de Beauharnais.
Vor dieser Josephine, die nun Bonaparte hieß, spielte Niccolò am 27. November 1797. Er fühlte sich besser, wenn auch wohl nicht ganz gesund, denn seine Beine zitterten immer noch ein wenig und der Husten quälte ihn nur dann und wann. Die Genueser Luft jedoch vollbrachte Wunder. Und vor allem Mama. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass er sich nicht verausgabte, viele Kräutertees trank, seine Medikamente einnahm, solange sie nötig waren, und nur bei Sonnenschein spazieren ging. Ja, sie sorgte sogar für saubere Bettwäsche, was Niccolò sehr schätzte. Bis jetzt hatte die saubere Wäsche nie sauber gerochen, da sie Teresa im öffentlichen Waschbecken, vielleicht auch in irgendeinem Fluss oder Rinnsal schrubbte und am Fenster des Hauses der stinkenden Passo di Gatta trocknete. Bald jedoch, ja bald würde sie köstlich riechen, denn der Vater beabsichtigte, ein Haus im Polcevera-Tal zu kaufen.
10
Üblicherweise wurde der Herbstbeginn von den Genuesern gefeiert. Die Läden schlossen auch unter der Woche, die Kirche und manche Häuser erstrahlten im Lichterglanz aufgestellter oder in die Mauern eingelassener Fackeln. In diesem Jahr waren die Gemüter durch die französische Besatzung verwirrt und die politische Situation erschüttert. Jene, die in Napoleon den Tyrannen witterten, rotteten sich zu einem Aufstand zusammen, die anderen stellten Wachskerzen an die Fenster, weil sie noch immer an den Befreier glaubten. Giancarlo Di Negro lud an einem klaren Novembertag zur festlichen Begrüßung und Ehrung Josephine Bonapartes in seine Residenz in der Via Lomellini ein. Der Palast lag inmitten einer bewohnten Straße, hatte aber einen traumhaften Garten im Innenhof. Schmale, von Orangen- und Zitronenbäumen begrenzte Pfade wanden sich hindurch und im Sommer verströmten die Kamelienhaine einen Duft, der jetzt im November noch zu erahnen war. In den hohen, stuckverzierten Räumen hingen wertvolle Gemälde, über den Türen prangten Allegorien als Goldintarsien und die marmornen Säulen leuchteten cremefarben. Am schönsten war der Blick aus den hohen Fenstern im oberen Stockwerk. Ein Teil Genuas, der Hafen und das Meer lagen ruhig und wie gemalt dem Betrachter zu Füßen.
Eigentlich stand den Di Negros der Sinn nicht nach Feiern. Vor nicht ganz zwei Wochen war die Villa von Emilia Di Negros Schwester bis auf die Grundmauern niedergebrannt und hatte unter ihrer Asche das Ehepaar, den Liebhaber der Schwester und eine Köchin begraben. Zufälligerweise führte das Kindermädchen trotz kühlen Wetters die dreijährige Margherita auf der Strandpromenade spazieren, wodurch ein einziges Familienmitglied überlebte. Giancarlo hätte ohne mit der Wimper zu zucken die berüchtigten Carbonari verdächtigt, wären er und sein Schwager nicht selbst Novatori, Adelige, die den Ideen der Carbonari nahestanden. Einen gewissen Giorgio Servetta hatte Giancarlo bei einer Versammlung in Oneglia mit „buon cugino“ angesprochen und ihn nach Buonarotti gefragt. Eine zufriedenstellende Antwort hatte er damals nicht erhalten, aber zumindest hatte er in Giorgio einen, wenn auch zögernden, Carbonaro erkannt.
Das Testament der im Liebesrausch Verbrannten ermächtigte Margherita zur Universalerbin eines enormen Vermögens und erteilte der Familie Di Negro die Vormundschaft. Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr sollte Giancarlo ihr Erbe verwalten. Niemand überraschte es, das Ehepaar und den Liebhaber gemeinsam vereint auch im Tode vorzufinden. Emilias Schwester war für ihr ausschweifendes Liebesleben bekannt, dessen Quintessenz es war, zwei Männer zur selben Zeit ins selbe Bett einzuladen.
Anlässlich des Herbstfestes spielte der berühmte Rudolph Kreutzer. Di Negro freilich fieberte danach, Josephine Bonaparte seine große Entdeckung vorzustellen. Und tatsächlich riss Josephine die Augen auf. Zunächst vor Schreck. Niccolò war von der Krankheit gezeichnet. Er wirkte abgezehrt, hatte Ringe unter den Augen und eingefallene Wangen. In seinem Blick jedoch funkelte ein geheimnisvolles Feuer, von dem sich Josephine bezaubern ließ.

Weihnachten feierte Niccolò im Kreis seiner Familie. Paola war innerhalb eines Jahres sehr gewachsen. Sie hatte ein rosiges Gesicht, volle Wangen und die gleichen dunklen Haare wie Niccolò. Der vier Jahre ältere Bruder Carlo überragte den jüngeren um einen Kopf. Auch Carlos Brust konnte sich sehen lassen, seine Schultern waren breit, sein Gesicht rund wie das der Mutter. Er war nicht neidisch auf den Bruder, obwohl auch er gerne Geige spielte. Er neidete ihm weder seine rasche Auffassungsgabe noch sein feines Ohr. Er neidet ihm nichts weiter als den zärtlichen Blick der Mutter. Teresas Gesicht leuchtete vor Stolz und Freudentränen glänzten in ihren Augen, sobald sie Niccolò in die Arme schloss.
Indessen rebellierte im Hinterland eine Allianz aus Adel, Kirche und Bauern gegen die Besetzer, während die Novatori für Napoleon mobilmachten. Auf den Wegen zur Stadt oder unter den Brücken verbluteten Franzosen, Novatori und Bauern. Hin und wieder lag ein Mönch dazwischen, von einer Hacke erschlagen oder einer Gabel durchbohrt.
Was die Mönche betraf, hatte Antonio kein Mitleid. Sie waren ihm oft in den Straßen von Genua begegnet und entsetzten ihn durch ihr abstoßendes Äußeres. Manchmal blieb er wie vom Donner gerührt stehen und grübelte darüber nach, warum gerade Gottesdiener so niederträchtig aussahen. „Heißt es nicht, Gesichter und Augen spiegeln Seele und Charakter wider? Wenn es so ist, müssen Leute dieses Standes zwangsläufig verschlagen, stumpfsinnig und träge sein“, resümierte Antonio.
Die Unruhe im Land hinderte ihn nicht daran, seinen Sohn in die feinsten Salons zu schicken. Und so gab Niccolò das gesamte Frühjahr über Privatkonzerte, die Marchese Di Negro organisierte. Er lernte sämtliche Palazzi Genuas kennen, unter anderem den Palazzo Spinola, wo er an kunstvoll geschnitzten Edelholztischen saß, von hübsch verzierten Tellern aß, aus funkelnden Kristallgläsern trank und eine beeindruckende Portraitsammlung des Malers Van Dyck bewundern durfte. Niccolò verspürte großen Respekt beim Anblick der Werke bedeutender Künstler, lieber jedoch schweifte sein Auge in die Ferne oder versank in sich selbst. Darum bevorzugte er von allen Palästen den Palazzo des Marchese. Bevor er spielte oder manchmal auch später, wenn er sich ungesehen davonschleichen konnte, verweilte er im großen Salon des oberen Stockes, öffnete eines der hohen Fenster und blickte in die Weite hinaus. Vor ihm ausgebreitet lag die Stadt, in der er den ersten Atemzug getan hatte. Ein Wirrwarr von Kirchen, Klöstern, mächtigen oder bescheidenen Häusern, geduckten und schiefen Gebäuden. Dort ein einsamer Klostervorbau, von dessen Dach ein eisernes Kreuz in den hellen Himmel ragte, links der Monte Faccio, bei sonnigem Wetter ein glitzernder Diamant, an rauen, stürmischen Tagen ein drohendes Ungeheuer. Waren seine Augen dann vom Anblick gesättigt, nahm er einen tiefen Atemzug und ging zu den Gästen zurück. Niemand wusste, wo er gewesen war, und niemand erfuhr je, was er dachte, wenn sein Blick in eine Landschaft oder ein Gemälde tauchte. Niemand außer einer Person. Sie ließ ihn nie aus den Augen.
11
Wenn es noch hell ist, sehe ich, wie das unendliche Meer, die Küstenlinie, die am Leuchtturm beginnt, allmählich dünner wird, bald wie ein Faden ist, dann meinen Augen entgleitet. Es ist die schöne Straße nach Nizza. Später, in der Dunkelheit, die plötzlich hereinbricht, ohne den sanften Übergang der Dämmerung, flammen in dieser schönen Straße einzelne Lichter auf und die hohe, sich drehende Lanterna draußen am Meer wirft ihr Licht in unsere Richtung, bestrahlt jäh Di Negros Palast, als dränge der Mond kurz durch eine düstere Wolkenschicht, um gleich wieder zu verschwinden und uns in der Finsternis zurückzulassen. Es ist erschreckend. Es ist seltsam. Ich liebe diesen Anblick, im Gegensatz zu vielen Genuesern, die das Licht von La Lanterna bei Nacht meiden. Sie fürchten, von ihm angestrahlt zu werden, bedeute, verhext zu werden.
Der Urturm von La Lanterna ist fast sechshundert Jahre alt. Da ihn aber der französische König Louis XII. bei seinem Eroberungszug bis zur Hälfte zerstört hatte, musste er neu errichtet werden. Das war vor dreihundert Jahren. Seitdem hat La Laterna ihr Aussehen nicht mehr geändert.
Nizza zieht mich magisch an. Mein Vater hat mir eine Schiffsfahrt nach Nizza versprochen, aber das Chaos in Genua wird uns vermutlich abhalten.
Ich spiele das Frühjahr über vor Genueser Adel. Frauen in weißen Schleiern und Galakleidern, Männer in feinen Anzügen und glänzenden Hüten wenden mir ihre erregten Gesichter zu. Atemlose Aufmerksamkeit, verträumte Augen, dröhnendes Klatschen, ungläubige Fratzen, offene Münder, nasse Küsse auf die Wangen. Sie wollen mich erdrücken. Ich habe ihre Herzen aufgewühlt, ihre Sinne entfesselt. Sie wollen mich auffressen. Und ich flüchte, in den Garten, dort wo die Kamelien blühen, und tauche hinein, starre nur noch auf ein Galakleid. Jenes am Himmel, das prächtigste, gewebt aus goldenem, rotem und gelbem Licht. Das Kleid der untergehenden Sonne.
Ein Aufstand im Mai fesselt mich ans Haus. Es heißt, alle Sträflinge wären befreit worden und Napoleon errichte die Ligurische Republik, damit endlich Ruhe einkehre. Ich komponiere und kümmere mich wenig um Napoleon. Befreier oder Unterdrücker? Es fehlt mir die Zeit, darüber nachzudenken. Seine Frau ist mir in jedem Fall lieber. Auch in ihr stecken Besessenheit und Ehrgeiz, aber sie geht nicht über Leichen. Josephine ist mir ähnlich.
Während die Armee des kleinen, ehrgeizigen Korsen Lucca besetzt, stirbt mein Großvater Giovanni. Ich hatte ihn in letzter Zeit so wenig gesehen, dass ich ihn fast vergessen habe. Nun werde ich ihn nie mehr sehen, doch vergessen werde ich nicht.
Wir hören von Rudolph Kreutzers Auftritt in Livorno und bereiten meine nächste Konzertreise vor. Mama hat mich gut aufgepäppelt, ich wiege etwas mehr, mein Gesicht ist runder. Nicht so rund wie das von Paola, aber das würde mir auch nicht gefallen. Bevor es losgeht, ziehen wir nach San Biagio im Polcevera-Tal. Unser neues Haus ist weit vom Zentrum und vom nächsten Dorf entfernt und hat bei klarem Wetter eine wunderschöne Aussicht auf die Umgebung. Vater und ich sehen davon nicht viel, weil der Herbst Nebel und Regen bringt und weil ihm nicht der Sinn danach steht, durch die großen Fenster die Landschaft zu betrachten. Vor allem Vater ist schlecht gelaunt. Schuld daran sind wieder die Franzosen. Vater sagt, wir müssen sie ernähren wie kleine Kinder, dabei werden sie immer frecher, ebenso wie Kinder, die man nicht züchtigen darf. Sie wollen von Gott nichts wissen, aber interessieren sich brennend für die Gemälde, die goldenen Leuchter, Becher, Vasen und Altäre unserer Kirchen. Selbst Giorgio und seine Genossen hätten erkannt, mit welch gespaltener Zunge der französische General vorgehe. Einst waren sie Anhänger des radikalen Filippo Buonarotti, der in Mailand noch für Napoleon auf die Straße ging, dann aber gegen ihn operierte, da der französische General durch den Friedensvertrag mit Österreich die italienischen Patrioten verraten hatte. Mittlerweile stellte sich heraus, dass uns Napoleon nicht nur besetzt, weil er Ländereien, Herzog- und Fürstentümer für seine Brüder und Schwestern braucht – wie Vater sagt –, sondern weil er gegen die Österreicher Krieg führen muss, denen halb Norditalien gehört, wie Giorgio sagt. Eigentlich ist mir das völlig egal und letzten Endes interessieren mich Eroberungszüge nicht, da sie Elend und Angst verbreiten. Nichts von all dem klingt nach Musik und weder das eine noch das andere bewegt mein Gemüt. Es sei denn, es wird übertrieben, wie dies kurz vor Weihnachten geschah. Da nämlich machten die Franzosen wegen der Engländer kurzerhand den Hafen dicht und zerstörten Lagerhallen und Speicher. Viele Packer sind nun arbeitslos und Vater sorgt sich um seine früheren Kollegen. Vielleicht fürchtet er auch, sie könnten zu ihm kommen und ihn anpumpen. Allen ist bekannt, dass meine Konzerte schon ganz schön Geld einspielen.
12
Livorno 1799–1800
… Stille umgibt mich, doch die Ruhe lässt auf sich warten. Vielleicht ist es mein Fluch, nicht zur Ruhe zu kommen …
Bevor das neue Jahr anbricht, nehmen wir die Konzertreisen wieder auf. Außerhalb Genuas soll es ruhiger sein, wird gemunkelt, und tatsächlich treibt sich in Livorno kein einziger Franzose herum. Vater ist bester Laune. Er mäkelt nicht, reißt auch nicht meinen Ellbogen hoch, den ich beim Spielen viel zu dicht an meinem Körper halte, und nimmt mich mit in gute Wirtshäuser. Und er spricht wieder von einer neuen Geige. Das wirkt sich sehr positiv auf meine Gemütsverfassung aus und natürlich spiele ich dann viel besser. Meine Geige und ich sind ein Herz und eine Seele, und wenn es Letzteren prima geht, leisten meine Violine und ich Großes.
So unterläuft Vater in Livorno ein Fehler, der mir zugute kommt, aber nur, weil ich übermütig bin und mir eigentlich immer etwas einfällt. Vater hatte nicht daran gedacht, die Società Degli Esercizi Musicali kniefällig darum zu bitten, mir die Gunst zu erweisen, vor ihrer erlauchten Privatgesellschaft mein erstes Konzert in Livorno zu geben. Da uns der britische Konsul schon einen Saal verschafft hatte und ich dank Mundpropaganda und einigen Zeitungsartikeln bekannt bin, möchte ich zuerst vor dem Volk spielen. Aber das passte diesen Schurken von der Privatgesellschaft Degli nicht – Vater nennt sie Schurken – und sie verwehrten den Musikern den Zugang zum Theater. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, abgesehen von ein paar verängstigten Gestalten, das ganze Orchester von mir fernzuhalten, jedenfalls sieht es so aus, als stehe mir ein einsamer Auftritt vor einem vollen Saal bevor. Durch den Schlitz im Vorhang erkenne ich ein heiteres schwatzhaftes Volk, das nur darauf wartet, sich über den gefoppten Genueser Violinisten halbtot zu lachen. Denen werde ich es zeigen. Ich bin ja so froh, dass ich nicht auf meinen großen Kopf gefallen bin, sonst würde ich solche Situationen nicht überstehen. In Windeseile stelle ich mit der Flöte, der Klarinette und der Gitarre, die sich durchgeschlichen hatten, eine Begleitung zusammen und ändere natürlich ebenso schnell mein Programm. Ich bin achtzehn und ein Zauberer. Schon nach zehn Minuten Musizieren schwatzt kein Zuschauer mehr und nach dem zweistündigen Konzert springen die Leute von ihren Stühlen und verlangen da capo. Ich muss mir noch einiges aus dem Ärmel schütteln. Eine weitere Stunde lang spielen wir Stücke von Kreutzer, Rode, Viotti und einige meiner Kompositionen, unter anderem mein jüngstes Werk für Gitarre solo. Die Lodoiska-Symphonie entzückt das Publikum, es ist ja ganz und gar nicht auf meine Gitarrenkünste gefasst. Die Melodie habe ich der Kreutzerschen Oper entnommen und das Ganze für französische Gitarre arrangiert. Ich weiß, es ist eine schwierige Komposition, aber davon merken diese Menschen nichts. Es sind einfache Leute, die nicht viel von Musik verstehen. Dennoch sind sie wunderbar, sie sind hemmungslos vor Freude. Mein Erfolg sprengt die Blockade. Er sprengt den Widerstand der Società. Am folgenden Tag entschuldigt sich die blasierte Privatgesellschaft und kündigt ein zweites Konzert für den Abend an. Diesmal mit kompletter Orchesterbegleitung.
Auf den Erfolg in Livorno bin ich besonders stolz, weil ich kein angesehener Rudolph Kreutzer bin, der kam, geigte und siegte. Ich bin der Ausländer, der arrogante Genueser, der junge Angeber, der sich erst beweisen muss. Und ich habe es geschafft, eine abweisende Menge von Schwätzern zu gewinnen. Ich bedanke mich an jenem Abend mit einer kleinen Ode an Livorno, einem Chor von singenden Mäusen, Katzen und Eseln.