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Im Frühjahr ist die Luft milder, nur am Morgen hängt kühler Nebel über den Feldern. In den Bäumen regt sich neues Leben, die Stadt atmet, sie kommt jeden Morgen neu auf die Welt. Die helle Sonne ist mir noch ein Freund und ich fühle mich gesund. Wir bereisen die Toskana. Ein schöner Flecken, besonders im April und Mai. Ein Konzert folgt auf das nächste und überall springen die Menschen von ihren Stühlen, trägt mich ihr begeistertes Klatschen auf Wellen. Und doch schmerzt mein Erfolg, weil ich ihn nicht mit den Lieben zu Hause teilen kann. In Genua haben sie nichts zu essen, da die Seewege gesperrt sind und die Versorgung unterbrochen ist. Hier bin ich im fernen Livorno, verschlinge kleine Puten, Schweinsnieren, Berge von Trüffeln und muss hören, dass Paolas runde Wangen einfallen. Es heißt, sie braten Mäuse, Katzen und Fledermäuse, um nicht zu verhungern. Ob sie Pia, die Katze, schon gehäutet haben? Das alles ist schrecklich. Aber wir können doch nicht zurück, um mit ihnen gemeinsam Fledermäuse und Katzen zu verzehren. Mir wird schlecht, wenn ich an Paolas und Giulia Nicolettas Teller denke und an den üblen Geruch, der davon aufsteigt. Mich würgt beim Gedanken an meinen starken Bruder Carlo, der so gerne isst und nun vielleicht alles erbricht.
Genua wird zerrieben zwischen dem Machtstreben anderer Länder, die endlich abhauen sollten, schimpft Vater und steht dabei wutschnaubend am Fenster unserer Herberge. Oder er schaut aus dem Reisewagen auf die anmutige Toskaner Landschaft und wünscht sowohl Engländer als auch Franzosen zum Teufel. Eines Tages sagt er: „Niccolò, du bist erwachsen. Ich kann dich nicht immer begleiten. Deine Mutter und deine Geschwister brauchen mich. Nach Modena reise ich noch mit, dann kehren wir nach Genua zurück.“ Er mustert mich aus verengten Augen. Gleichgültig zucke ich mit den Achseln. Seine ständige Begleitung ist mir ohnehin eine Last. Eines Tages ersticke ich darunter.
„Du wirst noch viele Konzerte geben. In ganz Oberitalien, in ganz Italien. Meinst du, du schaffst es ohne mich?“, fragt er lauernd. Da ich ihn verwirrt anblicke und dabei den Atem anhalte, antwortet er selbst. „Ohne mich bist du doch nur eine halbe Portion.“
Mittlerweile sind die Franzosen auch in Livorno. Mein Sommerkonzert in Livorno erlebt der britische Konsul noch mit, dann werden er und andere britische Repräsentanten von den Franzosen aus der Stadt gejagt.
In Modena fallen mir die finsteren Bogengänge auf, die sich zu beiden Seiten der Hauptstraße hinziehen. Vielleicht trägt der kalte Dezemberhimmel auch zu ihrem unheimlichen Aussehen bei. Mehr als das sehe ich nicht von der Stadt, weshalb mir die Bogengänge auf immer in Erinnerung bleiben werden. So soll es mit den beiden Konzerten geschehen, die mir Di Negro vermittelt hat. Ich werde sie den Zuhörern so deftig um die Ohren schleudern, dass sie mich nie wieder vergessen.
Zum ersten Mal spiele ich den Spanischen Fandango für Violine solo. Ich liebe dieses Stück. Vater besucht die Kathedrale, während ich meine Auftritte vorbereite. Ich will besser sein als jeder andere Musiker, den Modena je gehört hat.
Noch vor Weihnachten sind wir wieder in Genua. Die Reise hat mich erschöpft und ich hoffe, Mutter tischt mir keine gebratene Fledermaus auf. Aber wie es scheint, ist in Genua ein wenig Ordnung eingekehrt und der Seeweg geöffnet. Vorerst gibt es keine Auftritte. Kirchen sind von den Revolutionsarmeen geplündert und zum Teil zerstört worden. Kuppel und Portal der Gold überladenen Kirche Santissima Annunziata del Vastato sehen mitgenommen aus. Außerdem sind sie geschlossen. Gottesdienste sind selten geworden. Die französische Revolution hat einen langen Atem. Noch immer spüren wir die Nachwehen. Mir ist es augenblicklich recht, dass die aristokratische Republik entstaubt wird. Was meiner Musik zugute kommt, kann nur recht sein. Einige sagen ja, ich hätte das Violinspiel revolutioniert und so was wie mich hätte es noch nie gegeben. Ähnlich dem frischen Wind, der jetzt bläst und manches eingerostete Rad bewegt. Jedoch: Die Kirchen kaputt oder geschlossen, das Theater S. Agostino renovierungsbedürftig … wo hätte ich auftreten sollen? Auf einem öffentlichen Platz? Ich lasse die Zeit dennoch nicht unnütz verstreichen. Unablässig übe ich auf meiner Geige, die immer noch die alte ist, und pflege das Gitarrenspiel. Ich komponiere und verwerfe, lausche den wilden Melodien in meiner Seele und fessele sie aufs Blatt. Ich komponiere und denke, dass kein Mensch das alles spielen kann außer mir. Ich verwerfe und raufe mir die Haare. Aber ist es nicht besser, wenn es niemand spielen kann? Wenn meine Kompositionen ungewöhnlich schön sind und unausführbar für jeden guten Violinisten, so bleibe ich vorerst der Einzige auf der Welt, der das Volk damit entzücken kann. Meine Kompositionen dürfen also meinem ungewöhnlichen Spiel in nichts nachstehen.
So denke ich und schaue hin und wieder aus den hohen Fenstern unseres neuen Heimes im Polcevera-Tal. Manchmal spaziere ich die gewundenen Wege hinaus zu den Anhöhen. Eher abwesend nehme ich die amphitheatrisch angelegte Stadt und ihren Hafen zu meinen Füßen wahr. Ungleich aneinandergeschmiegt, klettern die Häuser fast bis zu mir herauf. Sie stehen so schief, dass man mutmaßt, sie könnten ohne die Stütze des Nachbarhauses sogleich einstürzen. Da und dort ragt ein Kirchturm wie ein ausgestreckter Finger in den Himmel und weiter draußen erhebt sich La Lanterna. Dort, wo ich gerade bin, schlendern ein paar Müßiggänger und Maler sitzen herum. Die Weite, das Grün, der silberne Teppich des Meeres, in dem der Himmel schaukelt, tun mir und meinen Augen gut. Aber ich schlendere auch gerne durch die schmutzigen Straßen Genuas. Beobachte die Anwohner, wie sie an warmen Tagen wie dem heutigen herumspazieren oder auf Treppenstufen sitzen oder an niedrigen Mauern lehnen und schwatzen. Oft vernachlässigt, in verwahrlosten Kleidern. Manchmal stoße ich in den Torwegen und an Straßenecken auf verwelkte Frauen. Sie tragen ihr graues, verfilztes Haar auf dem Hinterkopf zu einem hässlichen Kissen geknotet, worunter ein Heer von Läusen zu vermuten ist. Ich senke den Blick, sobald ich an ihnen vorbeikomme. Manche sind nicht älter als Mama und mir stehen die Haare zu Berge bei dem Gedanken, sie könnte eines Tages so aussehen. Über ihre Spindeln gebeugt, erinnern sie an Hexen, denen nur der Besen fehlt.
Ach, Genua, du gefällst mir in deiner Vielfältigkeit, aber ich werde niemals einer deiner schlurfenden, alternden Bewohner werden, denn ich muss weiter. Ich spüre in meinem eckigen Körper den Drang, ich spüre das eilige Klopfen meines Herzens und hinter meiner Stirn toben Tausende von winzigen Melodien, die wachsen, wachsen, zu einem weitverzweigten Geäst in den Himmel.
13
„Mehrere Jahrhunderte vor Christus entstand am Fuß der Apenninen in den tiefen Tälern Liguriens meine Heimatstadt Genua. Und es hieß, Janus, der Römergott mit den zwei Gesichtern, habe sie gegründet. Von ihm stamme ihr Name Ianua, die Pforte zwischen Meer und Bergen.“ An allen Abenden, die Giorgio zu Hause verbrachte erzählte er den Kindern etwas über Italien. Sie sollten seine Geschichte kennen und in Liebe zu ihrem Land aufwachsen. Still wie Mäuschen lauschten Carlotta und Andrea. Aufmerksam hingen sie an seinen Lippen. Hin und wieder machte Giorgio eine Pause und schloss die Augen. Er war zwar noch keine vierzig Jahre alt, aber fühlte sich erschöpft wie ein Sechzigjähriger nach einem arbeitsreichen Leben. Nur schwer verkraftete er den Tod seines Sohnes Umberto. Als er ihn beim ausgelassenen Spiel in die Luft geworfen hatte und wieder auffangen wollte, war er ihm entglitten und mit der Schläfe gegen die Tischkante geschlagen. Seine Frau Giuliana hatte ihm sein Ungeschick noch nicht verziehen. Daran änderte auch Andrea nichts, der nach der erneuten Verhaftung seines Vaters und dem Tod seiner Mutter die Familie Servetto bereicherte. In der Zwischenzeit war Buonarotti freigekommen und agierte im Untergrund radikaler als zuvor. Während Giorgio gemeinsam mit Di Negro ein verzweigtes Netz der Carbonari unter gebildeten und adligen Anhängern webte, flüchtete Buonarotti in die Schweiz, von wo aus er sein radikales Programm leitete. Er blieb mit Giorgio in Kontakt und erwartete von ihm, den Sohn Andrea in seinem Sinne zu erziehen.
„Wann ist die nächste Zusammenkunft bei Di Negro?“ Andrea war mittlerweile zwölf und hungrig nach Bildung, deswegen konnte er sich nicht satt hören an Giorgios verbalen Ausflügen in die Geschichte Genuas. Aber es drängte ihn auch, andere interessante Menschen kennenzulernen. Bei Di Negro verkehrte der um vier Jahre ältere Silvio Pellico Silvio, Dichter und leidenschaftlicher Verfechter eines geeinten Italiens. Er hatte das Gesicht eines Vogels, tiefliegende Augen, einen verwachsenen Körper, doch seine schäumenden Reden imponierten Andrea. Bei Di Negro traf er auch Margherita, siebenjährig und schön wie ein Traum. Oft verspürte Andrea das Verlangen, in ihre venezianischen Locken zu greifen.
„Die nächste Zusammenkunft ist nicht heute und auch nicht morgen, Andrea! Di Negro ist augenblicklich sehr mit der Förderung eines vielversprechenden jungen Violinisten beschäftigt. Ich kenne ihn sogar sehr gut. Als er vier Jahre alt war, hielt man ihn für tot. Heute spielt er wie der Teufel.“
„Der Marchese vergisst dabei auch nicht unsere gute Sache?“
„Niemals, Andrea! Aber beeile dich mit dem Erwachsenwerden. Wir brauchen junge Menschen wie dich. Die Carbonari sind noch nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht.“ Giorgio bat die Kinder, etwas Holz nachzulegen und dann hinauszugehen. Er sagte, er müsse ein wenig arbeiten. Dichter am Kaminfeuer sitzend, dachte er darüber nach, wie öde das Leben doch wäre, gäbe es nicht den Kampf um Italiens Einheit. Seine Frau behandelte ihn kühl, seine Freunde am Hafen begegneten ihm skeptisch, Antonio sah er kaum noch und die Arbeit als Schiffspacker füllte ihn nicht aus. Gerne ginge er als Befreier Italiens in die Geschichte ein. Berühmt werden wie Andrea Doria oder Columbus. Gleichzeitig spürte er, dass er dafür weder das Profil noch die Courage hatte. Er musste sich mit der Rolle des Mannes im Schatten begnügen. Als derjenige, der den Weg für jene vorbereitete, die noch nicht geboren waren.
14
Als Niccolò im September 1801 wieder zu Konzerten aufbrach, begleitete ihn Carlo und nicht der Vater. Die beiden Brüder trafen gegen Abend in Lucca ein. Bevor es ganz dunkel wurde, stiegen sie in einer Herberge ab. Carlo mit verzerrtem Gesicht und von Rückenschmerzen geplagt, Niccolò kerzengerade und in berstend guter Laune. Er schien aus Eisen zu sein, das hatte Carlo schon auf der Fahrt über die holprigen Landstraßen bemerkt. An manchen Stellen wurden sie fürchterlich durcheinandergeschüttelt und drohte der Wagen fast umzukippen. Obwohl sich Carlo am Knauf der Wagentür festgehalten hatte, war sein Kopf gegen die Schläfe des Nachbarn gestoßen, der den engen Raum mit dem Gestank seiner Zigarre verpestete. Niccolò hingegen störte sich an nichts und niemand. Scheinbar fasziniert hatte er aus dem Wagenfenster geschaut und seinem Bruder den Eindruck vermittelt, er betrachte die Landschaft. Als sich aber der Zigarrendunst seines Nachbarn etwas verzogen hatte, sah Carlo, dass Niccolò mit geschlossenen Augen und völlig in sich versunken dasaß.
Das Konzert sollte am 14. September in der Kathedrale von Santa Croce stattfinden. Niccolò und Carlo hatten also noch einige Tage Zeit, sich in der Herberge einzurichten. Allerdings wartete auf den jungen Violinisten eine Prüfung, der alle unterzogen wurden, die an dem heiligen Ort musizieren wollten. Da sich Niccolò allen überlegen fühlte, übte er nicht eine Minute. „Was verstehen die Prüfer vom berühmten und großen Hochamt von Santa Croce schon von Musik?“, sagte er sich. „Von meiner Musik und meinem unerreichbaren Spiel verstehen sie absolut nichts! Ich werde sie mit zwei Bogenstrichen mundtot machen.“
Er hatte freilich nicht damit gerechnet, wegen seines langen und straff gespannten Bogens und seiner eigenwilligen Haltung, mit der die Geige ansetzte, verlacht zu werden. Als er einen kichernden Prüfer fragte, warum er von der alten italienischen Geigenschule in der Tradition von Tartini nichts hielte, da er doch als Mitglied des verehrungswürdigen Hochamts bestimmt ein Anhänger der verehrungswürdigen Tradition im Allgemeinen sei, erntete er vom Prüfer einen vernichtenden Blick. Angesichts dieses Blickes senkte Niccolò die Geige, so tief er konnte, setzte seinen straff gespannten Bogen an und spielte die Variationen über „La Carmagnola“.
Was er sich ursprünglich vorgenommen hatte – Jury und andere Musiker mundtot zu machen –, erreichte er dank dieser Variationen. In alternierenden Läufen auf der E-Saite und auf der vierten Saite stellte er zwei Klangfarben gegenüber und gebrauchte häufig Doppelgriffe, was manchen Prüfer glauben ließ, es spielten zwei Geigen. Die folgenden vierzehn Variationen brachten ihm gigantischen Beifall und nahmen den anderen Kandidaten den Wind aus den Segeln. Keiner von ihnen hatte noch den Mut, sich nach Paganini hören zu lassen.
„Warum hast du ‚La Carmagnola‘ gewählt?“ Carlos Augenbrauen zuckten. „In Genua mag das angehen, weil wir die Ideale der französischen Revolution zu unseren eigenen gemacht haben. Aber hier in Lucca …?“
„Auch in Lucca gibt es Jakobiner, Carlo mio! Ganz blöde sind die hier nicht. Denk an Napoleons Worte: Es gab gute Jakobiner, und es gab eine Zeit, in der jeder intelligente Mann zwangsläufig Jakobiner war.“
„Und du, Niccolò, bist auch einer?“
Niccolò zuckte mit den Achseln. Im selben Moment schon hörte er nicht mehr zu. Er dachte an das Fest in der Kathedrale und lächelte in sich hinein. Das diebische Verlangen erregte ihn, den hochverehrungswürdigen Gottesdienern eine Lektion zu erteilen.
Mit dem Festzug erschien auch die Regierung, die Kathedrale füllte sich, in den Seitengängen des Kirchenschiffes drängelten sich die Menschen und Niccolò lächelte in sich hinein. Er war ganz ruhig. Zaghaft und verunsichert wie zu Anfang trat er nicht mehr auf. Die vielen Beifallsstürme der vorangegangenen Auftritte echoten seit fast zehn Jahren in seinem Kopf und sobald er die Bühne betrat, gehörte ihm die Welt. Gleich nach dem Kyrie Eleison fing er an zu spielen. Das Konzert dauerte achtundzwanzig Minuten. In den letzten Minuten ahmte er auf seiner Geige Vögel, Flöten und Trompeten nach und gewann damit jene, die von Musik nicht viel verstanden, aber von seiner Geschicklichkeit verblüfft waren. Der letzte Ton verklang und noch ehe er die Geige von seinem Kinn löste, brach der Applaus wie eine Welle über ihn herein.
Am folgenden Tag überbrachte ihm Carlo den Bericht eines Abtes.
„Hör, Niccolò, wie du die Leute vom Hochamt verärgert hast!“, und er las vor: Dieser Genueser Jakobiner mag wohl Geschicklichkeit im Umgang mit der Geige zeigen, aber er beweist weder Vernunft noch Ernst in Dingen der Musik … sein Konzert endete als Opera buffa, die alle zum Lachen brachte. Die Nachahmung von Vögeln und anderen Instrumenten mit der Geige zeugt von seiner Kunstfertigkeit … aber ist nichts weiter als eine Jugendtorheit, die nur in einer Musikschule vorgeführt werden sollte … und auf keinen Fall an einem geheiligten …
„Carlo mio, verschone mich mit dem Geschwätz des Geistlichen. Der soll in der Kirche predigen. Hast du nicht die Freude in der Kathedrale bemerkt? Ist dir nicht aufgefallen, wie ich alle gewonnen hab, alle, ohne Ausnahme?“
„Stimmt, ohne Ausnahme, auch die Jakobiner Luccas. Sie waren völlig hingerissen. Du bist ganz anders als alle. Du spielst einerseits flink und geschickt wie der Teufel, andererseits klingen manche Melodien wie von Engeln gespielt.“
„Red nicht immer vom Teufel, wenn du mich spielen hörst. Vater macht das auch und hebt dabei seine Augenbraue. Ich mag das nicht. Wer sagt uns denn, ob der Teufel überhaupt spielen kann.“
Carlo nickte. „Du hast wie immer Recht, fratellino! Wer, zum Teufel, weiß das schon, ha, ha, ha! Und was wirst du heute noch treiben?“
„Treiben? Gerne würde ich mich etwas in der Stadt herumtreiben, aber dafür haben wir keine Zeit. Wir sind bei ungefähr sechzig angesehenen Leuten eingeladen und überall gibt es köstliches Essen.“
„Vergiss nicht meinen Hochzeitstermin! In ein paar Tagen geht es heim nach Genua.“
„Dio mio, bei deiner eigenen Hochzeit solltest du wahrhaftig nicht fehlen!“ Niccolò schüttete sich aus vor Lachen. „Stell dir vor, statt deiner kommt ein anderer, der dir ähnlich sieht, und Anna merkt es erst nach der Hochzeitsnacht. Zuzutrauen ist es ihr. Oder vielleicht merkt sie es erst, wenn sie den Trauschein anschaut und den Namen Paganini nicht findet. Aber nein … ha, ha, ha …“ Niccolòs langes Gesicht wurde durch das Lachen etwas breiter, „sie kann ja nicht lesen.“
Carlo, den diese Späße ärgerten, zwang sich zu einem Grinsen. Trocken entgegnete er:
„Ich werde dich zu einigen Einladungen begleiten und sie nützen, um eine Stelle im Orchester von Lucca zu bekommen. Danach reise ich ab, so viel steht fest.“
„Ich reise mit, caro Carlo! Denn nichts ist mir lieber, als bei deiner Hochzeit dabei zu sein. Außerdem ertrage ich diese Schwätzer nicht allzu lange. Sie versuchen, mir mit ihren himmelschreienden Musikkenntnissen zu schmeicheln und langweilen mich dabei zu Tode.“
Am letzten Abend vor der Reise aßen sie bei den Quilici. Die Familie wohnte in einem staatlichen Gebäude neben der Kirche San Frediano. Signore Quilici war ein diskreter Herr, der den jungen Paganini nicht mit Lobeshymnen quälte. Er verhielt sich ihm gegenüber respektvoll und anerkennend, wohingegen seine Frau in einem fort schnatterte: „Woher haben Sie nur diese Fingerfertigkeit, Signor Paganini? Wie kommt es, dass Sie wie ein ganzes Orchester spielen? Da hört man Flöten und Hörner mit der Geige dialogieren … und wie Sie den Bogen durch die Luft schwingen …
meine Güte, atemberaubend.“ Signor Quilici lächelte verlegen. Niccolò verdrehte die Augen und versuchte, sich auf das Essen zu konzentrieren. Als Hauptgang wurde eine Art Ölkuchen gereicht, bestehend aus mehreren feinen Blätterteigschichten, unter denen sich eine würzige Artischockenfüllung verbarg. Dazu trank man einen Vino bianco. Normalerweise konzentrierte sich der Virtuose nicht auf das, was er sich herzhaft schmecken ließ. Er genoss und hätte niemandem sagen können, was er vertilgte. Ebenso erging es ihm mit dem Wein. Ob er weiß oder rot war, bemerkte er kaum. Die Hauptsache, es mundete. Auch an diesem Abend fiel es ihm schwer, auf den Geschmack des Weißweines zu achten oder die Artischockenfüllung so geräuschvoll zu kauen, um seinen Ohren das Geschnatter der Hauswirtin zu ersparen. Gott sei Dank nahte von anderer Seite Rettung. Bevor das Dessert aufgetischt wurde, ging die Tür auf und Eleonora erschien. Sie mochte vielleicht zehn oder elf Jahre sein, aber in ihr glühte ein zartes Feuer, in dem das Versprechen loderte. Niccolò hob den Kopf und senkte ihn vorläufig nicht mehr.
Am 26. September heirateten Carlo und Anna in der Chiesa San Tommaso. Zwei Monate wohnten sie gemeinsam in Antonios Haus im Polcevera-Tal, während Niccolò komponierte und seine Konzerte vorbereitete, die für November und Dezember in Lucca geplant waren. Er brannte darauf, Eleonora wiederzusehen. In seinen Gedanken war er stets bei ihr, ja, es war fast unmöglich, zu komponieren, ohne an sie zu denken. Eleonora war jung, viel zu jung, und Niccolò wusste nicht, wie er sich ihr hätte anders nähern können als über eine Komposition. Aber die Melodien wollten im Polcevera-Tal nicht so recht kommen. Die Umgebung war bereichernd, der Oktober launisch. An manchen Tagen vergoldete er die Landschaft, dann umhüllte er sie wieder mit einem abscheulich grauen Mantel. Normalerweise ließ sich Niccolò davon nicht beeinflussen. Seine Melodien waren nicht wetterabhängig. Ob es regnete, die Sonne schien oder ein heftiger Wind blies, die Melodien kamen immer. Sie fingen an zu schwingen, zu tanzen, zu toben, schließlich hörte er sie heftig, wie Regentropfen am Fenster, ganz deutlich jeden einzelnen Ton, als wollten sie ihm etwas mitteilen. Das war der Moment, in dem er sie festhalten musste und sie aufs Blatt fesselte. Manche Melodie fesselte er allein im Kopf. Das war sicherer, denn so konnte sie ihm keiner nehmen. Augenblicklich schlugen die Töne in seinem Kopf gegeneinander. Er hörte Dissonanzen. Aber was schlimmer war, sie echoten nicht in seinem Herzen, also taugten sie nichts. Was störte Niccolò? Es war das Haus. Der Vater. Die plappernden, geräuschvollen Schwestern Paola und Niccoletta und natürlich Carlo mit Ehefrau. Entweder er suchte sich eine andere Bleibe oder er ging auf Reisen.
Vorerst wählte er das zweite. Wieder wollte Carlo ihn begleiten. Er versprach Anna, eine Stelle beim Orchester von Lucca zu erbitten. Sollte es mit der Anstellung klappen, würde er eine geeignete Wohnung für beide suchen.
15
Eleonora, jetzt bist du fast vierzehn Jahre und ich dreiundzwanzig. Deine Augen strahlen, wenn ich von der Violine erzähle. Du verstehst meine bizarre Liebe zu ihr, du legst deine weiße Hand auf meinen Arm, sobald mich dabei dieses schreckliche Zittern befällt. Meine Stimme zerbricht, mein Herz klopft, mein Atem wird kurz. Es ist ja nicht das geformte Holz, der Klangkörper, der mit Saiten bespannt ist, woran mein Leben hängt, es ist jenes Instrument, das erst in meinen Händen zur Geliebten wird. In jeder anderen Hand ist es verloren. Ich konnte meine alte Geige so leicht aufgeben, weil sich die neue wie eine Katze in meinen Arm schmiegte. Ich schob sie unters Kinn und atmete ihren wunderbaren Duft, ich berührte die G-Saite mit dem Bogen, spielte eine belanglose Melodie, und schon fühlte ich ihre Hingabe. Sie stammt aus Guiseppe Guarneris Atelier und wurde mir vor einem Jahr in Livorno anlässlich der Einweihung eines Theaters von einem Verehrer überreicht. Das sage ich hier und jetzt. Andere behaupten, ich hätte mein altes Instrument am Hasardtisch verspielt und sei gezwungen gewesen, mir eine Guarneri auszuleihen. Lasst sie reden, die Wahrheit ist ein Chamäleon. Ich nehme es nicht so genau mit ihr, weil sie es auch nicht genau mit mir nimmt. Darum zahle ich ihr nur mit gleicher Münze heim. Signor Livrons Geschenk war ein stolzes Geschenk und genau richtig für mich. Ich ziehe die Guarneri der Stradivari vor, weil sie von einem größeren Format ist. Im Ton steht sie der Geige des genialen Antonio Stradivari in nichts nach. Genauso edel, genauso groß und voll, wenn man ihn zu formen versteht. Besonders liebe ich ihren ambragelben Grundton, über dem eine durchsichtige Schicht roten, schimmernden Lacks liegt. Aber weißt du, Eleonora, ihr Körper schimmert und strahlt erst richtig, wenn ich sie streichle, wenn ich mit den Fingerkuppen ihre Haut klopfe, die Fasern ihres Leibes zupfe oder sie mit dem Bogen zum Schwingen bringe. Dann singt sie, dann lacht und weint sie. Ja, manchmal fürchte ich, ihr wachsen Flügel und sie entreißt sich mir, um einfach davonzufliegen.
Du, Eleonora, verstehst mich. Ich sehe es in deinen weiten, leeren Augen. Sie öffnen sich, um sich mit den Bildern, die ich dir male, zu füllen. Und plötzlich siehst du mich voller Staunen an, so entzückt, als sei ich ein Adonis. Und plötzlich wirst du ganz eifrig, stellst Fragen zur Musiklehre, willst alles erlernen. Wer sind Sie, Signor Paganini, wer ist Stradivari und wer Guarneri?
Angesichts deines süßen, unschuldigen, ja fast dummen Ausdrucks erzähle ich dir ein wenig von Antonio Stradivari, denn er war nur ein Jahr jünger als du, als er vor 150 Jahren zu Amati, dem großen Geigenmacher, in die Lehre ging. Am liebsten streunte er durch den Wald und erforschte die Bäume auf ihren Klang und ihre Beschaffenheit. Er legte sein Ohr an ihren Stamm und verfolgte ihr Wachstum. Mit der Zeit konnte er Holz von Holz unterscheiden, so wie es Michelangelo mit dem Marmor konnte. So gelang es ihm eines Tages, aus den feinsten Hölzern und einer geheimnisvollen Lackmischung, die er in zwei Schichten auftrug, die große Stradivari zu schaffen. Später werde auch ich mir eine kaufen.
Entzückende Eleonora, dafür liebe ich dich. Für die Liebe, die du mir bezeugst, die Anbetung, für deine rosige Haut, deinen schlanken Hals, das gescheitelte, geflochtene Haar, das deinen schönen Nacken küsst und für deinen jungen Körper, der in mir Dinge auslöst, die weder du noch meine Geige befriedigen können, und darum nimm die Gitarre. Plaziere sie richtig und packe ihren Hals energischer. Zupfe gefühlvoller und lausche … ja, lausche … Aber nein, der Ton stimmt nicht ganz. Er ist ein wenig daneben. Natürlich! Du hörst es nicht? Das nehme ich dir nicht übel. Viele Menschen hören es nicht. Sogar Musiker hören es oft nicht. Aber ich höre es, Eleonora, und mir tut es weh. Ja, Eleonora, hin und wieder tut es auch weh, glasklare Töne hören zu müssen.