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Kaleb hustete die Brocken, die er noch vom Brötchen im Hals hatte, auf den Monitor und die Kaffeetasse fiel aus seiner Hand auf die hellblau-weiß marmorierten Küchenfliesen.
Mit einem Satz sprang er auf und lief in sein Schlafzimmer. Die kugelsichere Weste hing ganz rechts im doppeltürigen Kleiderschrank. In sein Schulterhalfter steckte er seine zwei kleinkalibrigen Waffen. Eine dritte Waffe saß in einem Halfter an seinem rechten Fuß. Hastig machte er sich aus der Wohnung. Zum Glück waren zu dieser Uhrzeit nur sehr wenige Menschen in diesem Haus unterwegs und zumindest im Treppenhaus oder im Fahrstuhl begegnete ihm niemand. Der Fahrstuhl war jetzt ohnehin zu langsam. Er sprang die Treppe hinunter und nahm immer vier Stufen auf einmal. Sein Coupé stand eine Straße weiter auf einem Sonderparkplatz für die Mieter des Hauses in der Diamond Street.
Bis zu Katis Landhaus benötigte er, wenn er sich beeilte, immer noch mindestens zwanzig Minuten. Das war vermutlich zu lange, aber schneller ging es nicht. Er holte das Letzte aus dem Coupé heraus. In der Stadt sprangen nachts alle Ampeln auf Grün, wenn man auf sie zufuhr und auf der Landstraße außerhalb der Stadt gab es nur eine Kreuzung, die er bis zum Landhaus passieren musste.
Die Reifen quietschten. Nach neunzehn Minuten war er da. So schnell hatte er noch nie den Feldweg erreicht, der zu ihrem Haus führte. Er stellte das Auto seitlich in einen Feldweg, die letzten dreihundert Meter lief er geduckt. Sein Körper war wie elektrisiert, seine Sinne aufs Äußerste geschärft.
Im Haus brannte kein Licht, die Szenerie war gespenstig. Das alte Landhaus, in dem Kati wohnte, war eigentlich ein idyllischer Ort und auch in dieser Vollmondnacht schien alles normal zu sein. Dicht am Haupthaus befand sich die Scheune mit den Pferdeboxen, in denen die High Society ihre Warmblüter unterstellte, um sonntags die unberührte Weite hier draußen genießen zu können. Direkt an die Scheune grenzten der Auslauf für die Pferde und ein kleiner Reitplatz, auf dem Reitstunden für die Kinder gegeben wurden. Auf der Veranda standen links eine Hollywoodschaukel und rechts ein schöner alter Schaukelstuhl. Auf der Hollywoodschaukel hatte er schon viele Abendstunden mit Kati gesessen und über die Zukunft philosophiert. Kinder wollten sie haben, mindestens zwei höchstens fünf, Namen hatten sie sich auch schon überlegt und eine interne Hitliste angelegt. Auf der Schaukel hatten sie von fernen Ländern geträumt, die sie gemeinsam bereisen wollten und wie schön es doch wäre einmal zusammen in Italien am Strand zu liegen. Diese Schaukel war der Ort für ihre Träume und Ideen oder einfach der Ort, an dem sie schaukelnd nebeneinandersaßen, ihre Hände ineinander gefaltet hatten und die Welt stillzustehen schien.
Kaleb machte einen großen Bogen, um das Haus durch die Hintertür zu betreten, dabei ließ er die Eingangstür nie aus den Augen. Er eilte von Fichte zu Fichte, um hinter den dünnen Nadelbäumen im Notfall Schutz suchen zu können. Er hatte schon etwa einhundert Meter zurückgelegt und befand sich in Höhe der Veranda, als er in der Scheune das Schnauben der Pferde hörte. Vielleicht war ein Fuchs oder Marder durch die Scheune gehuscht und hatte die Tiere erschreckt – oder irgendjemand versteckte sich dort. Kaleb bewegte sich einige Schritte zur Scheune hin, konnte aber trotz des Vollmondes nichts erkennen. Er war auf alles gefasst, holte seine Waffe aus der Weste und entsicherte sie. Als er wieder zur Scheune schaute, dachte er, er hätte einen schwarzen Schatten gesehen, der vom Haus zur Scheune rannte. Das Schnauben der Pferde wiederholte sich und jetzt war er sich sicher, dass der Grund dafür weder ein Fuchs noch irgendein anderes Tier war. In geduckter Haltung pirschte Kaleb sich an der Veranda vorbei ohne einen Blick durch die Tür oder eines der Fenster zu werfen. Er konzentrierte sich ganz auf die Scheune und hoffte den Schatten noch einmal zu sehen und somit eine Richtung und ein Ziel zu haben. Seine schwarze Hose und seine dunkle Weste waren die optimale Kleidung für dieses Terrain und wie so oft, wenn er sich in einer brenzligen Situation befand, strich er sich mit seiner linken Hand über seinen Dreitagebart. Da war es wieder, das Schnauben der Pferde. Als er am Ende der Veranda ankam, stand er wieder vor einer Entscheidung. Entweder durch ein Seitenfenster ins Haus hinein oder mit einem schnellen Sprint zur Scheune. Er entschied sich für den schnellen Sprint zur Scheune, da sich dort auf alle Fälle jemand aufhielt, der dort nicht hingehörte. Noch einmal ließ er seine Augen über das Gelände und den kleinen Reitplatz schweifen, aber er sah nichts Ungewöhnliches. Mit schnellen Schritten erreichte er das Scheunentor, das nur angelehnt war. Die Pferde schnaubten noch einmal heftig und nervös. So gut es ging spähte er durch die Tür, ohne sie dabei zu bewegen oder ein Geräusch zu machen. Durch das Dachfenster fiel genügend Licht, um die Umrisse zweier Männer erkennen zu lassen, die vor einer der Pferdeboxen standen und sich leise unterhielten. Kaleb konnte Bruchstücke von Sätzen und einzelne Worte verstehen – „Sie wusste nichts“ und „Stadtwohnung“ waren Begriffe, die er aufschnappen konnte. Im Mondlicht sah er, dass jeder der Männer eine Waffe in der Hand hatte und dass die Hand des einen voller Blut war. Die Männer machten sich los und gingen auf die Stalltür zur. Kaleb kroch, so schnell er konnte, um die Ecke der Scheune und richtet seinen Lauf auf die Tür. Zuerst war ein Knarren zu hören, dann ging die Tür auf und die Männer traten nacheinander heraus. Er hatte schon viele Menschen in seinem Leben erschießen müssen und diese Zwei würden bestimmt nicht zu den Charakterstärksten und Aufrichtigsten zählen. Noch ein zwei Schritte und sie würden aus dem Schatten der Scheune treten und im vollen Mondlicht stehen. Noch einmal blieben sie stehen und schauten zur Veranda. Kaleb ließ seinen Blick nicht von ihnen. Genau in dem Moment, als einer von beiden einen Schritt aus dem Schatten der Scheune tat, schob sich eine Wolke vor den Mond. Kaleb wollte diese Chance nicht verstreichen lassen. Er wusste, dass diese zwei Schurken für etwas Schreckliches zu büßen hatten. In Windeseile hatte er den Schalldämpfer aufgeschraubt, ein geübter Blick und zwei kurz aufeinander folgende Schüsse. Beide Männer fielen wie Sandsäcke auf den Boden. Kaleb hatte beide direkt ins Herz getroffen. Es ging alles so schnell, es gab keinen Schrei, nichts! Eigentlich hätte er nun hingehen und sich von dem Tod der Männer überzeugen müssen, allerdings wusste er von niemanden, auf den er je gezielt geschossen hatte der dies überlebte. Schnell machte er sich zu dem Seitenfenster auf, um in das Haus einzusteigen. Die Wolke war inzwischen am Mond vorbei gezogen und es war wieder heller. Im Haus brauchte er nicht lange zu suchen, was auch immer sich hier abgespielt hatte, es war schrecklich und diese beiden Männer da draußen waren auf jeden Fall viel zu schnell und unter zu wenig Schmerzen gestorben.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Herz zog sich zusammen. „Kati wo bist du?“ dachte er nur.
Ein kurzer Blick auf die Uhr – fünf Uhr zwanzig. Von der Stadt bis zum Landhaus hatte er neunzehn Minuten gebraucht und er war jetzt schon fünfzehn Minuten hier. Also gab er sich selbst nur fünf Minuten, um das Haus zu untersuchen, danach würde er von hier verschwinden. Der Vollmond warf sein dämmriges Licht in den Raum hinter der Verandatür. Es machte alles den Eindruck, als hätte hier ein Kampf stattgefunden. Der Glastisch in der Mitte des Raumes hatte einen großen Riss und die Wanduhr war stehen geblieben. Am Rand der Couch stand Katis Handtasche und auf dem Beistelltisch lag noch ein Notizblock, aber keine Spur von Kati. Schnell steckte er sich den Notizblock und das Handy aus der Handtasche in die Innenseite seiner Weste. Vielleicht gab es dort irgendwelche Nummern oder Hinweise, die er noch brauchen konnte, denn eines war klar – hier gab es einiges an Klärungsbedarf.
Am Ende des Wohnzimmers befand sich eine silberne Wendeltreppe, die hinauf ins Schlafzimmer führte. Er musste dort hoch, um zu sehen, welches Szenario sich dort abgespielt hatte oder ob dort oben noch alles so war, wie er es in Erinnerung hatte. Aber wenn oben jemand auf ihn wartete, hatte er kaum eine Chance. Er würde von unten kommen und der Obenstehende war auf jeden Fall klar im Vorteil. Jetzt bräuchte er einen Zaubertrank, wie ihn die Gummibärenbande im Fernsehen immer nahm, mit dem Sie mindestens zwei Meter hoch springen konnten. Davon jetzt einen Schluck und er wäre mit einem Satz oben im Schlafzimmer und wäre dann jedem Angreifer zumindest ebenbürtig oder sogar überlegen gewesen. Kaleb überlegte einen kurzen Moment, ob er anstelle eines Zaubertrankes zumindest seine kleine Taschenlampe auspacken sollte, um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Falls sich jedoch noch weitere Personen auf dem Gelände befanden, könnte das Licht der Taschenlampe ihn verraten, also ging er ohne Zaubertrank und ohne Licht und nur mit gezückter Waffe langsam und Schritt für Schritt die Treppe hinauf. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte immer mehr erkennen.
Alle Befürchtungen schienen unbegründet, hier oben war alles wie immer. Das alte rustikal geschmiedete Bett stand so, als ob dieser Raum der stillste und ruhigste Ort zwischen Grönland und dem Südpool sei. Gern hätte er all seine Gedanken darauf gerichtet, zu rekonstruieren, was in den Stunden, seitdem er sich von Kati verabschiedet hatte, hier in diesem Haus geschehen war. Seine Gedanken machten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung und er musste unwillkürlich das Bett mit seinem einfachen Metallgestänge anschauen. Wie viele schöne Stunden hatte er hier mit Kati schon verbracht. An den Wänden und an der Decke befanden sich große und kleine Spiegel und an der Kopfseite des Bettes gab es ein Gemälde, das die Silhouetten zweier Menschen zeigt, die sich in den Armen liegen. Ihre doch recht umfangreiche Kleider- und Schuhsammlung bewahrte Kati in ihrem begehbaren Kleiderschrank im Erdgeschoss auf. Der Raum hier oben war einfach zu schade, um ihn mit irgendwelchen Schränken oder Bords jeglicher Art vollzustellen. Dieser Raum war nur dazu da, um zwei Menschen, die sich liebten eine geeignete Spielwiese zu bieten. Obwohl der Begriff „Spielwiese“ viel zu platt ist. „Spielwiese“, das klingt wie ein abgemagerter Spielplatz mit einer Schaukel und einer kleinen Wippe. Nein, dieser Raum war das Olympiastadion, hier wurden Weltrekorde aufgestellt und Champions League und Weltpokal gewonnen. Die Bezeichnung „Hall of Fame“ würde diesem Raum eher gerecht werden. Ob hier oben noch einmal ein Zehnkampf der besonderen Art stattfinden würde, konnte er momentan nicht sagen, aber zumindest müsste man vorher nicht aufräumen.
Gerne wäre Kaleb noch hinuntergegangen und hätte Bad, Küche und Kleiderschrank kontrolliert, aber ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass die fünf Minuten verstrichen waren und es an der Zeit war, sich aus dem Staub zu machen. Außerdem hatte er zwei seiner drei E-Mails ja noch nicht gelesen.
Kapitel 4
Ein Blick in die Vergangenheit
Warschau, 3. September 1989 in irgendeinem Keller unter einer kleinen kommunistischen Kneipe.
„Wenn Sie wollen, dass der Eiserne Vorhang wirklich fällt, dann stimmen Sie unseren Bedingungen zu oder der Zloty wird mit Sicherheit auch bei Ihnen Staatswährung und Bananen gibt es nur noch in Carepaketen von Verwandten. Also überlegen Sie gut und dann entscheiden Sie richtig!“
„Was denken Sie denn, wer ich bin, ich kann das nicht entscheiden. Selbst wenn ich wollte – ich stehe ganz unten in der Befehlshierarchie. Das Einzige, was man mir mitteilt, ist, wann es in der Kantine ein zusätzliches Schnitzel oder 'ne doppelte Portion Pommes gibt. Glauben Sie mir, ich bin lediglich hier, um als Kontaktmann zu fungieren. Also, kommen Sie morgen nach Moskau zum Roten Platz, dort wird Sie dann jemand aufsuchen, der solche Entscheidungen treffen kann. Und überlegen Sie gut, ob Sie kommen, denn ganz ehrlich – ich glaube eher daran, dass auf dem Times Square wieder Bäume stehen, als dass ich in meiner Heimat mit Zloty zahle.“
„Machen Sie keine dummen Sprüche, das ist ja nicht zum Aushalten! Es ist ganz einfach: Sie geben uns innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden die Koordinaten und wir Ihnen die Wiedervereinigung – schönen Abend noch.“
„Ihnen auch.“
Kapitel 5
Die Reifen drehten durch, als Kaleb über den Schotterweg förmlich zurück auf die Landstraße flog. Auf dem Rückweg hatte er es genauso eilig wie auf dem Hinweg – wen auch immer er verfolgte, momentan war ihm dieser zumindest noch einen Schritt voraus und den galt es aufzuholen.
Viele Frauen mochten zwar auf seine engen Jean stehen, in denen sein durchtrainierter Hintern gut zur Geltung kam, aber enge Jeans haben in der Regel auch enge Hosentaschen und aus denen beim Fahren das Handy herauszuholen, war schwierig. Endlich hatte er es geschafft.
„Hey Claudi!“
„Wer wagt es?“ Die Stimme klang nicht nur verschlafen, sondern auch ein wenig gereizt.
„Wir haben kurz vor sechs, also wer um alles in der Welt ist so wahnsinnig mich zu wecken?“
„Hier ist Kaleb – ich brauche deine Hilfe“.
„Meine Hilfe?! Du, Altes, entschuldige, wenn ich das so sage, Arschloch. Du meldest dich fast anderthalb Jahre nicht bei mir und dann morgens um kurz vor sechs und fragst, ob ich dir helfen kann?“
„Es ist echt dringend!“
„Dass es dringend ist, glaub ich dir. Was ist denn los?“
Diese Frage klang eher ironisch oder fast schon sarkastisch. Der Unterton war gewollt und schwang ganz bewusst und unüberhörbar mit.
„Wirst du von irgendeiner Frau steckbrieflich gesucht oder hat jemand eine Schlägertruppe auf dich angesetzt?“
Kaleb ahnte, dass es wohl kein so langes Telefongespräch werden würde.
„Falls das so ist, sag mir, wo du bist. Dann komm ich und helfe den Jungs. Vielleicht lassen sie mich auch mal zuschlagen.“
Danach war die Leitung tot und bestimmt nicht durch ein Funkloch.
Kaleb starrte auf die Straße. Die Nacht neigte sich langsam ihrem Ende und er konnte sehen, wie die Häuser langsam in die Farben der aufgehenden Sonne getaucht wurden. Zwischen den Violett- und Rottönen sah er auch die Dachspitze des Verlagshauses, in dem die Redaktion war, in der er arbeitete. Bis dorthin bräuchte er, da er über die Umgehungsstraße fahren könnte, mit dem Auto von hier aus nur einige Minuten.
Während der Fahrt hatte er allerdings beschlossen, nirgends hinzufahren, wo er sich in den letzten Tagen oder Monaten aufgehalten hatte. Deshalb schieden seine Wohnung und das Verlagshaus als mögliche Ziele aus. Er wollte auch niemanden aufsuchen, zu dem er in letzter Zeit Kontakt hatte. Es war einfach zu gefährlich. Er wusste noch nicht sicher, wer sein Gegner war, aber eine schlimme Vorahnung machte sich langsam breit.
Claudi hingegen wäre eine Ausnahme gewesen. Das Intermezzo mit ihr lag nun schon über ein Jahr zurück und war auch eher ein um ein paar Tage verlängerter One-Night-Stand gewesen. An manchen Tagen hasste Kaleb sich dafür selbst, denn seine ganze Liebe galt völlig und ungeteilt Kati, trotzdem konnte er diesen Seitensprung auch nicht als Versehen bezeichnen. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Kati war für zwei Wochen auf einem Lehrgang und er war auf diesem Wahnsinnskonzert von Pink und danach war es eben passiert. Claudi dachte, es könnte wirklich etwas werden, aber ihre Beziehung hatte vier Tage gehalten, danach hatte er Claudi erklärt, dass sie sich auseinander gelebt hätten, was sie ziemlich verärgerte. Damals hatte er noch gedacht, dies sei wohl eine dieser unüberwindbaren Hürden zwischen Männern und Frauen und nicht allein auf die Sache mit dem X- und Y-Chromosom zurückzuführen. Bei Frauen waren alle Dinge direkt auf einer völlig unerreichbaren und für ihn unverständlichen Gefühlsebene. Sie weinen schreien, werfen mit Gegenständen um sich und rufen Sätze wie: „Vor Männern wie dir hat mich meine Mutter gewarnt!“ oder „Mach dich dahin, wo der Pfeffer wächst!“
Ganz nüchtern betrachtet gab er ihr heute in einigen Punkten recht. Im Rückblick betrachtet war es wirklich schwer, nach vier Tagen von „Auseinanderleben“ zu sprechen. Aber das Theater, das Claudi damals veranstaltet hatte, war auch ein wenig überzogen und wirklich broadwayreif gewesen. Sie hatte sich fast so aufgeführt, als ob sie jahrelang verheiratet gewesen wären, fünf gemeinsame Kinder und ein Haus gehabt hätten und das war ja nun auch nicht der Fall gewesen.
Selbst wenn sie ihm nun nach so langer Zeit und dem etwas unglücklichen Auseinandergehen, heute Morgen gesagt hätte, dass er kommen könnte, dann hätte er ihr immer noch erklären müssen, dass er nicht auf der Suche nach einem langen klärenden Gespräch war oder es um eine Entschuldigung ging, sondern dass er lediglich ihren PC bräuchte, damit er seine E-Mails abfragen konnte.
Kapitel 6
Deutschland einige Tage zuvor –
In Lichtach gingen langsam die Lichter wieder an.
Es war sogar ein ausgesprochen schöner Morgen und in einer so kleinen Stadt gibt es eine ganze Reihe festgelegter morgendlicher Rituale.
Auf dem Weg zur Dorfschule, die sich direkt neben der Dorfkirche befindet, werden Erst- bis Drittklässler von Jungs aus der vierten Klasse verhauen, dann werden ihnen die Pausenbrote geklaut und der Inhalt des Schulranzens wird auf der Straße verteilt. Auf dem Weg zur Schule befindet sich die kleine Bäckerei des Ortes. Dort wird das letzte Taschengeld für Süßigkeiten oder ein Teilchen für die Pause ausgegeben und dort gibt es auch die besten Brötchen im ganzen Kreis, die natürlich auch besser sind als das Vollkornbrot, das die leckere Salami in einen schier undurchdringlichen Wust von Körnern einschließt. Aber seinen eigentlichen Ruhm, auch weit über die Grenzen von Lichtach hinaus, hat diese Bäckerei mit einem einmaligen Hefezopf erlangt. Hefezöpfe – ja, davon würden heute Morgen wohl ein paar mehr bestellt werden als sonst. Da Hefezöpfe genauso wie Streuselkuchen auf jede Kuchenplatte einer Beerdigung gehörten und wenn der Bäckermeister der Zeitung glauben durfte, dann war die Einwohnerzahl von Lichtach letzte Nacht um drei Personen gesunken.
„Also noch einmal, Herr Heimer. Was war letzte Nacht hier los?“
Es war ein karger Raum, der nur aus Beton, einem Tisch und zwei Stühlen bestand. Der Tisch stand in der Mitte des Raumes und darauf stand ein kleines Aufnahmegerät, das permanent mitlief.
„Spreche ich vielleicht Suaheli, Sie kleines Würstchen?“
Jörn Becher war nun von der äußersten Ecke des Raumes schnellen Schrittes hinter den einzig besetzten Stuhl am Tisch gegangen.
Man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten all die Dinge ausprobiert hätte, die er in seiner Ausbildung gelernt hatte. Jetzt ein Schlagstock, dachte er bei sich. Ein Schlag mit voller Wucht auf das Schlüsselbein und die Schulter wäre für immer unbrauchbar gewesen. Oder warum nicht von der Seite mit voller Kraft in die Nieren schlagen. So einen Nierenschaden spürt man auch bis ins hohe Alter. Wenn dann jede Woche der Anruf vom Arzt kommt, der einen zur Dialyse bittet, damit das Blut von den Giftstoffen befreit wird, weil die Nieren ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Natürlich war das nur eine Auswahl an Möglichkeiten. In einem Film hatte er mal gesehen, wie das die Gangster in Sizilien angeblich machen und dort hatte er sich schon einige Inspirationen geholt, die er zu gegebener Zeit einmal ausprobieren wollte. Deshalb war er vor dem Verhör auch noch in den Aufzeichnungsraum gegangen und hatte die Videokamera für Raum 2 ausgeschaltet. Er war fest entschlossen, die Informationen, die er brauchte aus Heimi, wie er in Kollegenkreisen genannt wurde, herauszuholen, bevor der Staatsanwalt Untersuchungshaft verhängen würde und er dann für Monate, Jahre oder immer in einer Zelle verschwinden würde.
„Es ist ganz einfach: Ich zähle nun langsam von zehn runter. Innerhalb dieser Zeit schafft es ein Spaceshuttle, in den Weltraum zu starten, also werden Sie wohl auch anfangen können, zu reden. Noch einmal zur Erinnerung – ich will gar nicht viel wissen, keine Schuhgröße und kein Lieblingsessen, nur ein paar ganz einfache Informationen. Warum musste Frau Rollflügel sterben? Und wo ist dieses verdammte Band von gestern Nacht?“
Wieder herrschte absolute Stille. Keine Uhr, die tickte. Da es keine Fenster gab, fiel auch kein Sonnenlicht in den Raum, kein Vogelgezwitscher war zu hören und die kargen Betonwände gaben auch keinen Ton von sich.
Jörn hielt den Atem an. Es war viel zu still und das viel zu lange schon. Heimi hatte die Hände auf dem Rücken mit einem Kabelbinder zusammengebunden und die Füße waren mit Handschellen an den Tischbeinen angekettet.
Jörn lauschte. Es war nicht einmal das langsame Heben und Senken eines Brustkorbes zu hören, es fehlte auch das flache unterdrückte Atmen, das er noch vernommen hatte, als er hinten in der Ecke vor der Tür gestanden hatte. Es war schlicht und einfach gar nichts mehr zu hören.
„Heimi, die zehn Sekunden sind rum.“
Statt ihn mit dem Gummiknüppel zu schlagen, tippte er Heimi ganz leicht von hinten an die Schulter.
Nun war zumindest wieder etwas zu hören.
Heimi kippte wie ein Klappmesser nach vorne und schlug frontal mit dem Gesicht auf den Tisch. Dieser dumpfe Aufschlag war das einzige Geräusch. Kein Aufschrei.
Nur dieser dumpfe Ton, der so schwach war, dass es nicht einmal einen Widerhall von den Betonwänden gab.
Es herrschte wieder Schweigen. Wie die ganze Zeit.
„Scheiße, scheiße, scheiße!“
Jörn Becher schaltete das Aufnahmegerät aus und ging, ohne sich umzudrehen. Das war alles zu viel für ihn. Jetzt musste er erst einmal eine rauchen und sich einen doppelten Whisky genehmigen.
Kapitel 7
Kaleb hatte eigentlich keine Wahl, es blieb doch nur seine Wohnung, um die letzten beiden E-Mails abzufragen. Inzwischen war die Sonne schon aufgegangen und es schien wirklich ein schöner Tag zu werden, zumindest was das Wetter hier an der Ostküste der USA betraf. Wie sich das Weltklima in den nächsten Tagen entwickeln würde, konnte er beim besten Willen nicht sagen, aber irgendwie war ihm klar, dass er zumindest was das betraf, eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen würde. Da der Berufsverkehr eingesetzt hatte, musste er sich durch die nun langsam dichter werdenden Straßen wühlen. Ihm fiel ein BMW mit einer grün-metallic Lackierung mit Perleffekt auf. Auch wenn dieses Auto nie direkt hinter oder neben ihm war, sondern immer mit einigem Abstand fuhr, so geboten Kaleb sowohl Vorsicht als auch Instinkt, sich bei der nächstbesten Möglichkeit das Nummernschild zu notieren. Möglichkeiten dazu hatte er in seinem Auto genug, in der Seitentür flogen einige Zettel und ein Kugelschreiber herum, im Fußraum des Beifahrersitzes lagen noch diverse leere McDonald’s-Tüten, die er immer dort aufbewahrte, bis er sich die Zeit nahm, sie entsprechend den gegebenen Verordnungen zu entsorgen, auch das Kaugummipapier in der Mittelkonsole würde als mögliche Schreibunterlage ausreichen. Oder eben einfach der Handrücken. Es war aber gar nicht so einfach das Nummernschild zu erkennen, der BMW war zwar immer irgendwo hinter ihm zu sehen, aber es waren doch jeweils drei bis vier Autos dazwischen. Es gab eigentlich nur die Möglichkeit, in eine kaum befahrene Seitenstraße zu wechseln, dort das Nummernschild zu erhaschen und sich dann mit quietschenden Reifen aus dem Staub zu machen. Die Ampel sprang auf Gelb und intuitiv trat Kaleb das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die 180 PS mit sechs Zylindern zeigten, was in ihnen steckte und die Kreuzung lag direkt hinter ihm. Es war klar, dass zumindest der silberne Focus, der zwei Autos hinter ihm gefahren war, stehen bleiben würde und so auch der grüne BMW für die Zeit, in der die Ampel auf Rot stand, eine Ruhepause einlegen musste. Denn noch wichtiger als das Nummernschild waren die beiden noch nicht gelesenen E-Mails und derjenige, der im grünen BMW hinter ihm war, würde schon wieder auftauchen – das war sicher. Zwei Blocks von seiner Wohnung entfernt war das dreistöckige Parkhaus des Einkaufszentrums, dort stellte er sein Auto im Deck B ab, denn ihm war klar, dass er sich einen anderen Weg überlegen musste, in seine Wohnung zu kommen als durch die Vordertür zu marschieren. Am besten wäre es wohl gewesen, bei Herrn Ropp am Wohnzimmerfenster zu klopfen und dort durch den Hintereingang ins Treppenhaus zu gelangen oder, ohne dass jemand etwas mitbekommt, die Feuerleiter außen hochsteigen, um dann von dort aus in seine eigene Wohnung einzusteigen. Er ließ die Lenkradsperre einrasten und überprüfte noch einmal die Waffen in seinem Halfter und an seinem Fußgelenk, denn nun hieß es aussteigen und erst einmal den Weg bis zur Diamond Street unbeschadet zu überstehen.