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Kapitel 8
Deutschland einige Tage zuvor -
Lichtach war längst in großer Aufregung. Es war, als würde es gar kein anderes Thema mehr geben. Insgesamt waren in den letzten Tagen drei Polizisten und Frau Rollflügel gestorben. Die meisten Männer trauerten allerdings mehr um Frau Rollflügel als um die Polizisten. Denn Damaris Rollflügel war das, was landläufig als „Sexbombe“ bezeichnet wird. Es hatte wohl kaum einen Mann gegeben, der sich nicht nach ihr umgedreht hatte, wenn sie grazil über den Bürgersteig schwebte. Mancher Mann, der seine Augen nicht von ihr lassen konnte, musste sich dann eine Standpauke von seiner Ehefrau anhören, wenn die Wohnungstür ins Schloss gefallen und die Tüten vom Einkaufsbummel abgestellt waren. Aber das war nun vorbei, an die Schönheit des kleinen Ortes würde nur noch ein schlichtes Holzkreuz auf dem Friedhof erinnern. Ebenso wie an die drei gestorbenen Polizisten.
Jörn stand vor dem Revier und inhalierte den Rauch seiner Zigarette. Eigentlich musste es Suizid gewesen sein – aber wie bloß? Die Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und die Füße an das Tischbein gekettet, aber zu Beginn der Befragung hatte er noch gelebt. Es blieb nur ein langsam wirkendes Gift. Gut, dass er kein Pathologe war, allein bei der Vorstellung, in Magen und Darm nach Giftrückständen zu suchen, löste bei ihm einen Brechreiz aus. Aber was wäre, wenn sie nichts finden würden? Die Kamera des Überwachungsraums hatte er selbst noch ausgeschaltet und den zweiten Polizisten, der anfangs noch im Raum gewesen war, hatte er hinausgeschickt. „Ich werde das alleine regeln“, hatte er gesagt. Sein Stresspegel stieg immer weiter.
„Darf ich mich zu Ihnen stellen?“ Weder die Stimme noch das dazugehörige Gesicht kamen ihm bekannt vor. Er musterte mit seinen Augen sein Gegenüber. Die Schuhe waren recht stabil, keine Sportschuhe und auch keine Discotreter, eher die Sorte stabiler Wanderschuh, darüber eine dunkle Cordhose, die zusätzlich von einer massiven Gürtelschnalle zusammengehalten wurde. Der Pulli schien sehr dick zu sein und um die Schultern hing ein langer schwarzer Trenchcoat. Der Bart sowie die markant dunklen Augen, die durch die randlose Brille noch betont wurden, vervollständigten das Bild.
„Lassen Sie mich raten … Reporter.“
„Nicht so vorschnell mit den jungen Pferden. Sagen wir, ich bin jemand, der sich für viele Dinge interessiert und Antworten auf Fragen sucht, die niemand stellt.“
„Also doch Reporter.“ Jörn steckte seine Zigaretten wieder ein und wollte gehen.
„Rauchen Sie lieber noch eine mit mir, Sie können in der Sache hier ganz schön Probleme bekommen und dann sind Sie bestimmt froh jemanden zu haben, der Ihnen Antworten geben kann.“
Die Eingangstür zur Wache öffnete sich, zwei Polizisten, deren Schicht wohl gerade zu Ende war, kamen heraus und gingen langsam sich unterhaltend die Treppe hinunter.
„Okay – aber nicht hier.“
„Wo denn dann?“
„Ich wollte sowieso noch etwas trinken, lassen Sie uns vorne in die Eckkneipe gehen.“
„Guter Vorschlag, dann könnten wir unser Gespräch auch gleich auf Flugblätter drucken und in der Stadt verteilen.“
„Haben Sie eine bessere Idee?“
„Lassen Sie uns einfach ins Auto steigen und ein wenig umherfahren. Es ist mir auch egal, ob wir Ihren oder meinen Wagen nehmen.“
Noch einmal schaute Jörn sein Gegenüber durchdringend an. Er ließ den Blick auf dem langen Trenchcoat haften.
„Wissen Sie, wie viel hier in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist?“
„Ja.“
„Bevor ich mit Ihnen in ein Auto steige, öffnen Sie bitte Ihre Jacke, damit ich weiß, worauf ich mich hier einlasse!“
„Kein Thema.“
Er öffnete die Jacke. Außer dem Pulli war nichts zu sehen.
„Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Nathan Sieben.“
Jörn reichte ihm die Hand. „Jörn Becher, Kommissar in Lichtach und seit zwei Stunden vom Dienst suspendiert.“
„Ist mir bekannt, deshalb bin ich hier“
„Sie sind doch von der Presse, oder?“ Jörn hielt im Sprechen kurz inne und blickte noch einmal zu dem Fremden. Irgendwie hatte dieser schon einige Ähnlichkeit mit einem nervigen Reporter.
„Die Presse mag ich so wenig wie ein Eisbär das Ozonloch, wenn Sie verstehen, was ich meine“, sagte er, was er dachte.
„Ich arbeite so, dass nicht alle Welt davon mitbekommt und ich will auch keine Sensationsberichte, sondern nur, dass alles seine Ordnung hat.“
Herr Sieben drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter. Die Straßenlaternen gingen erst um dreiundzwanzig Uhr dreißig an, so waren die einzigen Lichter, die die Straße erhellten, die Sterne und ein wenig Licht aus den umliegenden Fenstern.
„Kommen Sie, mir wird kalt und es ist auch schon bald zweiundzwanzig Uhr, wir sollten uns auf den Weg machen.“
Jörn wusste schon gar nicht mehr, wie lange er vor dem Revier stand. Seine Zehen schmerzten vor Kälte und die Lippen begannen langsam taub zu werden.
„Sie haben mir ja noch gar nicht gesagt, wo es hingeht und das interessiert doch ein wenig.“
„Das sage ich Ihnen, wenn wir unterwegs sind – vertrauen Sie mir einfach.“
Seine Waffe hatte Jörn mit der Dienstmarke zusammen abgeben müssen, somit konnte er sich darauf schon einmal nicht mehr verlassen. Aber was gab es zu verlieren? Seit drei Jahren war er geschieden, die Unterhaltszahlungen für seine Kinder fraßen den größten Teil seines Gehalts, und da es nun so aussah, dass sein Beamtendasein mit dem schönen geregelten Einkommen auch seinem Ende zuging, war er vielleicht sogar bald gezwungen, sein Haus verkaufen, das er vor acht Jahren noch mithilfe des Bauspardarlehens komplett saniert hatte. In diesem Jahr hatte er die einfache Verglasung durch schön gerahmte Doppelglasfenster aus Holz ausgetauscht und im Wohnzimmer hatten er und seine Ex-Frau, sich eine schöne neue Couchgarnitur inklusive Kamin gegönnt. In gewisser Weise waren die Couch und der Kamin auch der Grund für die Scheidung gewesen, nicht weil sie sich diesen Luxus eigentlich nicht hätten leisten können, sondern weil seine Ex-Frau ihn dort in flagranti mit seiner Kollegin erwischt hatte. Da hatte auch die Ausrede, dass sie vor der Haustür von einem plötzlichen Platzregen erwischt worden seien und ihre Kleider nur ausgezogen hätten, weil sie sonst erfroren wären, nicht geholfen. Eine Woche später war der Brief vom Anwalt mit der Scheidungsklage da gewesen. Vor einigen Tagen, als er schon einmal über seine Lebenssituation nachgedacht hatte, war er schon kurz davor gewesen, sein Leben wie Private Paula in dem Film „Full Metal Jacket“ zu beenden, aber dafür war sein Lebenswille doch zu stark gewesen und außerdem besaß er keine Pumpgun.
Aber jetzt, wenn er auch noch sein Haus verkaufen und seinen Job als Polizist an den Nagel hängen müsste, dann wäre das Maß mehr als voll. Dann wäre Schluss.
„Ich komme mit.“
Nathan Sieben blieb fünf Meter vor ihm stehen. „Dann auf, bewegen Sie Ihren Allerwertesten, oder muss ich Sie holen kommen?“
Schweigend gingen sie nebeneinander her.
„Sie haben einen guten Geschmack“, sagte Jörn, als Nathan eine Straße weiter auf den elektronischen Türöffner seines Schlüsselbundes drückte.
„Ist ein Dienstwagen.“
„Wo muss ich mich bewerben, damit ich als Dienstwagen einen so schönen Audi bekomme? Der auch noch so aussieht, als würden unter der Haube mehr PS stecken, als es von außen den Anschein macht. “
„BND.“
Jörn zog beide Augenbrauen hoch. Er wusste noch nicht, was hier gespielt wurde, aber hier lief irgendetwas richtig Großes. Dinge, in die man sich besser nicht einmischte oder, falls es gar nicht anders ging, so schnell wie möglich versuchte, wieder herauszukommen. Aber jetzt stieg er erst mal ein.
Kapitel 9
Wirren der Vergangenheit
Roter Platz in Moskau, 4. September 1989.
Einige Blätter aus einer Zeitung wurden vom Wind durch die Luft geweht. Es war wie im Leben, manchmal gab es einen kräftigen Windstoß von der Seite und die Blätter schlugen eine ganz neue Richtung ein. Es waren nur wenige Leute da, die dem Treiben der Blätter zuschauten, obwohl es noch das Interessanteste war, was an diesem Morgen auf dem Roten Platz passierte.
Den meisten war es ohnehin egal, ob hier Blätter hin und her flogen oder nicht, sie hielten den Kopf gesenkt und wer einen Schal dabei hatte, hielt ihn schützend vor Mund und Nase. Gemütlicher war es da schon im Café Kathinka an der Ostseite des Platzes. Die komplette Front bestand aus Doppelverglasung und im Sommer konnte man im Freien Kaffee oder Cappuccino trinken. Aber auch jetzt in der kalten Jahreszeit waren viele Gäste gekommen, um sich mit Freunden zu treffen und einen schönen Nachmittag zu verbringen. Das Ambiente war zwar sehr schlicht und die meisten Stühle knarrten verdächtig, aber im Laufe der Jahre hatte sich ein eigenes gemütliches Flair entwickelt. Die Wanduhr zeigte sechzehn Uhr dreißig, das Kuchenbuffet hatte sich bereits geleert und viele ihren Kaffee schon getrunken.
Er war aber nicht in Hektik zu bringen. Er saß nun seit über drei Stunden hier, las seine Zeitung und trank Kaffee oder Tee. Er wird schon kommen, dachte er sich.
Kapitel 10
Kaleb sah sich um, ob ihm etwas Verdächtiges auffallen würde. Im Parkdeck C füllten sich immer mehr Plätze, da das Parkhaus sehr günstig lag und viele Leute, die in der Innenstadt arbeiteten, hier ihr Auto abstellten. Der Eingang zum Treppenhaus und der Fahrstuhl lagen direkt nebeneinander. Eine weitere Möglichkeit, entweder auf das Dach oder in das Erdgeschoss zu gelangen war über die Feuerleiter an der Stirnseite. Kaleb nahm seine Jacke und legte sie auf den Rücksitz. Er hätte gerne auch noch seinen Pulli ausgezogen, da es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne die Luft auf schwüle fünfunddreißig Grad erhitzt hätte, aber wenn jeder direkt sähe, dass er ein Schulterhalfter mit einer Waffe trug, wäre das nicht gerade vorteilhaft gewesen. Dann hätte er sich genauso gut direkt ein Schild mit der Aufschrift „Polizist oder Gangster – wählen Sie selbst“ um den Hals hängen können. Da nahm er doch lieber in Kauf zu schwitzen.
„Hast du schon die Acht-Uhr-Nachrichten gehört?“
Kaleb drehte sich langsam um. Hinter ihm gingen zwei sich angeregt unterhaltenden Frauen vorbei. Leider bekam er nicht mehr mit, was in den Nachrichten gemeldet wurde, da das Gesprächsthema nahtlos von den Nachrichten auf das blau geblümte Kleid der Frau überging, die sich gerade bemühte, ihr Kind aus dem Kindersitz ihres Autos in den bereitstehenden Kinderwagen zu setzen. Im gleichen Moment fiel der Lichtkegel eines Autos, das die Auffahrt hochfuhr, auf die karge Betonwand vor ihm. Seine Gedanken sprangen zurück zu den Möglichkeiten, die sich ihm boten, das Parkdeck zu verlassen.
Die Frau mit dem blauen Kleid schob nun den Kinderwagen mit dem schreienden Baby an ihm vorbei. Wirklich ein hübsches Kleid, dachte sich Kaleb. Die Spaghettiträger waren auf den gebräunten Schultern kaum zu sehen und das Kleid ging nur bis kurz über die Knie.
Er stocherte mit dem Schlüssel in seinem Fahrerschloss herum. Seit Wochen hakte nun schon das Türschloss, sodass er Probleme hatte, die Tür auf- und zuzuschließen. Wenn er sich nicht bald darum kümmerte, käme der Tag, an dem der Schlüssel abbrechen und im Schloss stecken bleiben würde. Das wäre wesentlich ärgerlicher und auch teurer, als nur das Schloss austauschen zu lassen. Endlich machte es leise klack und die Tür war verschlossen. Wie erwartet, hatte die Frau sich für den Fahrstuhl entschieden, um in eines der unteren Stockwerke zu gelangen. Zum Glück waren Frau und Kinderwagen nicht das schnellste Gespann, sodass er mit ihnen in den Fahrstuhl steigen konnte. Es war schwer einzuschätzen, aber er hatte das Gefühl, dass die Frau besonders langsam machte, vielleicht, damit er mit ihr in den Fahrstuhl kommen konnte. Oder war es nur das Kleid, das ihn fast schon magisch anzog?
Höchstens zweieinhalb Quadratmeter, mehr Platz bot der Fahrstuhl nicht, in dem er sich nur Sekunden später befand.
Viel Zeit für ein Gespräch hatte er nicht, da die Lampe des ersten Stocks leuchtete und dies darauf hinwies, dass Kleid, Frau und Kinderwagen ihn dort wieder verlassen würden.
„Wirklich interessant, was in der Welt so passiert.“
„Ich finde es nicht wirklich interessant, sondern eher merkwürdig, dass zwei Minister am selben Tag Selbstmord begangen haben sollen.“
Das war wirklich interessant.
Die Frau bückte sich nach vorne und schob dem quengelnden Kind den Schnuller in den noch zahnlosen Mund zurück. Dabei wurden die bisher so gekonnt vom Kleid verdeckten Kurven sichtbar. Die Frau trug zu Recht ein hübsches Kleid.
Es war so weit, der Fahrstuhl drosselte seine Geschwindigkeit und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sich die Türen zum ersten Stock öffneten. Geräuschlos schob sich die silberne Fahrstuhltür nach links in den dafür vorgesehenen Spalt.
„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“
Mit Kinderwagen voraus, schritten die Frau und das hübsche blaue Kleid mit Mohnblumen wieder aus seinem Leben. Wie lange blieb so eine Tür wohl offen? Drei, vier oder gar fünf Sekunden? Auf alle Fälle lange genug, um in seinem Blickfeld wahrzunehmen, was dort passierte. Die Frau, deren Namen er nicht wusste, die sich aber gerade von ihm verabschiedet hatte, ging nach rechts – genau dorthin, von wo der langsam fahrende grüne BMW heranfuhr. Kaleb machte einen Satz in die rechte Ecke des Fahrstuhls, in der Hoffnung, dass die Tür zuging, bevor – wer auch immer – einen Blick in den Fahrstuhl werfen konnte. In der sich schließenden Tür spiegelte sich auf dem glänzend polierten Silber die Frau mit dem Kinderwagen. Sie war anscheinend von dem BMW-Fahrer angehalten worden und zeigte nun mit dem linken Arm in seine Richtung.
Hier entwickelte sich gerade ein Katz-und-Maus-Spiel der ganz besonderen Art. Im Moment war Kaleb die Maus und saß in einer fahrenden Mausefalle. Bevor die Rollen getauscht würden, galt es, sich eine Zeitung zu besorgen und endlich den Inhalt der letzten beiden Mails zu erfahren.
Eine Maus entkommt der Katze nur, wenn sie entweder nicht aus dem Loch kommt oder Wege geht, die die Katze nicht kennt. Für ihn galt beides, er musste aus dem Loch hier raus und Wege gehen, die er bisher so nicht geplant hatte.
Die Decke des Fahrstuhls bestand aus locker aufgelegten, schwarz eingefärbten Gipsplatten. Es war ein Leichtes, sie zur Seite zu schieben und sich an der Fahrstuhlwand abgestützt auf dessen Dach hoch zu schwingen, während die Fahrstuhltür wieder zurückglitt und der Aufzug sich in Bewegung setzte.
Alle Fahrstühle sind nach dem gleichen Prinzip gebaut, während der Fahrstuhl nach oben oder unten fährt, bewegt sich mit gleicher Geschwindigkeit ein Stahlseil mit Gegengewicht in die andere Richtung. Mit einem kurzen Ruck stoppte der Fahrstuhl im Erdgeschoss. Kaleb kniete auf dem Dach und ein gleitendes Geräusch zeigte ihm, dass die Tür sich öffnete. Stimmen waren keine zu hören, sondern nur die Schritte einer einzelnen Person. Gerne hätte Kaleb gewusst, ob es der Fahrer des BMW war, aber es war zu gefährlich, die Deckenplatten zur Seite zu schieben und zu schauen. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Aber es war nur eine kurze Reise, denn nach einem Stockwerk war schon wieder Schluss. Die Tür öffnete sich und wieder hörte Kaleb nur einzelne Schritte, die in die Ebene des zweiten Stockes traten, ohne dass eine andere Person den Fahrstuhl betrat. Kaleb schob die Gipsplatte zur Seite und ließ sich genauso geschmeidig wieder nach unten gleiten, wie er sich zuvor auf dessen Dach geschwungen hatte. Wenn er dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden oder gar vom Gejagten zum Jäger werden wollte, musste er hier raus. Das Parkhaus hatte drei Stockwerke. Den BMW hatte er im ersten Stock gesehen und sein Auto stand auf Deck C. In solchen Situation half Kaleb nur eins und das war der Bauch. Der sagte ihm, er solle zum Auto zurück. Die kleine Handfeuerwaffe aus dem Halfter am Fuß ließ sich am besten unauffällig in die Hosentasche stecken. Er ging vor der Fahrstuhltür in die Hocke um im Fall der Fälle nicht mit der ganzen Körpergröße als Zielscheibe zu dienen. Wieder schob sich die Tür zur Seite auf und gab langsam den Blick auf das Parkdeck C frei. Es war nichts zu sehen oder zu hören. Entweder war sein Auto schon entdeckt worden oder es konnte nicht mehr lange dauern. Möglichkeiten, Deckung zu suchen, bot das Parkdeck genügend. Jedes der parkenden Autos oder auch die Betonpfeiler, die das Dach des Parkhauses trugen, waren Möglichkeiten, Schutz zu finden. Zwei Parkplätze von seinem Auto entfernt war einer dieser Pfeiler. Er bot ausreichend Schutz und einen freien Blick auf das Coupé. Minute um Minute verstrich, ohne dass etwas passierte. Sogar der Fahrstuhl blieb mit geschlossener Tür stehen und die Anzeige in der Wand zeigte an, dass dieser noch nicht nach unten bestellt worden war. Die Tür zum Treppenhaus konnte er von hier aus auch beobachten, sie war höchstens fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Vielleicht war derjenige, der ihn verfolgte ja schon am Auto gewesen, aber er konnte nichts sehen. Wenn er ein Profi war, dann war ein Peilsender oder eine kleine Sprengladung auch nicht am Nummernschild oder der Antenne befestigt worden, sondern so, dass sie nur bei genauerer Untersuchung gefunden werden konnten. Er wendete seinen Blick wieder vom Auto zum Fahrstuhl und auf die Tür des Treppenhauses. Die Tür befand sich immer noch im Dornröschenschlaf, aber die Anzeige des Fahrstuhls stand nicht mehr auf drei, sondern blinkte auf der zweiten Etage. Kaleb hatte die Waffe ruhig in der Hand und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die beiden einzigen Zugangsmöglichkeiten zum Parkdeck.
Kapitel 11
Die Vergangenheit nimmt ihren Lauf
Roter Platz in Moskau, 4. September 1989, 17:22 Uhr.
„Darf ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?“
Die Stimme des Obers hatte einen sehr ruhigen Klang.
„Nein danke.“
Er hatte schon so viel Kaffee getrunken, dass sein rechtes Augenlied bereits angefangen hatte, zu zucken.
Das normale Verhalten des Obers wäre es wohl gewesen, auf dem Absatz umzukehren und wieder in die Küche zu gehen. Aber er schien wie vom Blitz getroffen zu sein. Er stand einfach nur da. Seine Lackschuhe waren schon ein wenig abgetragen, aber für einen Ober in Russland sehr schick. Seine schwarze Hose schien maßgefertigt zu sein.
Der Ober hatte ihn schon die ganze Zeit bedient. Allerdings stand er nun zum ersten Mal mit einer Hand in der Hosentasche vor ihm und bewegte sich nicht.
Nun war auch klar, weshalb er eine ordentliche Hose aus einem ordentlichen Stoff mit einem guten Schnitt trug. Diese Hosentaschen boten mehr Platz.
Es war auch sicher, dass der Mann nicht mit dem Finger auf ihn zeigte.
Der Wind wehte immer noch die Blätter über den Roten Platz und nun waren auch die Leute unterwegs, die morgens oder nachmittags noch hatten arbeiten müssen.
Es war bedeutend mehr los als noch vor einigen Stunden. Es sah fast so aus, als ob sich halb Moskau auf den Beinen befand.
In einer Ecke trafen sich die ersten Jugendlichen, die abends dort die Zeit totschlugen und wenn sie sie nicht einfach nur mit Nichtstun vergeudeten, dann pöbelten sie vorbeikommende Passanten an.
Der Ober sah Kaleb weiter an.
Das weiße Hemd ließ erahnen, dass er vermutlich ziemlich durchtrainiert war.
„Naja, wenn Sie darauf bestehen, trinke ich doch noch einen Kaffee und Sie können mir dann auch noch ein Stückchen von dem Kirschkuchen bringen, der war sehr lecker!“
Der Ober reagierte nicht.
Die Wanduhr im Café Kathinka sprang auf siebzehn Uhr zweiundzwanzig.
Hinter der Theke stand noch eine weitere Bedienung. Eigentlich hatte er die ganze Zeit darauf gehofft, dass er von ihr bedient werden würde. Denn ihre langen roten Haare leuchteten wie Feuer und außerdem hatte sie eine tolle Figur.
„Sehen Sie, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt, bekommt man auch wieder Hunger – ich werde Ihnen zu dem Kaffee und dem Kuchen auch noch eine neue Serviette bringen.“
Die Jungs auf dem Roten Platz wurden immer mehr. Bei den Ersten schien sich auch schon der billige Wodka im Blut bemerkbar zu machen. Aber was sollten sie auch tun? Ihr Leben war bedauernswert. Viele wohnten in hässlichen, kleinen Wohnungen und hatten oft kein eigenes Zimmer. Die Wände der Häuser waren dünn und man hörte immer wieder Dinge, die man eigentlich nicht hören wollte.
Und ihr Blick in die Zukunft sah genauso grau aus wie die ungestrichenen Betonwände der Wohnungen, in denen sie lebten. Also halfen der Wodka oder auch der Klebstoff, das Elend zumindest ein wenig zu verdrängen.
Allein wegen diesen Jungs musste der Deal über die Bühne gehen.
Denen, die da draußen mit ihrer Wodkaflasche saßen, war mit Sicherheit nicht klar, dass keine hundert Meter von ihnen entfernt die Weichen für ihre Zukunft gestellt wurden.
„Hier, Ihr Kaffee und der Kirschkuchen.“
Der Ober nahm das benutzte Service und stellte es auf sein braunes Tablett.
„Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Moskau hat Ihnen gefallen und Sie müssen uns für lange Zeit nicht mehr besuchen kommen.“
Während er dies sagte, legte er die Serviette neben den Teller.
Kaleb nahm einen Schluck von dem frischen Kaffee und fuhr sich anschließend mit der Serviette über den Mund. Die Serviette war wesentlich fester als die, die er zuvor gehabt hatte. Es fühlte sich an wie ein kleiner Umschlag, der zwischen den dünnen roten Blättern lag.
Die beiden Männer schauten sich eine Zeit lang in die Augen.
Die rechte Hand des Obers war wieder in seiner Hosentasche verschwunden. Aber keiner ließ mit seinem Blick von dem anderen ab.
„Wenn alles in Ordnung ist, dann können Sie bestimmt bald in Berlin oder Hamburg Ihr eigenes Lokal aufmachen.“
Kaleb holte aus seiner Geldbörse fünfzig Rubel. Das war mehr, als er vertrunken oder gegessen hatte.
Hoffentlich geht das hier gut, dachte er sich.
Noch einmal schaute er in das markante Gesicht des Obers. Dann verließ er das Café und würde es vielleicht auch nie wieder betreten.
Kapitel 12
Kaleb schaute immer noch auf die blinkende Anzeige des Fahrstuhls. Jetzt musste er sich entscheiden. Es galt, in die Offensive zu gehen. Das Treppenhaus war einfach zu riskant. Dort konnte sich jederzeit jemand hinter einer der Türen zu den Parkdecks verstecken.
Noch einmal schaute er sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Selbst Vögel waren keine unterwegs. Denen war es vermutlich auch schon zu heiß und sie hielten sich lieber in den Wipfeln und Ästen vom Bäumen auf anstatt auf einem Parkdeck.
Mit einem kurzen Sprint gelangte er zu seinem Auto, wo er einen kleinen Spiegel neben den linken Hinterreifen legte. Wenn alles passte, müsste dieser ihm einen Blick in den Fahrstuhl gewähren, sobald der sich öffnete. Von seinem Auto aus waren es dann nur noch wenige Meter bis zum nächsten Betonpfeiler. Von hier aus konnte er auf den Spiegel schauen. Außerdem war der Pfeiler nah an der Feuerleiter und er konnte das Parkhaus an der Nordseite verlassen oder gegebenenfalls auf das Dach flüchten.
Die Sekunden verstrichen. Das Blinken der Anzeige im zweiten Stock hatte aufgehört und es leuchtet nun die Anzeige von Parkdeck C.
Kein Windhauch, kein Vogel, der zwitscherte, keine Sirene und keine Stimmen waren zu hören, nur das metallene Geräusch der sich öffnenden Fahrstuhltür.
Wenn es jemand eilig gehabt hätte, wäre er längst herausgetreten. Aber es war nichts zu sehen und auch nichts zu hören.
Die Fahrstuhltür blieb offen. Dort handelte jemand auf alle Fälle überlegt und nicht überhastet. Der Spiegel zeigte den Innenraum, dort war nichts zu sehen. Aber wieso blieb dann die Tür offen?
War es möglich, dass jemand in so kurzer Zeit etwas an der Elektronik manipuliert hatte? Ausschließen konnte er das nicht.
Kalebs Blick blieb fest auf dem Spiegel, da es fast unmöglich war, dass sich nichts tun würde. Aber die Sekunden verstrichen weiter und nichts passierte.