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So viel Kaltschnäuzigkeit schockierte Ekinci. Die nächsten Stationen ihrer Hausbegehung absolvierten sie einsilbig. Der Oberkommissar deutete auf die geöffneten Schubladen, und Cornelia Fecht kontrollierte, ob etwas fehlte. Meist mit negativem Resultat. Nur bei einer Kommode im Esszimmer war sie unsicher. »Ich meine, hier hätte Carstens altes Handy gelegen«, sagte sie. »Vielleicht hat er es selber wieder an sich genommen. Oder aber wir haben es bei einer Sammelaktion abgegeben. Manchmal werden ja Handys gesammelt, bei denen die Notruffunktion noch geht.«
Mehr gab das Erdgeschoss nicht her, so weiträumig es auch war. Carsten Fechts Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock. Die Treppe war ungewöhnlich breit und komfortabel geschnitten. Solche Details deuteten auf altes Geld hin, dachte Ekinci, nicht auf einen roten Emporkömmling. Hatte Carsten Fecht das Geld geheiratet?
Im Arbeitszimmer ihres Mannes blieb Cornelia Fecht abrupt stehen. »Da stand sein Laptop, wenn er zu Hause gearbeitet hat«, sagte sie und deutete auf die leere Mitte einer Arbeitsplatte aus Edelholz. »Und da war die externe Festplatte. Beides weg. Schauen Sie, da sind noch Abdrücke von den Gummifüßchen.«
Einen klassischen PC gab es in diesem Raum nicht, auch kein Tablet. Gespeicherte Dateien konnten sich also nur auf dem Laptop oder der Festplatte befunden haben. »Ihr Mann hat in der Presse verkündet, er verfüge noch über viel belastendes Material«, sagte Ekinci. »Vielleicht hätte er das besser lassen sollen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht«, sagte Cornelia Fecht. »Mir erspart das einiges an Stress. So eine Scheidung zieht sich ja oft ganz schön hin.«
»Sie haben also die Scheidung eingereicht«, konstatierte Ekinci.
»Klar, was denken Sie denn? Ich wusste zwar, dass Carsten schon immer Ambitionen hatte, den Bezirksbeschäler zu spielen. Wenn ich ehrlich bin, haben wir uns genau deswegen überhaupt kennengelernt. Fand ich ja auch ganz reizvoll. Aber ich habe mir ernsthaft eingebildet, nach unserer Heirat hätte ich ihn an die Kette gelegt. Von kleinen Seitensprüngen mal abgesehen; so was passiert immer mal, da bin ich auch gar nicht so. Aber als ich erfuhr, dass er mich in diesem Ausmaß und dauerhaft betrogen hat, all die Jahre, immer wieder, da hatte ich dann doch genug. Schlagartig.«
»Haben Sie seinerzeit Vermögen mit in die Ehe gebracht?«, fragte Ekinci.
»Aber hallo! Erbteil meines Vaters, der kurz vorher verstorben war. Nicht gerade wenig. Für das Haus hier hat’s jedenfalls gereicht. Meine Mutter lebt noch, aber es geht ihr ziemlich schlecht. Meine Schwester und ich sind so oft es geht bei ihr, in Westerstede. Abwechselnd. Wir haben natürlich Pflege gebucht, zweimal täglich, aber Familie ist eben auch wichtig.«
Das war auch einer von Nidal Ekincis Lebensgrundsätzen. In diesem kalten Ton ausgesprochen, ließen ihn die Worte jedoch erbeben.
»Haben Sie einen Ehevertrag?«, fragte er.
Cornelia Fecht schüttelte den Kopf. »Hielt ich damals nicht für nötig. Das hätte vorm Scheidungsrichter durchaus zu Stress führen können! Mein Vater starb nämlich kurz vor unserer Hochzeit, ausgezahlt wurde mein Erbteil aber erst nachher. Vermögen oder gemeinschaftlicher Zugewinn, das wäre die Frage gewesen! Aber dieser Streit findet ja jetzt nicht mehr statt.«
Hatte ihm die Frau gerade ein Motiv geliefert, kostenlos und frei Haus? Zusammen mit dem vielfachen ehelichen Betrug durch ihren Gatten konnte das allemal reichen, fand Nidal Ekinci. Das Auftreten der Dame des Hauses war natürlich allzu nassforsch und freimütig, als dass sie etwas zu verbergen haben könnte. Aber das mochte Absicht sein.
Die Inspektion der weiteren Zimmer im Obergeschoss inklusive Gästewohnung brachte keine weiteren Erkenntnisse. »Alles da, mein Schmuck, die Bilder, die Heimkinoanlage, das Soundsystem und all das andere Zeug«, fasste Frau Fecht zusammen. »Nur Carstens Kram fehlt. Na ja, passt ins Bild. Der Täter war ja auch seinetwegen hier.« Sie verschränkte die Arme und starrte den Oberkommissar herausfordernd an: »Kann ich mich dann jetzt wieder meiner kranken Mutter widmen? Meine Schwester ist erst morgen wieder dran.«
»Nach den Hausschlüsseln wollte ich Sie noch fragen«, sagte Nidal Ekinci. »Wissen Sie, wie viele davon es insgesamt gibt?«
»Keine Ahnung.« Cornelia Fecht schüttelte den Kopf. »Um solche Sachen hat sich allein Carsten gekümmert. Ganz bestimmt hat er auch seinem jeweiligen Betthäschen einen Schlüssel gegeben. Was meinen Sie, wie oft ich schon nach Hause gekommen bin und hinten stand die Terrassentür offen! Carsten hat dann behauptet, das wäre die Putze gewesen, die hätte die Tür nicht zugemacht. Ist aber natürlich Quatsch. So leichtsinnig ist die nicht.«
»Apropos leichtsinnig«, sagte Ekinci, während sie die Treppe hinunter gingen. »Warum gibt es hier eigentlich keine elektronischen Sicherungsmaßnahmen? Keine Alarmanlage, keine Kameras … Ich meine, das hier ist doch ein wertvolles Objekt, da gibt es einiges zu holen! Etwas mehr Security wäre doch angebracht gewesen.«
Cornelia Fecht lachte wieder ihr eisiges Lachen. »Warum? Weil Carsten strikt dagegen war«, sagte sie. »Und wenn Sie mal ein bisschen nachdenken, dann kommen Sie auch darauf, warum. Na? Warum sollte wohl solch ein Hengst wie er Sicherungen gegen unbefugtes Eindringen anbringen lassen, wenn er selber doch nichts anderes im Kopf hatte als genau das? Nämlich unbefugtes Eindringen!«
Gewöhnlich sah man es kaum, wenn Nidal Ekinci errötete. Diesmal war das anders, das konnte er an Cornelia Fechts hämischem Grinsen deutlich ablesen.
6.
»Feeken«, wiederholte Kramer. Langsam und deutlich. »Mareike Feeken.«
»Also nicht Ficken.« Die dralle Dame am Empfang guckte auf ihren Bildschirm. »Und wo soll die nochmal arbeiten?«
»In der Redaktion«, sagte Kramer geduldig. Zum dritten Mal schon. »Mareike Feeken, Lokalredaktion.«
»Ach so, Redaktion.« Dem Tonfall der drallen, rotgesichtigen Dame nach zu urteilen, musste die Redaktion so ziemlich das Unwichtigste an einer Lokalzeitung sein. Das mochte daran liegen, dass die Haupttätigkeit dieser Mitarbeiterin der Ostfriesen-Post im Eintippen von Kleinanzeigen bestand. Den Empfang machte sie nur nebenbei. Personelle Sparmaßnahmen; immerhin war Feiertag. Die Leser aber erwarteten am nächsten Morgen natürlich trotzdem ein angemessen gefülltes Blatt. Vor allem die, die immer lautstark gegen Feiertagsarbeit wetterten.
»Ach, hier.« Endlich hatte die Frau den Namen auf ihrer Liste gefunden. »Feeken heißt die, nicht Ficken. Mareike.« Sie bearbeitete das Tastenfeld ihres Tischtelefons. »In der Redaktion haben wir ja immer so viel Wechsel, kaum kennt man jemanden, ist er auch schon wieder weg. Welche Lokalredaktion sagten Sie noch? Leer?«
»Leer, genau. Mareike Feeken, Lokalredaktion Leer.« Oberkommissar Kramer blieb immer höflich. Jetzt gerade fiel das sogar ihm auf. Immerhin stand er hier im Zentralgebäude der Ostfriesen-Post, das sich in Logabirum befand, und Logabirum war ein Stadtteil von Leer.
»Jaaa, Beate, hier ist Tomke, Anzeigen. Moin! Alles gut bei dir? Nee? Ach, ist dein Rasen auch so gelb? Meiner auch! Hat ja zwei Wochen schon nicht geregnet, nee, bei mir auch nicht, jo, ist echt verloren!« Die grelle Stimme der drallen Dame schallte durch den weitläufigen und ansonsten menschenleeren Anzeigen- und Empfangsbereich. Kramer bezweifelte, dass sie zur hausinternen Kommunikation überhaupt ein Telefon benötigte. Und dass er noch lange seine Stoikerfassade aufrechterhalten konnte, das bezweifelte er auch.
»Was? Weswegen ich anrufe? Ach so, ja. Hier steht so ein Mann, der will zu Frau Ficken. Von der Redaktion. Ja, hat er gesagt.« Die dralle Dame schaute Kramer aus starren Augen an. »Was? Habt Ihr keine? Mareike, dachte ich.«
Oberkommissar Kramer ertrug den Blick, indem er tief und beherrscht atmete.
»Wie? Ach so. Ja, Moment.« Die dralle Dame mit dem roten Gesicht deckte mit der Hand die Sprechmuschel ab und rief in abermals erhöhter Lautstärke: »Sie heißt nicht Ficken! Sie wollen vermutlich zu Mareike Feeken, oder?«
»Mareike Feeken. Wie ich schon sagte.« Kramers Stimme klang eine Nuance schärfer als zuvor.
»Na, nun regen Sie sich mal nicht gleich auf! Sie wollen schließlich was von mir, oder?« Der knallrot geschminkte Mund der drallen Dame hatte sich vor Empörung gerundet. »Und was kann ich wohl dafür, wenn Sie sich keinen Namen merken können! Wie heißen Sie denn überhaupt?«
Oberkommissar Kramer, der sich natürlich vorgestellt hatte, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn ihr unter die Nase. Die brauchte einen Moment, um die Aufschrift zu entziffern. »Polizei?«, stieß sie dann hervor. Und gleich noch einmal: »Polizei!«
Sie ließ den Telefonhörer sinken. Eine angsterfüllte Stimme war quäkend zu hören, offenbar Beate aus der Redaktion: »Oh Gott, Tomke, was ist los? Wirst du gerade überfallen? Soll ich die Polizei holen?«
Aus dem Hintergrund huschte eine Gestalt heran. Ehe Kramer reagieren konnte, nahm sie der drallen Dame den Hörer aus der Hand und hob ihn ans eigene Gesicht: »Hallo, Beate, Mareike hier. Alles ist gut! Tomke ist nur ein bisschen überfordert vom Multitasking.« Sie legte auf und lächelte Kramer an: »Ich bin Mareike Feeken. Sie wollten zu mir?«
»Kramer, Kripo Leer-Emden, Fachkommissariat eins«, stellte der Oberkommissar sich vor. Er hatte die Journalistin sofort erkannt; es war noch nicht lange her, dass sie als Neuzugang im eigenen Blatt mit Foto vorgestellt worden war. Ihr langes dunkelblondes Haar trug sie heute allerdings nicht offen, sondern zum Pferdeschwanz gebunden. Und sie war größer, als Kramer erwartet hatte. Annähernd so groß wie er.
Außerdem sah sie, anders als auf dem Foto, ziemlich gestresst aus.
»Die Redaktion ist total unterbesetzt«, sagte sie, nachdem sie mit ihrem Besucher die Eingangshalle verlassen und ihn in ein unbesetztes Büro geführt hatte. »Nicht nur an Feiertagen wie heute, das wäre noch normal, dafür wird auch so viel wie möglich vorproduziert. Unsere Personaldecke ist aber generell viel zu dünn. Und es wird immer weiter gekürzt.«
»Wie ich hörte, musste der letzte Chefredakteur gehen, weil er keine weiteren Kürzungen akzeptieren wollte«, warf Kramer ein.
Mareike Feeken lächelte verlegen. »Dazu kann ich gar nichts sagen. Nein, wirklich, davon weiß ich nichts, das war vor meiner Zeit. Ich habe ja quasi zeitgleich mit dem aktuellen Chefredakteur hier angefangen.«
Eine Meinung dazu hat sie bestimmt, dachte Kramer, aber sie traut sich nicht. Gute Vorgesetzte schätzten es, wenn Mitarbeiter ihre eigenen Ansichten entwickelten. Schlechte Chefs kannten nur die ihren. Arme Frau Feeken! In dieser Hinsicht durfte Kramer sich glücklich schätzen.
Aber deswegen war er nicht hier. »Es geht um den Mord an Carsten Fecht«, sagte er.
Die junge Redakteurin nickte. »Steht schon in unserer Online-Ausgabe. Jedenfalls die bisher bekannten Fakten. Können Sie mir denn schon weitere Details erzählen?«
Kramers Pokerface war wieder einsatzbereit. »Sie missverstehen den Grund meines Hierseins. Ich habe Fragen, keine Informationen.«
Mareike Feeken grinste schelmisch. »Weiß ich doch. Aber man kann es mal versuchen, nicht?«
Das konnte Kramer ihr nicht verübeln, trotzdem ging er nicht darauf ein. »Ein Zeuge berichtete uns, Sie hätten neue Chatprotokolle von Carsten Fecht vorliegen«, sagte er. »Sie sollen Informationen enthalten, die weitere Lokalpolitiker und andere Personen in Misskredit bringen könnten. Diese Dateien brauchen wir.«
Mareike Feeken lächelte das erwartungsvolle Lächeln, das Journalisten gerne aufsetzen, um ihre Gesprächspartner zum Weiterreden zu animieren. Lernte man das in der Ausbildung? Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, dass Kramer schon ausgeredet hatte. Dann verschwand das Lächeln wie weggewischt.
»Sie wollen Dokumente von mir, die ich von einem Informanten erhalten habe?«, vergewisserte sich die Redakteurin. »Aber Sie wissen schon, dass so etwas unter Quellenschutz fällt?«
»Ich ermittle in einem Mordfall«, sagte Kramer ungerührt. »Ein Verbrechen gegen das Leben ist das eindeutig höhere Rechtsgut. Außerdem hatten Sie ohnehin vor, das Material zu veröffentlichen. Darüber habe ich ebenfalls eine Zeugenaussage.«
Die junge Frau schien beeindruckt, aber noch lange nicht willens, klein beizugeben. »Dazu müsste ich zuerst die Einwilligung meines Chefredakteurs einholen«, bezog sie ihre nächste Verteidigungslinie. »Und der hat leider keinen Feiertagsdienst. Ich müsste also zunächst einmal herausfinden, wo ich ihn erreichen kann, und das wird sicher etwas dauern.«
»Bedaure«, erwiderte Kramer. »Verzögerungen würden eine Mordermittlung behindern. Das darf ich leider nicht zulassen.«
Mareike Feeken schüttelte energisch den Kopf. »Ohne eine solche Rückversicherung händige ich Ihnen das Material ganz bestimmt nicht aus«, beharrte sie. »Und schon gar nicht ohne eine richterliche Anordnung!« Ihre triumphierende Miene deutete an, dass ihr diese letzte Rückzugsposition gerade eben noch eingefallen war. Dies war ihr Burgfried, hier würde sie sich behaupten, bis Entsatz kam!
Kramers Lächeln war so dünn, dass nur Eingeweihte es wahrnehmen konnten. Sie kennt mich noch nicht, dachte er, also lasse ich sie auch nicht allzu lange zappeln. Beim nächsten Mal weiß sie dann Bescheid.
Der Oberkommissar zog die richterliche Verfügung aus der Innentasche seines Sakkos und entfaltete sie, sodass Unterschrift und Dienstsiegel gut zu erkennen waren. »Wenn ich dann bitten dürfte?«, fragte er mit untadeliger Höflichkeit.
Eine Sekunde lag saß Mareike Feeken wie erstarrt, das Gesicht ausdruckslos. Dann kehrte das Leben in ihre Miene zurück. Ein schalkhaftes Grinsen ließ winzige Fältchen in ihren Augenwinkel erscheinen. »Und wenn nicht?«, fragte sie. »Wartet für diesen Fall draußen schon das Rollkommando?«
Kramers Pokerface hielt auch diesem Frontalangriff stand. Als stünden draußen tatsächlich zwei vollbesetzte Mannschaftswagen bereit.
»Also gut.« Die Journalistin schlug ihre Handflächen auf die Oberschenkel und sprang auf. »Ich hab’s versucht. Folgen Sie mir bitte.«
Sie eilte voraus, steuerte einen weiß gestrichenen Gang an, von dem offene Türen rechts und links Einblicke in verlassene Redaktionsstuben gestatteten und in dem es intensiv nach staubigem Papier roch, aller Digitalisierung zum Trotz. Sie betrat das letzte Büro links und warf sich in den Drehstuhl vor dem PC. Ohne hinzuschauen, öffnete sie eine flache Schublade und entnahm ihr einen USB-Stick, den sie schwungvoll auf den nahezu leeren Schreibtisch warf. Es schlitterte über die Platte, und Kramer kam gerade noch zurecht, um das winzige Ding aufzufangen.
»Das ist alles?«, fragte er.
Sie starrte ihn herausfordernd an. »Ja, das ist alles. Sämtliches Material, das ich von und über Carsten Fecht bekommen habe, befindet sich auf diesem Stick. Glauben Sie mir.«
Tja, dachte Kramer, glaube ich ihr? Die Ostfriesen-Post hatte sich unter der neuen Leitung stark verändert, vom etwas behäbigen, aber seriösen Chronistenblatt hin zur Boulevardgazette. Statt das tatsächliche Geschehen in der Region abzubilden und zu begleiten, setzte die Redaktion jetzt auf kontroverse Themen, gezielte Provokationen und reißerische Aufmachung. Wohl ein letztes Aufbäumen angesichts sinkender Abonnentenzahlen. Änderten sich damit auch die Wertvorstellungen der Mitarbeiter? Log man jetzt ungehemmt für eine skandalträchtige Schlagzeile? Die Politik machte es allenthalben vor.
»Ich glaube Ihnen«, sagte Kramer. »Vielen Dank.« Er steckte den Stick ein, zusammen mit der richterlichen Verfügung. »Sehen Sie, jetzt haben wir die gar nicht gebraucht. Schönen Dienst wünsche ich noch.«
Mareike Feekens herausfordernder Blick geleitete ihn zur Tür hinaus.
7.
»In 200 Metern links abbiegen«, verkündete die Navi-Stimme, »dann haben Sie Ihren Zielort erreicht.«
Tröstlich, dachte Stahnke. Ohne Navigationshilfe hätte er die Adresse, die Christel Röben ihm am Handy genannte hatte, wohl nie gefunden. Im Innenstadtbereich von Aurich kannte er sich zwar einigermaßen aus, nicht jedoch in den eingemeindeten Ortsteilen, und das hier war Aurich-Sandhorst.
Im nächsten Moment stieg der Hauptkommissar fluchend auf die Bremse. Ein schwarzer Audi mit Auricher Nummernschild hatte ihm die Vorfahrt genommen. Na warte! Die Nummer prägte er sich ein, darin war er geübt. Kaum hatte er wieder eingekuppelt, schob sich ein riesiges rotes Feuerwehrfahrzeug aus der Straße, in der sich sein Ziel befinden sollte, und blockierte beim Abbiegen die gesamte Einmündung. Aha, die große Drehleiter. Hatten die Kollegen Blauröcke hier etwa eine Übung gehabt? Und das am 1. Mai?
Er drückte seinen Wagen so eng an den Bordstein, dass die Reifen radierten. Das rote Ungetüm rauschte an ihm vorbei. Ein brenzliger Geruch kitzelte seine Nase.
Stahnke bog ab. Jetzt war es klar. Absperrung, Gaffergrüppchen, zweierlei Uniformen, Dienstfahrzeuge in Rot und Blau-Silber. Ein zweistöckiges, verrußtes Haus mit halb eingestürztem Dach. Eine Brandruine. Nichts mit Übung.
Die Kollegen kannten ihn und ließen ihn anstandslos passieren. Christel Röben erwartete ihn vor einem der geborstenen Fenster. Sie trug einen Regenmantel und deutlich zu jugendlich wirkende Gummistiefel, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Stahnke musste in Halbschuhen durch die Löschwasserpfützen patschen.
»Morgen sollte der Einzug sein«, sagte die Frau. Sie war mittelgroß und schmal gebaut, die blonden Haare trug sie schulterlang, ihr blasses Gesicht wirkte ungeschminkt. »Zwei große kurdische Familien mit zusammen neun Kindern. Gestern hatten wir schon ein kleines Begrüßungsfest im Vorgarten, genau hier, mit Grill und selbstgemachten Leckereien. Viele Nachbarn sind gekommen.« Christel Röben hob die Schultern: »Jetzt können wir mit der Wohnungssuche von vorn beginnen.«
»Ein Grill?« Stahnkes Blick wanderte an der verputzten Hausfassade hoch, die offenbar schon vor dem Brand schmutzig gewesen war. »Kann der brandursächlich gewesen sein?«
»Sicher nicht«, erwiderte Christel Röben mit abweisender Miene. »Der Grill wurde noch gestern Abend abtransportiert, die Asche mit der restlichen Glut kam in einen verschließbaren Metallbehälter, der ebenfalls mitgenommen wurde. Glauben Sie mir, wir wissen, wie das geht.«
Eine andere Frau gesellte sich zu ihnen, nicht größer als Christel Röben, aber weitaus kräftiger und sportlich durchtrainiert. Ihre dichten braunen Locken hatte sie mit einem Zopfband im Nacken gebändigt. »Annika Brühl, grüß Gott, Herr Kollege!«, strahlte sie Stahnke an. »Oder vielmehr Moin, wie ihr hier sagt, gell? Muss ich mich noch dran gewöhnen.« Sie lachte laut, ebenso unpassend wie ansteckend. »Ab morgen bin ich bei euch in Leer. Passt gut, dass wir uns hier treffen.«
Stahnke runzelte nur kurz die Stirn, dann fiel es ihm wieder ein. »Ach, die neue Hauptkommissarin aus Hessen! Tja, dann mal herzlich willkommen in Ostfriesland. Oder vielmehr Moin, wie wir hier sagen.«
Laut Aktenlage war Annika Brühl 39, also nur drei Jahre jünger als Christel Röben. Rein optisch aber schienen mindestens zehn Jahre zwischen den beiden Frauen zu liegen. Lag es am strahlenden Lächeln und den blitzenden dunkelbraunen Augen? Christel Röben hatte momentan gerade gar nichts zu lachen, war um die Aufgabe, schnellstens ein anderes geeignetes Wohnhaus zu beschaffen, nicht zu beneiden. Wohl deshalb wirkten ihre grauen Augen so stumpf.
Annika Brühl strahlte schon wieder. »Vielen Dank, aber in Ostfriesland bin ich schon seit einem Monat! Witzige Geschichte. Meine neue Stelle in Leer wird offiziell erst heute frei, während mein Nachfolger in Wiesbaden schon Ende Februar angerückt ist. Und Aurich hat einen chronisch hohen Krankenstand. Also hat man mich für einen Monat in der Inspektion am Fischteichweg zwischengelagert. Zur Eingewöhnung.«
Stahnke war baff; so etwas hatte er noch nie gehört. »Warum wurden Sie denn nicht gleich nach Leer versetzt?«, fragte er. »Wir haben auch immer Personalbedarf!«
Annika Brühl zuckte mit den kräftigen Schultern. »Aber nicht so viel wie Aurich, sagt die Statistik. Und die entscheidet.« Ihre Stimme sank zu einem verschwörerischen Flüstern herab: »Passte mir außerdem ganz gut, mich vorher schon mal in der Gegend umtun zu können, dienstlich wie privat. Dann ist man nachher, wenn es richtig losgeht, nicht mehr das heurige Häschen.«
Christel Röben trat von einem Gummistiefel auf den anderen. Die wachsende Ungeduld war ihr anzusehen. »Haben Sie denn jetzt Erkenntnisse bezüglich der Brandursache?«, fragte sie die Hauptkommissarin drängend. »Ihr Kollege fragt schon, ob wir das vielleicht selbst waren, weil wir nicht mit einem Grill umgehen können.«
Stahnke wollte empört widersprechen, kam aber nicht zu Wort. »Haben wir«, antwortete stattdessen Annika Brühl. »Größere Mengen Brandbeschleuniger konnten nachgewiesen werden. Außerdem wurde das hier gefunden.« Sie winkte einen weiß gekleideten Kollegen von der Spurensicherung herbei, der etwas vorzeigte, das an einen unappetitlichen Nachtisch in einem zersplitterten Schälchen erinnerte. »Das war mal eine Haushaltskerze, fixiert in einer gläsernen Schale, die mit einer brennbaren Paste gefüllt war«, erläuterte die Hauptkommissarin. »Diente vermutlich als Zünder. Primitiv, aber wirkungsvoll. So konnte der Brand vergangene Nacht vorbereitet werden, brach aber erst heute Morgen aus.«
»Also Brandstiftung«, fasste Christel Röben zusammen und nickte. Ihr Gesicht wirkte hart und keineswegs überrascht.
Stahnke hatte diesen Schluss längst selbst gezogen. Seine Gedanken kreisten gerade um etwas anderes. Hauptkommissarin, dachte er, noch keine 40, die kann etwas und will noch mehr. Schaue ich hier in das Gesicht meiner Nachfolgerin?
Ein hübsches Gesicht noch dazu. Und kräftige Hände mit langen Fingern, um die sie bestimmt ihre sämtlichen männlichen Vorgesetzten wickeln konnte, angefangen beim Inspektionsleiter. Oder womöglich bei ihm?
»Haben Sie einen Verdacht, Frau Röben?«, fragte Annika Brühl. Erneut an Stahnkes Stelle. Er musste wirklich aufmerksamer sein.
»Na ja, wen wohl? Die üblichen Ausländerfeinde eben.« Christel Röben schnaubte abfällig. »Aber eine nennenswert schlagkräftige NPD gibt es hierzulande nicht, und die AfD hat mehr mit sich selbst zu tun, zerstritten, wie die ist. Konkret wüsste ich also nicht, wen ich da nennen sollte.« Sie hielt kurz inne, rieb sich mit beiden Händen über die blassen Wangen. »Es kann natürlich auch etwas ganz anderes dahinterstecken.«
»Nämlich?«, fragte Stahnke. Überflüssigerweise, aber immerhin als Erster.
»Spekulanten«, sagte die blasse Frau und schaute den Hauptkommissar an, als sei damit alles gesagt.
War es nicht. »Um mit Immobilien spekulieren zu können, muss man doch deren Besitzer sein«, erwiderte er. »Und sind das nicht – Sie? Beziehungsweise Ihre Organisation?«
»Stiftung«, korrigierte Christel Röben. »Ich vertrete die Stiftung Integer pro Integration, deren Geschäftsführerin ich bin, wie Sie sicher wissen. Und nein, die Stiftung besitzt dieses Haus nicht, sie hat es angemietet. Langfristig. Mit dem Ziel, Migrantenfamilien mit Bleiberecht aus der Isolation der Flüchtlingsunterkünfte und aus überteuerten Wohnungen in prekären Gebieten herauszuholen und ihnen zu helfen, in Wohnlagen mit mehrheitlich deutscher Einwohnerschaft umzusiedeln.«
»Löblich«, sagte Stahnke. »Aber wo wäre die Spekulation?«
»Wie Sie sehen, ist dies ein Zweifamilienhaus«, erklärte Christel Röben. »Der Trend geht jedoch zur Nachverdichtung bestehender Wohngebiete. Viele Menschen leben in Ein- oder Zweipersonenhaushalten, die wollen keine großen Häuser am Stadtrand mit ausgedehnten Gärten, die wollen pflegeleichte Kompaktwohnungen in verkehrsgünstiger Lage. Auf einem Grundstück wie diesem kann locker ein Acht-Parteien-Wohnblock stehen, ohne gegen bestehende Bauvorschriften zu verstoßen. Ich schätze, genau das hat der Besitzer vor.«
»Beschuldigen Sie den Eigentümer damit der Brandstiftung?«, fragte Annika Brühl. »Auf welcher Grundlage?«
»Ich wurde nach einem Verdacht gefragt, dies ist meine Antwort«, erwiderte die blasse Frau spitz. »Beweise sind Ihre Sache, oder nicht?«
Annika Brühl ging nicht darauf ein. »Sagen Sie, als Sie und Ihre Stiftung planten, die Migrantenfamilien genau hier anzusiedeln, haben Sie eigentlich vorher die Nachbarn befragt, was die davon halten?«