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»Ich verstehe nicht.« Genauso guckte Christel Röben auch. »Das Objekt war zur Vermietung angeboten, und wir haben gemietet. Man kennt unsere Stiftung, also war klar, wer hier einziehen würde. Und dann haben wir ja gestern das Kennenlernfest mit den Nachbarn gefeiert.« Sie zögerte kurz. »Zugegeben, nicht alle Nachbarn sind gekommen.«
Annika Brühl nickte nur, schickte Stahnke jedoch einen vielsagenden Blick. Ging sie davon aus, dass einige der Nachbarn nicht einverstanden mit dem geplanten Zuzug waren und dafür gesorgt hatten, dass Frau Röbens Stiftung sie kennenlernte? Natürlich im übertragenen Sinn? Nun, dachte der Hauptkommissar, Tätervermutungen durfte man anstellen. Solange man trotzdem in alle Richtungen ermittelte.
Eine weitere Kollegin von der Spurensicherung trat hinzu, ebenfalls in einen weißen Overall gehüllt, und blickte von Stahnke zu Annika Brühl und zurück, offenbar unsicher, an wen sie ihre Frage loswerden konnte. Stahnke half ihr mit einem leichten Neigen des Kopfes. »Ich bin aus einem ganz anderen Grund hier«, sagte er und wandte sich ganz Christel Röben zu: »Ich müsste wegen gestern Abend mit Ihnen sprechen.«
Die beiden gingen ein paar Schritte zur Seite. »Ich nehme an, damit meinen Sie nicht schon wieder unser Grillfest und den angeblich leichtfertigen Umgang mit glühender Holzkohle«, sagte sie. »Ich war heute früh bereits online und weiß von Carsten Fecht, falls Sie das meinen.«
Stahnke nickte. Natürlich, heute war Feiertag, es gab keine Tageszeitung; da holte sich jeder seine aktuellen Informationen auf anderen Kanälen. Daran konnte man sich gewöhnen. Hatten Zeitungen unter diesen Umständen überhaupt noch eine Zukunft? Klar, auch sie bedienten die neuen Infokanäle – allerdings gegen Geld. Andere taten das kostenlos.
»Wir ermitteln in alle Richtungen«, erklärte er. »Zu denjenigen, die von Carsten Fecht verbal heftig attackiert worden sind, gehören auch Sie als Schriftführerin des SPD-Stadtverbandes Aurich.« Der Hauptkommissar rieb sich das unrasierte Kinn; es raschelte. »Wie sind Sie beide einander eigentlich in die Quere gekommen? Fecht ist Leeraner und hat seine Karriere dort gestartet. Sie, Frau Röben, waren stets auf lokaler Ebene in Aurich politisch aktiv. Wo waren da die Reibungspunkte?«
Christel Röben schaute zu Boden. »Ich stamme aus Leer«, sagte sie. »Da bin ich schon sehr früh mit Carsten zusammengerasselt. Das hat gereicht.«
»Was genau ist denn passiert?«, fragte Stahnke.
Christel Röben seufzte tief. »Ich war damals Juso-Vorsitzende in Leer. Die Jusos, das war so wie das Kinderplanschbecken im Schwimmbad, da durfte man auch mal etwas linken Schaum schlagen. Nahm ja keiner ernst. Aber man wurde beobachtet, ob man für eine Parteikarriere in Betracht kam, und wenn ja, für welche. Höhere Weihen oder Fußvolk. Nach oben ging es nur über den rechten Flügel. Wer sich nicht rechtzeitig die linken Hörner abgestoßen hatte, war gerade gut genug für Infotische. Rote Plastiknelken verteilen. Oder zum Plakatekleben. Mehr nicht.«
»Also waren Sie Ihrer Partei für eine Politkarriere nicht rechts genug? Ich meine, für eine Karriere über die Ortsebene hinaus?«
»Einmal das. Und ich bin eine Frau. Rote Fotze, Sie verstehen?«
»Was?« Stahnke zuckte zusammen. Das kam unerwartet.
Christel Röben lächelte bitter. »Das habe ich mir nicht etwa von Neonazis anhören müssen, falls Sie das vielleicht glauben. Die reden sicher auch so, aber das bekam man damals noch nicht mit, in den Zeiten vor Internet und Facebook. Heute glauben sogar deutsche Richter, dass man sich als Politikerin so was anhören muss.«
»Einige deutsche Richter«, korrigierte Stahnke.
»Schlimm genug.« Die blasse Frau schaute auf ihre Armbanduhr. »Sie wollten mir Fragen stellen. Ich möchte nämlich noch zur Kundgebung.«
»Das mit der roten, äh … also die Beleidigung, die Sie zitiert haben: Stammt die aus den gehackten Chats von Carsten Fecht?«
Christel Röben nickte. »So hat er mich aber auch schon Auge in Auge beleidigt. Anfangs natürlich nicht, damals hat er sogar für mich geschwärmt. Er ist mit 16 eingetreten, ich war 20 und im Juso-Vorstand. War mir schon fast peinlich, wie der an meinen Lippen gehangen und alles nachgeplappert hat! Aber dann ist er ins andere Fahrwasser geraten.«
»Ins rechte?«
»Na klar. Er hat schneller als ich gemerkt, wo es nach oben geht. Viel schneller!« Christel Röben blieb stehen und wandte sich Stahnke zu, schaute ihm direkt in die Augen: »Sie sind doch Leeraner, oder? Erinnern Sie sich noch, wie seinerzeit der Bundestagswahlkreis erstmals an die CDU ging?«
»Damals habe ich in Oldenburg gewohnt«, erwiderte der Hauptkommissar. »Hab’s aus dem Regionalfernsehen erfahren. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Es gab eine Podiumsdiskussion mit allen Kandidatinnen und Kandidaten im Ostfriesenhof. Für die CDU trat erstmals eine Frau an. Als die ihr Statement abgab, standen die SPD-Granden hinten an der Bar und haben gemeinsam gegrölt: ›Du hast die Haare schön, du hast die Haare schön‹. Verstehen Sie?«
»Die Geringschätzung?« Stahnke nickte. »Allerdings. Wurde auch prompt bestraft. Es gab eine krachende Niederlage für die SPD.«
»Davon hat sich die Partei hierzulande nie wieder erholt«, sagte Christel Röben. »Aber glauben Sie, irgendwer in den oberen Rängen hätte daraus Schlüsse gezogen? Kein Stück! Immer weiter so, das ist alles, was die können!«
»Und Carsten Fecht?«, hakte Stahnke nach.
»Der stand damals mit an der Bar! Und hat mitgegrölt, dieser Milchbubi. Hatte bestimmt die Hosen voll dabei.« Christel Röben schnaubte verächtlich: »Aber die Parteifürsten haben ihm auf die Schultern geklopft dafür. Das hat er sich gemerkt.«
»Seitdem sind Sie beide spinnefeind gewesen?«
»Mal mehr, mal weniger.« Die blasse Frau schaute auf ihre bunten Gummistiefel. »In letzter Zeit hat er mich wieder öfter aufs Korn genommen. Ohne konkreten Anlass eigentlich. Vermutlich bloß, weil ich als Frau ein Parteiamt bekleide.«
»Ich dachte, seit August Bebel sei die Gleichstellung der Frau für alle Sozialdemokraten selbstverständlich«, warf Stahnke ein.
Christel Röben lachte hell auf. »Ach, haben Sie gedacht! Von wegen. Man möchte glauben, dass Denkstrukturen doch vererbt werden. Viele Kerle in unserer Partei stecken von ihren Ansichten her jedenfalls noch tief im Mittelalter.«
»Würden Sie sagen, dass Sie Carsten Fecht gehasst haben?«, fragte der Hauptkommissar.
»Gehasst?« Sie hob ihren Blick. »Ach nein. Verachtet schon eher.«
»Und gestern Abend? Können Sie mir sagen, wann Sie wo waren?«
»Aha, jetzt kommt die Katze aus dem Sack!« Die Frau grinste schelmisch. Auf einmal wirkte sie zehn Jahre jünger. »Die Grillparty mit den Nachbarn, Sie erinnern sich? Die ging um 18 Uhr los, vorher haben wir bestimmt eine Stunde lang aufgebaut. Dieser große Grill ist verdammt schwer, ich hab’ mich dabei ein bisschen verhoben.« Sie machte rollende Bewegungen mit ihren schmalen Schultern. »Die Fete hat sich dann ziemlich hingezogen. Die meisten sind zwar gegen 21 Uhr gegangen, aber einige haben noch bis 23.30 Uhr zusammengesessen und diskutiert. Erst danach konnten wir abbauen.« Sie hob ihren schlanken Zeigefinger: »Und natürlich die restliche Glut ordnungsgemäß entsorgen! Viel war es eh nicht mehr.«
Von 18 Uhr bis Mitternacht, dachte Stahnke, das ist mehr als genug. »Und wer war außer Ihnen dabei?«
»Drei Mitarbeiter der Stiftung; die Namen kann ich Ihnen geben. Und die beiden kurdischen Familien natürlich.« Zischend sog sie Luft durch ihre Zähne: »Denen muss ich erst mal erzählen, dass es mit dem Umzug morgen nichts wird. Das wird hart, die hatten sich schon sehr gefreut. Außerdem werden die sich natürlich wegen der Brandstiftung ihre Gedanken machen. Wollen Sie deren Namen auch?«
»Danke, muss nicht sein, die Namen der Mitarbeiter reichen völlig.« Er zückte Block und Kugelschreiber, notierte Namen und Telefonnummern. Christel Röben verabschiedete sich und rauschte in ihrem dunkelroten Audi davon. Auch nicht gerade klimafreundlich, registrierte Stahnke automatisch. Und auch nicht wirklich rot. Eher rotbraun. Unauffällig, uneindeutig. Hatte die Frau Angst vor weiteren Beschimpfungen?
Unbemerkt hatte sich Kollegin Annika Brühl neben ihn gestellt. »Die Sozis haben es nicht leicht im Moment«, kommentierte sie. »Das ist in Hessen genauso. Hat ein paar Jahre gedauert, bis die Wähler gemerkt haben, dass von einer Seeheimer-SPD nun mal keine zukunftweisende Politik für Menschen vom Mittelstand abwärts zu erwarten ist. Jahre? Jahrzehnte! Aber jetzt haben sie es gemerkt, und sie werden es wohl so schnell nicht wieder vergessen.«
»Stimmt«, sagte Stahnke, »Hessen war ja auch mal rot! Aber sicher nicht so rot wie Emden. Dort hat die SPD über 60 Jahre in Folge den Oberbürgermeister gestellt – und bei der letzten Wahl haben die Emder den SPD-Kandidaten mit unter 20 Prozent vom Hof gejagt. Das war richtig bitter für den und seine Partei.«
»Und Carsten Fecht haben sie erschossen«, ergänzte Annika Brühl trocken. »Um den Fall darf ich mich ab morgen auch mit kümmern. Bin gespannt, wie weit ihr schon seid.«
»Heiße Spur ist noch Fehlanzeige, wir ermitteln in alle Richtungen«, gab Stahnke zu. »Darum bin ich auch hier.«
»Die Pöbelchats.« Die Hauptkommissarin nickte bestätigend. »Kommt unsere Stiftungsdame hier auch in Betracht? Die gut betuchte Audifahrerin mit Proletariatshintergund?«
»Vermutlich nicht, wenn ihr Alibi bestätigt wird«, erwiderte Stahnke. »Aber wie darf ich denn Ihre Bemerkung verstehen?«
Annika Brühl lachte wieder. »So steif, Herr Kollege! In unserem Fachkommissariat in Wiesbaden haben wir uns alle geduzt. Ich bin zwar vermutlich die Jüngere von uns beiden, aber – wie sieht’s aus? Ich bin die Annika.« Sie streckte die Hand aus.
Stahnke griff zu, war von der Festigkeit ihres Händedrucks angenehm überrascht. »Na klar, einverstanden. Ich bin, äh – einfach Stahnke. Stahnke reicht.«
Zwei blitzende dunkelbraune Augen, ein breites Grinsen. »Hätte ja klappen können!«, rief Annika Brühl fröhlich. »Hab schon gehört, dass du aus deinem Vornamen ein Haupt- und Staatsgeheimnis machst. Runde eins geht an dich, aber warte nur, den krieg ich noch raus!«
Jetzt erst ließ sie seine Hand los. Verblüfft starrte Stahnke auf seine Finger, als müsste er sie auf Vollzähligkeit überprüfen.
»Zu deiner Frage«, fuhr Annika Brühl fort: »Frau Röben hat einen Ruf in Aurich. Es heißt, sie sei vom Stamme Nimm. Achtet immer darauf, dass sie auch ihr Recht bekommt – und nach Möglichkeit etwas mehr. Ihr Auto hast du ja gesehen, ihr Haus ist eher eine Villa, und Mitglied im Golfklub Wiesmoor ist sie auch. Ihr Vater hatte in Leer bei der Müllabfuhr gearbeitet. Ist schon lange verstorben, und sie redet auch nie über ihn. Vielleicht weiß gerade deswegen jeder Bescheid.«
»Sozialneid? Oder liegt irgendetwas Handfestes gegen die Dame vor?«
Annika Brühl schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Leute reden eben, das ist in Ostfriesland auch nicht anders als in Hessen.«
Stahnkes Smartphone meldete sich. Ekincis Nummer. »Was gibt es?«, fragte der Hauptkommissar.
Sein junger Kollege atmete schwer. »In Leer ist gerade eine Bombe hochgegangen«, sagte er.
»Ach ja, etwas so Brisantes? Was denn genau? Hat es etwas mit unserem Fall zu tun?«, fragte Stahnke.
»Ich wiederhole«, keuchte Ekinci, »hier ist eine Bombe hochgegangen! Keine metaphorische Bombe. Eine echte! Es hat eine Explosion gegeben!« Er nannte eine Adresse, dann beendete er das Gespräch. Stahnke stand mit offenem Mund da; wieder starrte er auf die Finger seiner Hand. Und das Mobiltelefon darin.
»Irgendwas los in Leer?«, fragte seine Kollegin.
»Allerdings«, murmelte Stahnke. »Mehr, als man denkt.«
8.
Déjà-vu, dachte Stahnke, als er vor dem Gewerkschaftsbüro in der Leeraner Jahnstraße stand. Absperrung, zweierlei Uniformen, Gaffergrüppchen. Eine zersplitterte Scheibe im Erdgeschoss, ein angekohlter Fensterrahmen, die Hauswand verrußt. Andere Stadt, andere Art Haus, trotzdem ähnliches Bild.
»Brandstiftung?«, fragte er, sobald er Nidal Ekinci erblickte.
Der junge Oberkommissar nickte. »Eindeutig. Scheibe eingeschmissen, Molli reingeworfen, abgehauen. Am helllichten Tag! Tatzeugen Fehlanzeige, jedenfalls bis jetzt.«
Stahnke schaute nach beiden Seiten die Jahnstraße hinunter. Dies war die Zufahrt zum Parkhaus nahe der Fußgängerzone; die Geschäfte hatten heute zu, also war nicht viel los. Das Gebäude gegenüber beherbergte die Neuapostolische Kirche, rechts stand ein Haus leer, dahinter befand sich ein anonym und unbelebt wirkender Neubau. Auf der anderen Seite überwiegend Büros. Ja, dachte er, das mochte angehen, dass hier keiner etwas mitbekommen hatte, weil einfach keiner da gewesen war. Jedenfalls nicht auf der Straße. Die Gewerkschafter waren auch alle ausgeflogen gewesen, zur Maikundgebung in Emden.
Einige von ihnen waren inzwischen zurück, darunter der Vorsitzende, kurz vor Stahnke am Tatort eingetroffen. Er korrigierte den Hauptkommissar gleich bei der Anrede: »Erster Bevollmächtigter, bitte. Vorsitzenden haben wir keinen.«
Stahnke ließ sich nicht irritieren. »Haben Sie einen Verdacht, irgendeine Tätervermutung?«, fragte er. »Gab es Ärger mit jemandem? Hat sich jemand beschwert oder gar gedroht?«
»Wann beschwert sich mal keiner über uns? Und wann wird nicht gedroht?« Der Bevollmächtigte war ein kleiner, dünner Mann mit einem Gesicht voller Falten und einer riesigen Brille. Auf dem Namensschild, das an seiner schmalen Brust kaum Platz fand, stand sein Name: »Paul Hinderks«. Schwer vorstellbar, dass dieses Männchen früher einmal als Schweißer auf einer Werft gearbeitet haben soll, dachte Stahnke. Der Mann schien schon zwischen Aktendeckeln zur Welt gekommen zu sein, gezeugt von Stempel und Stempelkissen. Er tigerte in den Büroräumen seiner Gewerkschaft herum, soweit die Spurensicherer das zuließen, und versuchte, sich ein Bild des angerichteten Schadens zu machen. »Was das wieder kostet, allein die Entrauchung! Dazu die Fensterscheibe. Und neu streichen. Mann, Mann, Mann!«
»Sind Sie nicht versichert?«, fragte der Hauptkommissar.
Hinderks lachte höhnisch. »Haben Sie eine Ahnung von unserer Mitgliederentwicklung? Schlimmer als bei den Kirchen, sage ich Ihnen! Die Einnahmen aus den Beiträgen reichen hinten und vorne nicht, dabei sparen wir schon, wo wir können. Aber wenn neue Tarife verhandelt werden, dann kommen sie alle angedackelt und wollen, dass wir uns für sie reinknien! Unglaublich, die Zustände heutzutage. Keine Solidarität mehr, nichts.«
Also kein Versicherungsschutz, schlussfolgerte Stahnke. »Mal etwas konkreter, bitte«, sagte er. »Wer hat sich beschwert, wer hat gedroht?«
»Ach, der übliche Mist.« Hinderks nahm seine Brille kurz ab und wischte sich über die geröteten Augen. »Wir sind mal wieder an den Verträgen für die Externen dran, auf der Leiner-Werft. Sie wissen schon, die Leiharbeiter aus Rumänien und so, die für wenig Geld die Luxusdampfer zusammenschweißen und für viel Geld in irgendwelchen Kellern übernachten müssen. Ganz arme Schweine sind das! Aber die verderben nun mal die Preise für ihre fest angestellten deutschen Kollegen. Am Ende werden deren Löhne auch gedrückt, man weiß ja, wie das läuft. Aber die Sklavenhändler, also die Leiharbeitervermittler, setzen ihre Leute mächtig unter Druck. Uns ebenso! Und von der anderen Seite wirft uns die Werftleitung Knüppel zwischen die Beine. Die wollen, dass alles genauso bleibt, wie es ist, weil sie so die höchsten Profite machen können! Und die Ost-Arbeiter, diese armen Socken, die werden ebenfalls gegen uns aufgewiegelt. Wir würden nur dafür sorgen, dass sie am Ende abgeschoben werden, redet man ihnen ein. Und dass sie sich ja die Differenz, die an ihrem Lohn fehlt, beim Arbeitsamt holen können, als Aufstocker. Es ist zum Heulen! Und der Betriebsrat der Werft fällt uns auch noch in den Rücken, weil wir uns gefälligst nur um die fest angestellten deutschen Kollegen kümmern sollen. Wie kann man unter solchen Bedingungen etwas erreichen?«
Der Bevollmächtigte ließ sich auf einen zerschlissenen Drehstuhl sinken; er wirkte erschöpft. Stahnke war beeindruckt von der Vehemenz, mit der der kleine Mann seine Rede vorgebracht hatte. Und gleichzeitig alarmiert. »Können Sie mir Namen nennen?«, fragte er.
»Namen?« Jetzt klang Hinderks’ Lachen hysterisch. »Telefonbücher kann ich Ihnen geben! Das von Leer und das von Papenburg dazu! Dann können Sie sich raussuchen, wen Sie wollen. Die kommen alle infrage! Aber wenn die mich anrufen und am Telefon rumpöbeln, dann sind sie alle anonym, das können Sie mir glauben.«
Einer der Spurensicherer schaute in den Raum. »Mit dem hinteren Büro sind wir auch durch, da können Sie jetzt wieder rein«, sagte er, an Hinderks gewandt. Und zu Stahnke: »Über die Spurenlage können wir noch nicht viel sagen, erst müssen wir die gesicherten Abdrücke mit denen aller Leute, die hier arbeiten, abgleichen. Fußspuren Fehlanzeige. Vielleicht war der Täter überhaupt nicht hier drin.«
»Warum hätte der Täter auch hier eindringen sollen?«, fragte Stahnke überrascht. »Ich dachte, es war ein reiner Brandanschlag von draußen. Scheibe eingeschlagen, Molotowcocktail rein und weg.«
»Weil die Haustür aufgehebelt wurde«, erwiderte der Kollege im weißen Overall. »Aber wie gesagt, bisher haben wir noch keine eindeutigen Spuren, dass jemand auch tatsächlich eingedrungen ist. Vielleicht gab es eine Planänderung; statt das Feuer drinnen zu legen, hat der Täter sich umentschieden und den Brandsatz durchs Fenster geworfen.«
Da Stahnke stumm blieb, zog sich der Kriminaltechniker zurück. Gleich hinter ihm verließ Paul Hinderks den Raum. Er steuerte direkt auf das soeben freigegebene Büro zu.
Umentschieden, überlegte Stahnke. Die Haustür aufgehebelt – und dann doch nicht hineingegangen? Stattdessen ein Fenster eingeschlagen, einen Molotowcocktail angezündet und durch das Loch in der Scheibe geworfen? Dabei war der Täter das Risiko eingegangen, doch noch beobachtet zu werden, ganz egal, wie unbelebt die Straße am Feiertag war. Warum, wenn er doch schon im Haus gewesen war?
Er hörte Hinderks im Nebenzimmer rumoren. Dann seine Stimme. »Was hat das denn hier zu suchen? Das gehört hier nicht hin.«
Stahnke rannte los, den Mund zum Rufen geöffnet. Weit kam er nicht. Schon im Türrahmen traf ihn eine Riesenfaust, stoppte ihn und warf ihn zurück. Von links wölbte sich die Zimmerwand auf ihn zu. Etwas sauste direkt vor seinem Gesicht vorbei. Etwas Rundes, Faltiges, mit den Resten einer Brille daran. Zeitgleich ertönte ein Knall, der so gewaltig war, dass er alles um ihn herum auslöschte.
9.
Der Druck auf seiner Brust weckte ihn. Etwas Schweres hinderte ihn daran zu atmen. Wenn er es trotzdem versuchte, zuckte scharfer Schmerz durch seinen Körper bis hinauf in sein Hirn. Stahnke schnappte nach Luft und öffnete die Augen.
Etwas lag auf seiner Brust, etwas Gewichtiges. Das war also kein Traum gewesen. Dieses Etwas war rund und faltig und trug eine große Brille. Der Kopf von Paul Hinderks! Wie kam denn der dorthin? Hatte der ihn umgehauen und ausgeknockt? Irgendwie passte das alles nicht zusammen.
Der Kopf von Paul Hinderks schlug die Augen auf. »Natürlich passt das alles nicht zusammen!«, tönte er. »Das Ding hatte dort überhaupt nichts zu suchen!«
Welches Ding, fragte Stahnke, aber seine Lippen wollten sich nicht bewegen, daher blieben die Worte ungesagt.
»Na, welches Ding wohl?«, keifte der Kopf. »Die Bombe natürlich! Hab’ ich sofort gesehen, dass die da nicht hingehörte! Aber Ihre Leute, die haben nichts gemerkt. Typisch! Wofür zahlen wir Gewerkschafter eigentlich Steuern?«
Diese Bombe, wollte Stahnke fragen, von wem kam die? Wer wollte Sie umbringen? Oder vielleicht …
»Jetzt soll ich auch noch Ihre Arbeit machen!«, schimpfte der Kopf von Paul Hinderks. »Da denk ich gar nicht dran! Das kriegen Sie mal schön selber raus, wer das war. Für mich ist jetzt Schicht. Ich hab’ Feierabend.« Der Kopf senkte seine Augenlider.
Halt, wollte Stahnke rufen, nein, hiergeblieben! Lassen Sie mich nicht hängen! Wieder brachte er keinen Ton heraus. Zudem wurde ihm bewusst, dass er selbst die Augen ebenfalls noch geschlossen hatte. Mit größter Mühe wuchtete er seine Lider hoch.
Das Bett, in dem er lag, war blendend weiß bezogen. Das ganze Zimmer war so weiß, dass seine Augen schmerzten. Als Stahnke wieder etwas erkennen konnte, sah er Paul Hinderks, der sich über ihn gebeugt hatte und lächelte. Nanu, dachte der Hauptkommissar, plötzlich wieder mit Körper? Muss ja ein ganz tolles Krankenhaus sein, in dem ich liege. Und wieso trägt der Bevollmächtigte der Metallergewerkschaft weiße Klamotten?
Der Mann mit dem faltigen Gesicht und der großen, dicken Brille richtete sich zur vollen Größe auf. Sehr viel war das nicht. »Er kommt langsam zu sich«, sagte er mit einer geisterhaft hauchenden Stimme, »Unkraut vergeht nicht.« Hatte Paul Hinderks zum neuen Körper auch neue Stimmbänder bekommen?
Der weiß Gekleidete trat beiseite. Oberkommissar Kramer nahm seinen Platz ein. »Moin, Chef«, sagte der hagere Mann. »Das ging gerade noch mal gut gestern. Ich bin echt froh, dass du nicht einen Schritt schneller gewesen bist.«
Moin, das sagte der Ostfriese zu jeder Tages- und Nachtzeit. Weil es ja auch nicht etwa »Morgen« hieß, sondern »schön«. Auf Plattdeutsch »moj«. Moin war die Kurzform von »Mojen Dag« und passte immer. Aber »gestern«?
»Wie lange?«, krächzte Stahnke. Die Worte schmerzten in seinem ausgedörrten Hals. Und in seiner Brust.
»20 Stunden ungefähr«, erwiderte Kramer. »Die haben dich ganz schön unter Drogen gesetzt. Der Explosionsdruck hatte dich umgeworfen, und du bist rückwärts auf den alten Drehstuhl von Hinderks gefallen. Hast dem Ding damit den Rest gegeben. Der Notarzt befürchtete, du könntest dir dabei die Wirbelsäule verletzt haben, und hat alle möglichen Untersuchungen angeordnet, MRT und so weiter. Dazu mussten sie dich erst einmal ruhigstellen.«
Stahnke holte Atem und spürte wieder den stechenden Schmerz. »Und?«, stöhnte er.
»Wirbelsäule in Ordnung«, berichtete Kramer. »Nur eine Rippe ist angeknackst.«
Nur eine Rippe? Nur angeknackst? Dafür tat sein Brustkorb aber ganz schön weh, dachte Stahnke. War die Rippe vielleicht doch durchgebrochen und steckte in seiner Lunge?
Der Arzt erschien wieder in seinem Blickfeld. Jetzt, da Stahnke zunehmend klarer sah, erschien ihm die Ähnlichkeit mit Paul Hinderks nicht mehr ganz so groß. Und der Mediziner selbst nicht mehr so unbekannt. »Doktor Mergner!«, stieß er hervor. »Seit wann kümmern Sie sich um die Lebenden?«
»Nun ja, auch meine Kunden haben alle irgendwann mal gelebt«, hauchte der Pathologe mit seiner Geisterstimme. Sein Kittel umbauschte seinen grätenhaften Körper wie morgendlicher Seenebel. »Ich muss gestehen, dass ich für einen Moment mit dem Gedanken geliebäugelt habe, auch Ihre opulenten Überreste auf meinen Tisch zu bekommen. Aber so weit ist es noch nicht. Tatsächlich bin ich wegen des eigentlichen Opfers besagter Explosion hier im Haus.«
Wieder schob sich das Gesicht von Paul Hinderks vor das von Doktor Mergner. Stahnke blinzelte; anscheinend zirkulierte noch allerhand Chemisches durch seine Adern. Kramer gab seinem Vorgesetzten einen Schluck zu trinken, was dieser dankbar annahm. Sogar aus einem Schnabelbecher.
»Was ist mit Hinderks?«, fragte Stahnke. Selbst das lautere Sprechen bereitete ihm Schmerzen in der Brust.
»Falsche Zeit, falscher Ort«, hauchte Doktor Mergner. »Es hat ihn buchstäblich zerrissen. Als Organspender kommt er definitiv nicht mehr infrage. Schade eigentlich, er besaß einen Spenderausweis.«
Stahnke schloss die Augen. So aber sah er Hinderks’ Kopf erst recht vorbeifliegen. Schnell öffnete er sie wieder.
»Die Bombe war in einem Heizlüfter versteckt«, berichtete Kramer; Stahnke war dankbar für dessen unpersönlichen Tonfall. »Größeres Modell, sorgfältig entkernt. Hinderks hat gemerkt, dass das Gerät dort nicht hingehörte, wo es stand. Die Explosion muss erfolgt sein, als er sich gerade darüber beugte.«
Im Hintergrund warf Doktor Mergner lautlos beide Arme hoch und zur Seite, eine Detonation andeutend. Gegen seinen Willen musste Stahnke lachen; der Schmerz in seinem Brustkorb verstärkte sich um ein Vielfaches.