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»Solche Kleinigkeiten haben dich ja noch nie an irgendwas gehindert.« Sina grinste spöttisch. »Nun erzähl schon.«
Der Hauptkommissar rieb sich die weißblonden Haarstoppeln. Sie fühlten sich feucht an. Obwohl er in den letzten Monaten tüchtig abgespeckt hatte, schwitzte er immer noch schnell. Sina dagegen wirkte wie aus dem Ei gepellt. Bestimmt hielten die anderen Fahrgäste sie für seine Tochter. Das war ihm früher schon passiert, und es störte ihn jedes Mal.
»Unser Mann heißt Groenewold«, begann er. »Professor Dr. Ulfert Groenewold. Bis vor Kurzem Dozent an der Uni Oldenburg. Spezialist für Sprache und Literatur der Niederlande. Irgendwie naheliegend für einen gebürtigen Ostfriesen. Allerdings fristet die Niederlandistik in Oldenburg ein Schattendasein, und Groenewold ist ehrgeizig. Aus seiner Unzufriedenheit mit seiner untergeordneten Position im Fachbereich und seiner hohen Lehrverpflichtung hat er nie ein Geheimnis gemacht. Er wollte vor allem forschen, wollte einen eigenen Lehrstuhl mit Sekretariat und mit Assistenten, die in seinem Namen die lästigen Seminare und vielen Korrekturen erledigten. Und er wollte auch mehr Geld. Also musste er aus Oldenburg weg.«
»Völlig normal im Universitätsbetrieb. Man publiziert so viel wie möglich, das steigert den eigenen Marktwert, man bewirbt sich auf jede passende Stelle, wird zu Gastvorträgen eingeladen, und irgendwann klappt es dann.« Sina zuckte die Achseln. »Natürlich schafft es nicht jeder. Die Stellenpyramide verjüngt sich nach oben hin, und die Konkurrenz wird immer härter. Man muss sich halt durchsetzen können.« Ein Gedanke, der ihr mehr zu schaffen machte, als sie zugeben wollte. Sie stand kurz vor ihrem Abschluss in Psychologie, und wenn sie weiterhin an der Oldenburger Uni bleiben wollte, würde sie sich wohl auch in dieses Haifischbecken stürzen müssen.
»Groenewold hat sich hier in Essen beworben«, fuhr Stahnke fort. »Vielmehr an der Universität Duisburg-Essen, Standort Essen, Fachbereich drei. Niederlandistik gehört hier zur Germanistik. Ausgeschrieben war eine C4-Professur, gut dotiert und ausgestattet mit allem Drum und Dran. Entsprechend groß war der Bewerberandrang. Schon, dass Groenewold von der Berufungskommission eingeladen wurde, war ein großer Erfolg. Und man war auch ganz angetan von ihm. Unser Mann durfte sich Hoffnungen machen.«
Sina schnippte mit den Fingern. »Sag mal, Groenewold – ziemlich groß, schlank, kurzer Vollbart, schmale Brille, heller Anzug mit bunter Fliege? Noch keine vierzig Jahre? Den kenne ich. Ich meine, vom Sehen, aus der Mensa und so. Hat dort einen Stammplatz. Hält regelrecht Hof. Klar, als Prüfer hat er eine Machtposition, aber – glaub mir, Studenten können echt peinlich sein.«
»Er hat eine gewinnende Art«, sagte Stahnke. »Nicht zuletzt diese Tatsache brachte ihn oben auf die Berufungsliste. Allerdings nicht ganz nach oben, sondern auf Platz zwei. Manchmal reicht das schon, denn oft haben die qualifiziertesten Kandidaten mehrere Eisen im Feuer und verzichten im letzten Moment, weil es anderswo eine noch lukrativere Stelle gibt. Also kann man auch als Zweiter durchaus der Sieger sein. Allerdings nicht in diesem Fall.«
»Und wer hat die Stelle bekommen?«
»Ein gewisser Dr. habil. Friedemann Salewski. Mitte vierzig. War bis dahin Wissenschaftlicher Rat an der Uni Bielefeld. Karrieretechnisch eine ziemliche Sackgasse, habe ich mir sagen lassen. Salewski wollte unbedingt da weg – und er wollte unbedingt hierher. Genauer: hierher zurück. Er ist nämlich gebürtiger Essener, stammt aus Heisingen. War als Jugendlicher begeisterter Jollensegler beim Heisinger SC. Hat sein Elternhaus am Fährenkotten, das er schon als Student erbte, nicht verkauft, sondern vermietet, mit Eigenbedarfs-Vorbehalt, weil er eines Tages wieder darin wohnen wollte. Und er hat, seit er als Wissenschaftlicher Assistent regelmäßig verdiente, eine eigene Segelyacht auf dem Baldeneysee. Viel mehr Heimatverbundenheit geht nicht.«
»Kaum.« Sina nickte. »Jede Menge Motivation, vor allem, weil solche Stellen ja nicht alle Jahre ausgeschrieben werden. Dieser Salewski muss um die C4-Stelle gekämpft haben wie eine Kanalratte. Na ja, als Essener Jung hatte er bestimmt noch alte Kontakte. Sowas hilft ja auch.«
Stahnke hatte endlich eine der überforderten Bedienungen erwischt und war seine Bestellung losgeworden. »Klar hat er gekämpft«, sagte er dann. »Beide haben sie das. Scheint aber alles relativ fair zugegangen zu sein. Schließlich waren die beiden befreundet.«
»Ach. Das macht die Konkurrenzsituation ja besonders pikant. Wie kam es denn dazu?«
»Die Niederlandistik ist hierzulande ein überschaubares Fachgebiet«, sagte Stahnke. »Die Spezialisten treffen sich fast zwangsläufig andauernd, bei Kongressen, Fachtagungen und so weiter. Dazu kommt, dass auch Groenewold Segler ist; für einen Ostfriesen aus Leer, der Ems und Nordsee praktisch vor der Haustür hat, ein naheliegendes Hobby. So kamen sie ins Gespräch. Und weil beide zudem Junggesellen sind, fanden sich schnell Termine für gemeinsame Segeltouren.«
»Ach, höre ich da etwa Neid heraus? So schnell schon wieder Sehnsucht nach der Ungebundenheit? Tja, wenn das so ist …«
Stahnke beschränkte sich darauf, ihr die Zunge herauszustrecken, und fuhr fort: »Die Stelle in Essen war nicht die erste, bei der sie gegeneinander antraten. Sie konnten also mit der Situation umgehen. Klar, dass diesmal beide besonders scharf auf den Jackpot waren. Beide wegen des Karrieresprungs und des Geldes, Salewski zudem noch aus Heimatverbundenheit. Sowohl er als auch Groenewold gelten in Fachkreisen als hochkompetent und sind formal für die Stelle hinreichend qualifiziert. Beeindruckende Publikationslisten, Bücher und Artikel in erstrangigen Verlagen und Zeitschriften. Auch vor der Berufungskommission haben beide geglänzt, jeder auf seine Weise. Groenewold souverän und eloquent, Salewski faktensicher und detailversessen. Die Entscheidung fiel letztlich nur zwischen diesen beiden. Allerdings war sie eindeutig. Salewski sollte es sein.«
Bier und Cola kamen schneller als erwartet. Stahnke zahlte und gab, durstig wie er war, ein großzügiges Trinkgeld. Er prostete Sina zu.
»Salewski erhielt also den Ruf, wie es so schön heißt«, fuhr er dann fort. »Er sagte zu, unterschrieb auch den Vertrag, kündigte den Mietern seines Heisinger Hauses fristgerecht, begann damit, seinen Bielefelder Haushalt aufzulösen. Gleich zu Semesterbeginn sollte er seine Antrittsvorlesung in Essen halten, eine Traditionsveranstaltung, zu der neben etlichen Studenten auch Salewskis neue Kollegen erschienen. Der größte Hörsaal des Fachbereichs war proppevoll, und man wartete geduldig. Jedenfalls bis Viertel nach acht. Danach wartete man schon deutlich ungeduldiger. Und vergeblich. Professor Salewski erschien nicht. Zu seiner eigenen Show.«
»Und warum nicht? Wie hat er das denn begründet?«
»Gar nicht«, sagte Stahnke. »Es hat ihn nämlich niemand mehr zu Gesicht bekommen. Friedemann Salewski ist seither verschwunden.«
Sina hob die Augenbrauen. »Ach, daher weht der Wind! Groenewold ist wohl ein schlechter Verlierer. Gratuliert dem Sieger mit zusammengebissenen Zähnen, lädt ihn scheinheilig zum Cocktail auf seine Yacht ein, macht ihn besoffen und schlenzt ihn bei Tonne 13 über Bord. Weil er ja weiß, dass die Nummer zwei automatisch nachrückt, wenn die Nummer eins die Stelle nicht antritt. So in etwa?«
Stahnke schmunzelte. »Wenn du mich fragst, ja. Mit ein paar signifikanten Abweichungen allerdings. Die Einladung zur Feier kam nämlich von Salewski, die Tour fand auf dem Baldeneysee statt, und Groenewold brachte Rotwein mit. Das Ganze an einem sonnigen Sonntag. Ablegen, ein paar Schläge segeln, paar Gläschen zechen, Zwischenstation machen, ein feines Mahl im Restaurant Hügoloss, wieder Rotwein und zwei Ouzo pro Nase, anschließend unter Motor zurück zum Hafen des Essener Yachtclubs, wo Salewski Dauerlieger ist. Letzteres eindeutig eine Straftat, von wegen Alkohol am Ruder. Das war’s dann aber auch schon an Eindeutigkeit. Keine signifikante Spuren, weder in Salewskis Haus noch in dem von Groenewold in Leer, auch nicht auf der Yacht. Keinerlei bezeugte Beobachtungen eines möglichen Tathergangs. Keine Waffen oder waffenähnlichen Gegenstände. Kein Blut. Und vor allem gibt es keine Leiche.«
»Und das, was du mir eben erzählt hast …«
»… entstammt der Aussage von Professor Groenewold, genau. Er war sehr kooperativ, und soweit sich seine Angaben überprüfen lassen, stimmen sie genau. Der Wirt vom Hügoloss zum Beispiel, ein gewisser Christos Kokkinidis, erinnerte sich genau. Und der Hafenmeister vom Yachtclub hat die beiden auslaufen sehen. Einlaufen allerdings nicht, es gab da irgendwelche Bauarbeiten, um die er sich kümmern musste, viel Dreck und Lärm, das hat ihn ganz in Anspruch genommen. Schade.«
Das Dröhnen der Schiffmaschine, das die Heisingen bisher in beruhigend gleichmäßige Vibrationen versetzt hatte, änderte seinen Rhythmus, wurde langsamer und tiefer. Das weiße Fahrgastschiff näherte sich wieder einmal einem seiner Anleger, die rund um den langgestreckten, halbmondförmigen Baldeneysee, der nichts anderes war als eine aufgestaute Mäanderschleife der Ruhr, angeordnet waren. Leinen wurden bereit gemacht, um routiniert über abgewetzte Poller geworfen zu werden, die Maschine brüllte noch einmal auf und ließ das ganze Schiff erzittern, um es mit rückwärts laufender Schraube zum Halten zu bringen. Bergehölzer knarrten, Tampen ächzten, dann lag die Heisingen fest am Steg.
»Komm«, sagte Stahnke und stürzte seinen Rest Bier hinunter. »Hier müssen wir raus.«
»Wie, hier in Scheppen? Aber Heisingen liegt doch auf der anderen Seite des Sees.«
»Stimmt. Aber der Essener Yachtclub hat seinen Hafen gleich hier.«
Seite an Seite spazierten sie unter der heißen Mittagssonne. Stahnke schlenderte so langsam, dass Sina ihren leichteren Schritt kaum anpassen konnte. Offenbar hatten sie noch Zeit. Was wiederum hieß, es gab einen Termin.
»Was ist dieser Salewski eigentlich für ein Typ?«, fragte Sina. »Oder soll ich sagen: war?«
»Ich kenne ihn nur von Fotos«, antwortete Stahnke. »Klein, hager, unscheinbar. Vorstehende Zähne, fliehendes Kinn. Keine imposante Erscheinung wie Groenewold. Als Sprachwissenschaftler aber wohl eine echte Kapazität.«
»Wundert mich nicht«, sagte Sina. »So, wie du ihn beschreibst, hatte er bestimmt wenig Ablenkung. Jede Menge Zeit, sich auch durch das härteste linguistische Problem durchzunagen.« Sie kicherte.
»Chauvi, weiblicher.«
Der Yachthafen des EYC lag in einer großen Bucht des Baldeneysees, die sich der Club mit den Fahrgastschiffen der »Weißen Flotte« teilte. Zwei molenartige Landzungen umschlossen das Becken wie mit schützenden Armen. Zahlreiche Jollen, aber auch Kielboote und seetüchtig wirkende Yachten dümpelten an den Stegen. Große Lücken im Mastenwald bezeugten, dass viele Yachteigner das herrliche Wetter nutzten, um ein paar Schläge zu segeln.
Stahnke ignorierte das einladende Yachthafenrestaurant und marschierte am Ufer entlang, jetzt schneller und zielstrebiger als zuvor. Dort, wo der Uferbereich betoniert war, wartete ein Kranwagen mit laufendem Motor, alle Stützen ausgefahren, am Ausleger eine viereckige Traverse, an der zwei lange Schlaufen aus ummantelten Stahlseilen hingen. Der Kranmotor brüllte auf, die Traverse senkte sich, die gepolsterten Schlaufen tauchten ins Wasser. Zwei Uniformierte machten sich daran, eine etwa zehn Meter lange, etwas altmodisch wirkende Segelyacht mit liegendem Mast in die Schlaufen zu bugsieren.
Neben dem Kranwagen stand eine Gruppe von Männern, die das Manöver beobachteten. Eine vierschrötige, Autorität ausstrahlende Gestalt schien die Aktion zu leiten. Der ältere Mann im schmuddeligen Overall, die Hände tief in den Taschen und die Mundwinkel fast ebenso tief herabgezogen, schien der Hafenmeister zu sein. Und der alerte, kerzengerade Gentleman im hellen Anzug mit bunter Fliege war eindeutig Professor Groenewold.
Stahnke lotste Sina auf die Gruppe zu, was sich als ziemlich schwierig erwies, da der Betonboden an mehreren Stellen aufgerissen war. Brocken in allen Größen lagen herum, ebenso allerhand Werkzeuge, sogar ein Zementmischer und ein Presslufthammer samt Kompressor. Kiesaufschüttungen zeigten an, wo der Kranwagen die Baustelle durchquert haben musste. Bei den Bauarbeiten, die der Hafenmeister schon vor Wochen erwähnt hatte, schienen sich Komplikationen ergeben zu haben. Kein Wunder, dass der Mann so missmutig wirkte.
»Stahnke.« Die vierschrötige Autoritätsfigur begrüßte den Ankömmling ohne Begeisterung. »Meine Kollegen«, stellte er die Umstehenden mit einer flüchtigen Handbewegung vor. »Herrn Professor Groenewold kennen Sie ja, ebenso Heinz Bender, den Hafenmeister. Und wen bringen Sie da mit?«
»Sina Gersema, Polizeipsychologin«, log Stahnke, ohne mit der Wimper zu zucken. »Frau Gersema, dies ist Kriminalhauptkommissar Krömke.« Sina, völlig perplex, hielt Krömkes kritischem Blick und seinem schmerzhaften Händedruck tapfer stand.
»So, dann wollen wir mal«, knurrte Krömke. »Freizeitaktivitäten am Wochenende, auf Ihren besonderen Wunsch, Herr Kollege Stahnke.« Er gab dem Kranführer ein Handzeichen. Die Traverse ruckte an, die Drahtseile kamen steif, und der Bootsrumpf begann sich langsam aus dem Seewasser zu heben.
»Stopp!« Das war Bender. »Das Heck kommt zu schnell. Die vordere Trosse muss zehn Zentimeter nach achtern.« Gehorsam ließ der Kranführer das Boot wieder herab. Auch Krömke und seine Leute fügten sich den Anweisungen.
»Was soll das werden?«, flüsterte Sina Stahnke zu. »Hast du diese Aktion etwa bestellt? Wozu soll das denn gut sein?«
Stahnke schwieg verbissen. Ja, er hatte darauf bestanden, Salewskis Yacht wenigstens einmal aus dem Wasser zu holen, um auch das Unterwasserschiff genau zu untersuchen. Beliebt hatte er sich damit nicht gemacht. Zugestimmt hatten die Kollegen letztlich nur, weil er versprochen hatte, danach endlich Ruhe zu geben. »Wer weiß, vielleicht hatte der Typ nur seine Midlifecrisis und ist in die Karibik abgehauen«, hatte Krömke gesagt. »Manche Fälle sind eben nicht zu lösen, das muss man einfach akzeptieren.«
Stahnke aber dachte überhaupt nicht daran. Schon gar nicht, seit er herausgefunden hatte, seit wann Groenewolds Haus in Leer zum Verkauf stand. Drei Tage nach der gemeinsamen Baldeney-Segeltour der beiden Professoren hatte der Makler es erstmals inseriert. Und das war mehr als eine Woche vor Salewskis geplatzter Antrittsvorlesung gewesen.
»Reiner Zufall«, hatte Groenewold ganz cool behauptet und dabei an seiner affigen Fliege genestelt. »Ich wollte mich sowieso verändern, na und? Jetzt wird eben ein Umzug nach Essen draus. Wollen Sie mir deswegen etwas anhängen?«
Jetzt hing die Yacht richtig, und der Kranführer hob zügig an. Als das Boot tropfend über der Betonplatte hing, sah es viel größer aus als zuvor. Das Unterwasserschiff war schnittig geformt. Wie eine riesige Flosse hing ein mächtiger Ballastkiel am tiefsten Punkt, über zwei Meter lang und anderthalb tief. Der Kranführer ließ das Boot in eine vorbereitete eiserne Stellage sinken.
»Tja, den Film Nur die Sonne war Zeuge haben wir wohl alle gesehen«, höhnte Krömke. »Mord auf hoher See, todsichere Sache, aber als die Yacht aufgeslippt wird, hängt die Leiche noch am Kiel. Schade, dass das Leben kein Kinofilm ist, was, Stahnke?« Seine Kollegen lachten schadenfroh.
Stahnke aber starrte unverwandt auf das Unterwasserschiff. Natürlich gab es hier keine Tatspuren zu sehen, geschweige denn zu sichern. Dafür sah der Hauptkommissar etwas anderes.
»Keine Bleibombe?«, fragte er halblaut in Richtung Hafenmeister.
Der schüttelte den Kopf. »Nee. Hohlkiel von der alten Sorte. Betonfüllung als Ballast. Wieso?«
Stahnke antwortete nicht. »Kompressor einschalten«, zischte er stattdessen.
Bender zögerte nur kurz, dann führte er Stahnkes Anweisung aus. Warum wohl, fragte sich Sina, so einer lässt sich doch sonst nichts sagen. Vielleicht aus Neugier? Das könnte ich nachvollziehen.
Stahnke spannte alle Muskeln seines massigen Körpers an, packte den Presslufthammer, richtete den Meißel auf den Kiel und ließ die Maschine losrattern. Zweimal rutschte sie ab, ehe sich die Spitze zwischen die Fasern der Kunststoffhülle zu bohren und sie aufzureißen begann. Danach ging alle ganz schnell.
»Was zum Teufel …« brüllte Krömke durch den Lärm. Dann verstummte er, denn die Betonfüllung des Ballastkiels begann zu bröckeln und zu bersten, schneller als vermutet, denn sie war nicht so massiv wie angenommen. Ein Hohlraum in ihrem Inneren barg die Leiche eines kleinen, schmächtigen Mannes. Eines Mannes mit vorstehenden Schneidezähnen und, soweit sich das noch erkennen ließ, fliehendem Kinn.
Dauerlieger, schoss es Sina durch den Kopf.
Als Stahnke den Presslufthammer absetzte, rutschte der rechte Arm des Toten aus dem gesprengten Kiel heraus. Die Finger waren zur Faust geballt, und zwischen ihnen steckte etwas Farbiges. Krömke nahm es vorsichtig an sich.
Es war eine bunte Fliege.
Krömke gab seinen Kollegen einen Wink. »Gut, dass Sie kommen konnten«, sagte er zu Groenewold, während die Handschellen klickten.
»Er hat eben den Ruf vernommen«, sagte Sina. Dann küsste sie Stahnke auf die schweißnassen Lippen.
Süßer Tod in Berlin
Entschuldigung, ist hier noch frei? Ja, Sie haben recht, das kann ich in der Tat selber sehen. Trotzdem danke. Ist ja doch mächtig voll, der Dampfer. Ich musste schon eine ganze Weile stehen.
Bitte? Nein, ich bin nicht von hier, das haben Sie völlig richtig erkannt. Sie denn? Ah ja, dann ist es kein Wunder. Ein Berliner merkt natürlich sofort, ob er einen Landsmann vor sich hat oder nicht. Wie bitte? Stallgeruch? Verstehe. Ist aber irgendwie doch kein passender Vergleich, nicht wahr? Kommt von der Größe her nicht hin. Muss mal nachdenken, da gibt es bestimmt etwas Treffenderes.
Ja, durchaus möglich, dass wir uns schon einmal getroffen haben. Ich habe auch den Eindruck. Heute? Tja, ich war den ganzen Tag in der Stadt unterwegs. Richtig, in »Mitte«, so sagt man wohl. Ach Gott, Brandenburger Tor, Hotel Adlon, Museumsinsel – was man sich halt so anschaut als Tourist.
Genau, Bus gefahren bin ich auch. Diese Doppelstockfahrzeuge erinnern ja an London, bis auf die Farbe, tolle Sache das. Welche Linie? Genau. Dann haben wir uns also dort gesehen.
Ach, das haben Sie mitbekommen? Also, ich muss schon sagen, wie der Busfahrer mich angeschnauzt hat … dabei wollte ich doch nur eine Auskunft. Bei uns zu Hause würde sich das keiner erlauben. Dabei gelten wir Ostfriesen ja nicht gerade als besonders umgänglich.
Landei. Ja genau, Landei, das hat er zu mir gesagt. Das haben Sie behalten, was? Den Ton haben Sie übrigens genau getroffen. Und auch sein Lachen klang ganz ähnlich wie Ihres jetzt.
Natürlich hätte ich vorher auf den Streckenplan gucken müssen, da haben Sie völlig recht. Hängt schließlich an jeder Haltestelle. Sonst hält man ja den ganzen Verkehr auf. Zeit ist Geld, selbstverständlich.
Was ist denn da am Ufer los? Blaulichter, genau. Polizei, Krankenwagen – und noch ein Mannschaftsbulli hinterher. Hoffentlich kein schwerer Unfall. Na, die fahren ja in unsere Richtung, vielleicht sehen wir später noch, was es ist.
Und auf der Museumsinsel waren Sie auch? Pergamon-Museum? Das ist ja erstaunlich. Ich meine, Sie als Einheimischer … Aber nein, auf keinen Fall wollte ich damit sagen, dass die Berliner keine Kultur hätten. Ganz im Gegenteil, welche Stadt besitzt schon dermaßen viele Kulturgüter? Nur eben, dass Sie als Berliner, der das doch sicher alles schon kennt, ausgerechnet heute …
Soso, ihr Sohn also. Zu Besuch, aha. Klar, da muss man zusammen etwas unternehmen. Und immer nur in den Zoo geht ja auch nicht, das stimmt. Man will dem Kleinen ja etwas bieten, was? Genau. Ist schon ein richtiger Wettbewerb, wenn man getrennt lebt. Auch Liebe gibt es nicht umsonst? Na, wenn Sie das sagen.
Schön, dass Ihr Filius auf seine Kosten gekommen ist. War ja auch ’ne Schau, wie mich der Aufseher von den Stufen des Forums runtergejagt hat! Nein, wirklich, der hat kein Blatt vor den Mund genommen. Klar, Vorschrift ist Vorschrift, und ein Meter neben der Absperrung ist halt ein Meter daneben, da gibt es nichts, nicht wahr? Nicht in Preußen. Und wann kommt so ein Mann schon mal dazu, sich so richtig auszukoddern. Ist ja selber nur ein kleines Licht.
Komisch, dass der mich auch gleich erkannt hat. Als Nicht-Berliner, meine ich. Als Provinzler. Landei eben. Ja, exakt, der hat das auch zu mir gesagt, Landei, genau wie der Busfahrer.
Erstaunlich, wie gut Sie den Tonfall treffen! Ebenso wie vorhin. Tolle Sache das. Sind Sie Schauspieler? Ah so, Stadtverwaltung. Na, da machen Sie den Leuten ja auch ganz schön etwas vor.
Schauen Sie mal, da sind die Blaulichter wieder. Da, direkt vor dem Museumseingang. Was da wohl passiert ist? Hoffentlich kein Kunstraub, wäre doch schade. Anderseits, wenn man bedenkt, wo der Krempel ursprünglich herkommt – wirklich ungerecht wär’s ja nicht.
Stimmt, der Krankenwagen. Also eher etwas mit Personenschaden. Wenn da mal keine Statue umgekippt ist! Wenn so ein Ding auf einen Trupp Japaner fällt – stellen Sie sich bloß mal die diplomatischen Verwicklungen vor!
Ach herrje, sehen Sie mal da. Der dunkle Kombi, erkennen Sie den nicht? Eindeutig ein Leichenwagen. Da hat es einen Toten gegeben. Tote dürfen nämlich nicht in einem Krankwagen transportiert werden, wissen Sie?
Klar wissen Sie das. Erfährt man ja heute in jedem Fernsehkrimi, klar, Sie haben völlig recht. Entschuldigung, ich wollte mich nicht aufspielen.
Aber ob das die Blaulichter waren, die uns vorhin überholt haben? Die waren doch drüben am linken Ufer, da hätten wir sie beim Überqueren der Brücke sehen müssen. Nein, ich glaube, da ist noch etwas anderes im Busch. Na ja, dafür sind wir schließlich in einer Großstadt, nicht? Da ist eben immer was los. Durchgehend geöffnet – das gilt hier auch für das Verbrechen.
Herrlich übrigens, dass man hier so gemütlich mit dem Schiff kreuz und quer durch die Stadt fahren kann. Da ist man mittendrin und doch ganz für sich, nicht wahr? Ja sicher, abgesehen von den anderen zweihundert Leuten auf dem Dampfer natürlich. Aber jedenfalls abgeschottet von dem ganzen Rummel da draußen.
Bitte? Ja, ich nehme noch einen Kaffee. Und Sie? Einen Cappuccino für den Herrn. Ich lade Sie ein. Doch, klare Sache, schließlich sitze ich quasi an Ihrem Tisch, da will man sich doch erkenntlich zeigen. Na sehen Sie.
Wo? Stimmt, da blitzt es schon wieder blau. Das könnte die Kolonne von vorhin sein. Erkennen Sie, was da los ist?
Nein, keine freie Sicht, das ist ärgerlich. Der Bus steht im Weg. Ganz schön sperrig, diese Doppelstockdinger. Hoffentlich liegt da keiner drunter.
Wird einem aber ganz schön was geboten fürs Geld, nicht wahr?
Ah, das ging ja fix. Danke, Fräulein. Ja, zusammen. Bitte schön, stimmt so. Ihnen auch noch einen schönen Tag.
Angenehm, wenn das Personal so nett ist, nicht wahr? Dann bleibt man doch gleich viel gelassener, allem Trubel zum Trotz.
Bitte? Den Akzent hatte ich gar nicht bemerkt. Dann ist die nette junge Dame also gar nicht von hier. Verstehe.
Darf ich Ihnen den Zucker reichen? Einmal oder zwei? Bitte schön. Ja, zum Wohl. Prost Kaffee.
Auf die Landeier? Wie Sie wollen.
Bei mir zu Hause, in Leer, kann man übrigens auch mit dem Schiff durch die Stadt fahren. Na ja, ist mehr als Boot als ein Schiff, und man bekommt auch nicht besonders viel zu sehen, aber immerhin. Hafenpromenade, Altstadt, Museumshafen, Yachtanleger – und die Schrotthalden der Firma Heeren. Na, jedenfalls kann man sich gemütlich herumschippern lassen.
Apropos …
Wie? Ach, das fiel mir nur so ein, wegen der Blaulichter. Bei uns gab es nämlich letztes Jahr einen Mordfall. Ziemlich mysteriös, zuerst jedenfalls.
Nein, nicht auf dem Schiff. Es gibt da so ein Restaurant, Schöne Aussichten, direkt am Hafen, gleich neben dem Gebäude des Rudervereins. Das Rundfahrtboot fährt dicht dran vorbei. Dort ist es passiert.
Eine Serviererin. Sehr auffällige Erscheinung. Groß, gut gebaut, lange dunkle Haare, immer topmodisch gekleidet und super geschminkt. Sagte man jedenfalls. Ich selber bin ja nicht für so viel Fassadenschmuck. Bitte? Klar, die Geschmäcker sind verschieden. Gut möglich, dass Ihnen die Frau gefallen hätte. Thekla hieß sie übrigens. Gab einen ziemlich Wirbel, als sie tot aufgefunden wurde.