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Sina und Marian waren längst in ein Zwiegespräch vertieft. Wie sich herausstellte, hatten beide über Ostern Dienst, Sina in der Klinik Haus Waterkant, Marian in der Redaktion des Inselboten. Seine Freundin Alina war ebenfalls beruflich eingespannt, allerdings auf dem Festland. Stahnke, offenbar der Einzige weit und breit, der über die Feiertage frei hatte, fühlte sich prompt ausgeschlossen. Zwecks Kompensation konzentrierte er sich darauf, eine Bedienung heranzuwinken, was sich als anspruchsvolle Aufgabe erwies.
»Und, Sina, was hast du so zu tun übers Wochenende in der Klinik?«, fragte Marian. »Essenausgabe überwachen bei den Hungerhaken, damit die sich nicht die halbe Ration in die Ärmel schieben? Oder machst du etwa Happy-Hippo-Schwimmen mit den Fettsäcken?« Er stieß Stahnke den Ellbogen in die Rippen und lachte. Stahnke lachte nicht mit. Zwar fühlte er sich momentan ziemlich fit, sein Muskelkorsett war trainingsgestählt, und sein Bauch verdiente kaum noch diese Bezeichnung, aber die Erinnerung an übergewichtigere Zeiten war noch präsent und würde es immer bleiben.
Sina verzog den Mund: »Essstörungen sind nicht witzig.« Sie kniff Marian in die Speckrolle, die sich unter seiner offenen Jacke oberhalb des Gürtels wölbte. »Und nein, mit Anorektikern habe ich momentan nur am Rande zu tun. In erster Linie mit Traumapatientinnen.« Sie seufzte. »Kein leichter Job. Aber auch kein Thema für hier und jetzt. Erzähl uns lieber, was die Skandalpresse in den nächsten Tagen so zu bieten hat!«
Marian grinste. »Wenn du jetzt glaubst, ich würde diese deine Bezeichnung als respektlos und unpassend zurückweisen, dann hast du dich geschnitten. Ich weiß nicht, ob es im Journalismus schon mal die Bezeichnung Osterloch gegeben hat, aber selbst wenn – in diesem Jahr ist es gut gefüllt. Jedenfalls auf Langeoog.« Er griff nach seiner Teetasse und prostete in die Runde.
»Ach nee, da sitzt aber einer auf dem ganz hohen Ross. Willst uns wohl auf die Folter spannen.« Sina gab sich betont desinteressiert. Um im nächsten Augenblick herauszuplatzen: »Na los, sag schon, was ist denn deine große Skandalgeschichte?«
Marian lehnte sich selbstzufrieden zurück und malte mit gespreizten Fingern eine monströs fette Schlagzeile in die Luft: »Restaurantbetreiber alarmiert: Kommt McDaisy’s nach Langeoog?«, zitierte er sich selbst. »Na, was meint ihr? Wenn das kein Hammer ist!«
Stahnke zuckte die Schultern: »McDaisy’s, ach ja? Burger und Fritten und so? Ist nicht so mein Fall. Von mir aus sollen die sich hier niederlassen. Ich geh da sowieso nicht hin.«
»Tja, mein Lieber, da bist du sicher nicht der Einzige«, kommentierte Sina, »jedenfalls in deiner Altersgruppe … Tut mir ja echt leid, dir das sagen zu müssen, aber in dieser Hinsicht verläuft eine Grenze zwischen dir und mir. Und die auf meiner Seite der Grenze, glaube mir, die gehen zu McDaisy’s! Je jünger, desto lieber. Und die ganz jungen sogar fast ausschließlich, jedenfalls, wenn sie die Chance dazu haben. Diese Chance haben sie bis jetzt auf Langeoog ja nicht.« Sie schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund: »Ach herrje, jetzt begreife ich erst die Tragweite! Wenn das stimmt, dann wird sich ganz schön was verändern hier in der Restaurant-Szene, nicht wahr?«
»Allerdings, das stimmt. Sehr viel wird sich verändern. Eine regelrechte Revolution steht uns da bevor.« Er lächelte Sina dankbar an, ehe er Stahnke einen strafenden Blick zuwarf: »Mensch, du bist ja so was von hinterm Mond! Verstehst die Brisanz solch einer Entwicklung einfach nicht. Hast mir schon einen Schreck eingejagt, von wegen ich könnte daneben liegen mit meinem morgigen Aufmacher.« Wieder der Blick- und Mienenwechsel Richtung Sina: »Aber die jüngere Generation versteht mich ja, zum Glück.«
Wieder dieser Stich, diesmal an einer Stelle, die ewig schmerzen würde. Dass Sina jemals wieder etwas mit Marian anfangen könnte, war eine vollkommen unsinnige Befürchtung, geschuldet allein seiner eigenen Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit. Und diese Angst wiederum fußte auf einer Tatsache, die sich zwar zeitweise verdrängen, aber niemals aus der Welt schaffen ließ. Die fast zwanzig Jahre Altersdifferenz zwischen ihm und Sina waren einfach Fakt.
Es war Sina gewesen, die entschieden hatte, dass diese Jahre aktuell nicht von Bedeutung waren. Vielleicht würde sie es auch sein, die eines Tages anders entschied. Verhindern konnte und wollte er das nicht. Aber vielleicht beeinflussen?
Jedenfalls nicht, indem er mit ihr zu McDaisy’s ging.
»Ich finde ja, diese Hamburgerschmieden werden völlig überschätzt«, sagte er. »Das Essen dort taugt doch nichts. Einheitlicher Fertigfraß, der nur nach Sauce schmeckt, mit zu viel Fett und Ketchup und Softdrinks mit zu viel Zucker. Nicht nur ungesund, sondern auf die Dauer auch richtig langweilig. Kein Wunder, dass die dermaßen viel Werbung schalten müssen, um den Leuten das Gegenteil einzureden.«
Stahnke verstummte, als er bemerkte, dass Marian sein Besserwisserlächeln lächelte. Er wusste, dass jedes weitere Wort sinnlos war, wenn Leute erst einmal angefangen hatten, so zu lächeln. Nur, warum nicht weitaus mehr Morde passierten, weil Besserwisser andere Leute mit diesem Lächeln bis aufs Blut gereizt hatten, das wusste er nicht.
»Kinder«, setzte Marian zu dozieren an, »lieben Wiederholungen. Das weiß jeder, der schon einmal Kindern vorgelesen oder mit ihnen gesungen hat. Wehe, man verändert auch nur ein Wort oder einen Ton! Das mögen die Kleinen gar nicht. Das Bekannte ist das Vertraute, von dem keine Gefahr ausgeht, auf das man sich verlassen kann. Das liegt alles in unseren Instinkten verankert. Etwas Neues bedeutet immer auch Risiko – aber was wir schon kennen und was uns bisher nichts getan hat, das tut uns auch künftig nichts. Und weil gerade Kinder und junge Leute besonders verletzlich sind, sind sie auch ganz besonders konservativ. Am besten, alles ist wie immer, dann ist auch alles gut. Und gerade Fastfood-Essen ist immer wie immer, darauf achten die sehr, das ist geradezu Geschäftsprinzip. Das kommt an, das ist weltweit erprobt! In Fastfood-Restaurants können Kinder sicher sein, keine Überraschungen zu erleben. Darum gehen sie dorthin. Unfehlbar.«
»Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich«, knurrte Stahnke. »Sind doch längst bekannt, deine Weisheiten! Gibt es sogar als Sprichwort. Demnach hängt solches Essverhalten aber mehr mit mangelnder Bildung und Weltgewandtheit zusammen.«
»Na und? Passt doch auch.« Marian ließ sich nicht beirren. »Wenig gebildet und unerfahren sind Kinder und Jugendliche doch ganz zwangsläufig, jedenfalls gemessen an Erwachsenen – einfach auf Grund ihres geringeren Lebensalters. Wer mehr weiß, traut sich auch mehr. Wer aber wenig weiß, ist unsicher und hält sich eisern an das, was er kennt.«
»Auf alle Fälle trifft das zu«, unterstützte ihn Sina. »Hab ich doch selbst oft genug erlebt, während meines Schulpraktikums im Studium vor ein paar Jahren. Da sind wir mit dem Bus durch Holland und Belgien gefahren. Per Bordmikro habe ich die Schüler auf alle möglichen Sehenswürdigkeiten hingewiesen. Glaubt ihr, das hätte auch nur eine Laus interessiert? Aber kaum tauchte irgendwo ein McDaisy’s-Schild auf, gingen ein Jauchzen und ein wohliges Stöhnen durch den Bus. Da brauchte keiner etwas zu sagen, das sahen die alle sofort.«
»Home is, where McDaisy’s is«, sagte Marian mit versonnenem Blick.
Stahnke verschränkte die Arme. »Dann wollt ihr also sagen, dass die Jugend von heute schon rettungslos auf die Fettfressketten abgerichtet ist?«
»Nicht mit diesen Worten, sicher auch nicht hundertprozentig alle, und rettungslos klingt jetzt auch ein Stück weit sehr negativ – aber ansonsten: ja, durchaus«, antwortete Marian.
»Und wenn die Jugendlichen solcher Burger-Tempel sehen, dann rennen sie hin, ganz egal, was sonst noch im Angebot ist?«
Marian nickte.
»Die Eltern lassen das zu, um ständigen Streit zu vermeiden, oder sie gehen gleich selber mit hin?«
Kopfnicken.
»Und jetzt will jemand hier auf Langeoog, wo es so was bisher nicht gibt, eine Kettenburgerschmiede eröffnen?«
»So sieht es aus«, bestätigte Marian.
»Das wird die hiesige Restaurantszene ganz schön in Alarm versetzen«, sagte Sina. »Gegen solch eine neue Konkurrenz wird sich manches Traditionslokal nicht halten können.«
»Bin mal gespannt, ob sich die anderen Wirte das so einfach gefallen lassen«, ergänzte Marian, dem man die Vorfreude auf kommende Schlagzeilen ansehen konnte.
»Vielleicht kann die Gemeinde ja vermittelnd eingreifen, und man einigt sich irgendwie«, sagte Sina.
»Und wenn nicht?«, fragte Marian.
»Dann gibt es hier Mord und Totschlag«, sagte Stahnke.
4.
»Moin mitnanner!« Mit lautem Ächzen ließ sich Bodo Schmidt auf die Bank fallen. Die Sitzbank ächzte zurück, und die drei anderen alten Männer, die schon vorher auf ihrer angestammten Bank am Langeooger Bahnhof gesessen hatten, wackelten mit den Köpfen. Das konnte als stumme Begrüßung gedeutet werden, oder auch als Zeichen altersbedingter Muskelschwäche, was aber nur auf Harm Bengen zutraf, dessen Kopf allein schon von seiner überschweren Brille nach vorne gezogen zu werden schien. Tatsächlich aber lag das allgemeine Wackeln daran, dass Bodo Schmidts Kugelbauch in den zurückliegenden Wintermonaten noch weiter angeschwollen war.
»Moin«, erwiderte Ocko Onken als Einziger und mit Verspätung. »Und herzlichen Glückwunsch!«
»Wieso Glückwunsch? Bei mir gibt’s doch nichts zu feiern«, sagte Schmidt verdutzt.
»Und ob!« Onken, der mit seinem schlohweißen Vollbart und der verbeulten Schiffermütze wie ein Klischee-Ostfriese aus dem Fernsehzoo aussah, griente breit: »Nämlich dass Walfang heutzutage verboten ist!«
Klaas Reershemius, ein Hutzelmännchen mit spitzem, vorstehendem Kinn, krähte los vor Vergnügen, Harm Bengen kicherte wie irre, und Onken, der ebenso wie sein Banknachbar schon auf die achtzig zuging, würdigte seinen eigenen Witz mit einem heiseren Glucksen. Auch Schmidt lachte mit. Übelnehmen galt nicht, nicht in dieser Runde, nicht auf dieser Bank. Als Mitglied der Langeooger Viererbande war man hart im Nehmen. Und im Austeilen noch härter.
»So ein Wal, der hat doch ’n Klütjeleben«, krächzte Reershemius. »Dauernd im Tran und die meiste Kraft im Schwanz. Bloß Haare hat er keine. Was, Bodo?« Mit seinem Handstock deutete er auf Schmidts Glatze, in der sich die Frühlingssonne spiegelte.
»Jau, dor sechst du wat«, rief Schmidt durch das erneut aufbrandende Gelächter. »Darum wäre Harm ja auch gerne ’n Wal geworden. Aber als Zahnwal isser ja durch die Prüfung gefallen – mangels Masse. Und Barten wollen ihm auch keine mehr wachsen.«
»Tja, Harm, so sücht dat ut! Jetzt bleibt dir vom Wal bloß noch der Fischgeruch!«, sekundierte Onken.
Harm Bengen, der so an seinem fleckigen hellblauen Oberhemd hing, dass er es kaum jemals wechselte, verschlug es für einen Moment die Sprache. In einem seltenen Anflug von Verlegenheit nahm er seine dicke Brille ab, spuckte auf beide Gläser und begann, die Schlieren darauf mit einem Zipfel des besagten Oberhemds zu verreiben.
Bodo Schmidt grunzte. Den üblichen Frontalangriff, mit dem jedes Mitglied der Viererbande unfehlbar rechnen musste, das als Letztes zu den vormittäglichen Sitzungen auf der Bahnhofsbank erschien, hatte er elegant abgebogen. Jetzt konnte das Tagesgeschäft beginnen. Zufrieden warf er sich mit vollem Gewicht gegen die Rückenlehne. Wieder wackelten alle Köpfe bis auf seinen.
»Und?«, fragte Schmidt, »was gibt’s Neues? Wieder allerhand buntes Volk aus Deutschland eingetroffen?«
»Hou!«, erwiderte Reershemius. Dieses Wort – wenn es denn eines war – konnte grundsätzlich alles bedeuten. Eine echte ostfriesische Allzweckwaffe.
»Da kannste einen drauf lassen«, übersetzte Harm Bengen. »Ischa nu Ostern. Da kommen sie wieder alle angehoppelt.«
»Die Alten wie die Jungen«, fiel Ocko Onken ein. »Vor allem die Jungen, hordenweise. Man fragt sich, wo die alle herkommen.«
»Wo die Jungen herkommen?« Reershemius beugte sich vor, stützte sich auf seinen Stock und leckte sich die blassen, schmalen Lippen. »Das weiß du nicht?«
»Nicht mehr«, keckerte Harm Bengen. »Zu lange her, was? War wohl noch vorm Krieg, dein letztes Mal, was?«
»Erster Weltkrieg oder Zweiter?« Bodo Schmidts Wampe wogte vor Lachen.
»Dann müssen wir den jungen Mann wohl mal ein bisschen aufklären.« Klaas Reershemius konnte sich nur mit Mühe auf der Bank halten, trotz seines Stocks.
»Als ob du noch wüsstest, wozu das kleine Ding gut ist, das du jede Nacht beim Pieseln dreimal in der Hand hältst«, feuerte Bodo Schmidt von der Seite. Reershemius verschluckte sich.
»Und als ob du dein Ding seit dreißig Jahren überhaupt noch mal gesehen hättest, außer im Spiegel«, attackierte Onken. Damit war er den Schwarzen Peter wieder los. Und Bodo Schmidt, eben noch so guter Dinge, hockte wieder im Zentrum des erneut aufbrandenden Hohngelächters.
Ein Schrilles Pfeifen unterbrach das Lachen und Lästern. Der Inselzug mit seinen bunten Waggons näherte sich vom Fährhafen her. Erwartungsvoll beugten sich die Mitglieder der Viererbande vor.
Das Ritual war immer dasselbe. Kaum dass der Zug zum Stehen gekommen war, quollen die Touristen über die offenen Plattformen aus den Wagen, liefen ein paar eilige, ziellose Schritte, blickten sich suchend um und hasteten dann auf die große Glastür des Bahnhofsgebäudes zu. Jedenfalls die Neulinge taten das. Die Erfahreneren jedoch, die, die schon einmal oder öfter auf Langeoog Urlaub gemacht hatten, schlenderten in aller Ruhe den Bahnsteig entlang zur Seitenfront des Gebäudes, dorthin, wo die kleinen Containerwagen mit dem Reisegepäck abgestellt wurden, die auf einem flachen Waggon mitgereist waren. Dann allerdings kamen auch die Erfahrenen in Wallung. Die Bahnbediensteten lösten nur noch schnell die seitlichen Verschlüsse der Containerwagen, dann brachten sie sich in Sicherheit, und die Reisenden fielen auf der Suche nach ihren Koffern über die Wagen her. Ob es nun die Neulinge oder die Inselroutiniers waren, die dabei ihre Ellbogen beherzter einsetzen, war schwer zu entscheiden.
»Lernen die eigentliche keine Zahlen mehr heutzutage?«, meckerte Reershemius. »Die Gepäckwagen haben Nummern dran, die kann man sich doch wohl merken.«
»Sind aber teilweise zweistellige Zahlen«, gab Onken zu bedenken. »Und diese Leute da kommen vom Festland.«
»Aus Deutschland«, korrigierte Bodo Schmidt.
»Auch wieder wahr«, gab Reershemius zu.
»Vielleicht merken die sich heutzutage auch nichts mehr, weil die ja meist alle verstöpselt sind«, ließ sich Harm Bengen vernehmen, die flaschenbodendicke Brille wieder auf der Nase. »Das lenkt ja ab, sagt man.«
»Verstöpselt?« Allein dieses Wort klang aus Bodo Schmidts Mund lüstern und schmierig. »Meinst du wirklich?«
»Ja, sicher.« Harm Bengens Kopf wackelte noch eifriger als sonst. »Kann man doch sehen, wie denen überall die Schnüre raushängen.«
»Ich glaube, die merken nicht nur sich nichts mehr, die merken überhaupt nichts mehr«, knarzte Onken. »Die mit den Stöpseln, die können ja schon mal nicht mehr hören, was um sie herum vorgeht. Und die mit diesen Spielzeugtelefonen in der Hand, wo sie dauernd draufgucken, die sehen nichts anderes mehr. Die könnteste statt nach hier auch nach München schicken, die würden den Unterschied nicht merken.«
»Oder nach Gifhorn auf ’n Rübenacker«, behauptete Harm Bengen.
»Oder in die Wüste«, steigerte Klaas Reershemius.
»Oder nach Norderney«, sagte Bodo Schmidt.
Allgemeines Gestöhne und Kopfschütteln. »Nee, das nun doch nicht«, widersprach Ocko Onken. »Langeoog oder Norderney, das kann ja wohl selbst ein Blinder mit Krückstock unterscheiden.«
»He«, maulte Harm Bengen und plierte durch seine Brille. »Nu’ mal fein vorsichtig hier. Pass auf, was du sagst.«
»Genau, vorsichtig«, warnte Klaas Reershemius und rammte seinen Stock auf den Boden. »Selber Krücke.«
»Was seid ihr denn plötzlich alle so empfindlich?«, wunderte sich Ocko Onken.
»Ja, stimmt. Was ist denn mit euch?«, pflichtete Bodo Schmidt bei.
»Du sei mal schön still, oller Pottwal«, grummelte Harm Bengen. Klaas Reershemius nickte stumm.
»Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass die Kinder nie was tragen?« Ocko Onken wechselte das Thema. »Ich meine, Koffer, Taschen oder so. Das lassen die alles schön die Alten machen.«
»Wie denn auch«, sagte Klaas Reershemius. »Rundrücken, Übergewicht und zu doof zum Geradeauslaufen. Tragen ist da nicht mehr drin.«
»Ach, so doof können die gar nicht sein«, widersprach Harm Bengen. »Lassen ihre Ollen für sich schleppen, das ist doch clever.«
»Und wenn die doch mal mit anpacken sollen, dann können die das nicht, weil sie ja die Hände voll haben. Mit ihren Spieltelefonen«, sagte Klaas Reershemius.
»Das sind Handys«, korrigierte Ocko Onken.
»Nee, die heißen i-Pods.« Bodo Schmidt wusste es besser.
»Ei-Pott? So was gab’s früher schon. Zum Eierkochen. Für sechs Stück. Mann, hab ich mich an so was mal verbrannt, Teufel auch!«, krächzte Harm Bengen.
»Wieso wollen kleine Jungs denn Eier kochen?«, wunderte sich Klaas Reershemius.
»Na ja, ist ja nu Ostern, vielleicht deswegen.« Harm Bengen zuckte die Achseln.
»Als ob kleine Jungs mit ihren Eiern nichts anderes anzufangen wüssten.« Das war natürlich Bodo Schmidt.
»Ostern.« Aus Ocko Onkens Mund klang das wie ›Themawechsel‹. »Geht ihr denn dieses Jahr auch wieder zum Osterfeuer?«
»Ach, ich weiß nicht«, quengelte Klaas Reershemius. »Ist ja immer alles voller Touristen. Da kommt unsereiner an die Bierbude ja kaum noch ran.«
»Du meinst wohl ans Klohäuschen«, stichelte Bodo Schmidt. »Eins trinken, zwei pieseln, so sieht’s doch bei dir aus. Also ich geh auf jeden Fall wieder hin. Notfalls deponiere ich mir vorher mein Bier unter den Bahnschienen.«
»Trotz all der Touristen?«, wunderte sich Harm Bengen.
Bodo Schmidt grinste lüstern: »Nicht trotz, sondern wegen! Und zwar wegen der Touristinnen.«
»Stehst wohl auf Walkühe«, kicherte Klaas Reershemius.
Ocko Onken machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir bloß keine Hoffnungen, dass es was zu sehen gibt. Ist noch viel zu kalt, die Weiber haben einfach viel zu viel an.« Er deutete auf den Bahnhofsvorplatz, wo sich die letzten frisch eingetroffenen Inselgäste verliefen, begleitet vom mehrstimmigen Quietschen der überforderten Rollkofferräder. »Darum haben wir hier ja auch nur den halben Spaß.«
»Außerdem ist da bestimmt wieder alles voller Kinder«, schob Klaas Reershemius nach. Er hatte sein Hassthema des Tages gefunden; anscheinend ging ihm die Überalterung der Gesellschaft noch viel zu langsam. »Toben da rum und kreischen, oder sie stehen überall im Weg und glotzen auf ihre Spielzeugtelefone, oder von mir aus auf ihre Ei-Pott-Kocher. Und dauernd kriechen sie einem zwischen den Beinen durch und suchen nach ihren Eiern.«
»Ha! Nach ihren, meinst du? Oder nach deinen?« Auch Bodo Schmidt hatte sein Thema, aber das war längst nichts Neues mehr.
»Ohne diese Kinder wäre es beim Osterfeuer auf jeden Fall schöner.« Harm Bengen pflichtete Reershemius bei. »Man müsste die irgendwie da weghalten. Kann man Kinder zu Ostern nicht einfach verbieten?«
Die anderen drei wiegten zweifelnd die Köpfe. »Da hat die Kurverwaltung bestimmt was gegen«, mutmaßte Ocko Onken. »Nee, verbieten geht nicht. Aber weglocken vielleicht.«
»Wie denn weglocken?«, fragte Harm Bengen hoffnungsvoll.
»Na, wo stehen die denn drauf?«, fragte Ocko Onken. »Fernsehen. Oder Computer.«
»Oder dieses Fertigfutter«, mutmaßte Klaas Reershemius. »Diese weichen Brötchen mit Ketchup und so ’ner platten Boulette drauf und geschmolzenem Scheiblettenkäse, wie heißen die noch?«
»Schiet«, krächzte Harm Bengen. »So wie das klingt, kann das doch nur Schiet sein.«
»Na und? Computer sind auch Schiet. Und im Fernsehen kommt auch kaum noch was anderes.« Reershemius klang schon wieder beleidigt.
»Hamburger«, erläuterte Schmidt wichtig. »Du meinst Hamburger.«
»Hamburger? Nee, das ist ja ’n büschen weit weg«, erwiderte Reershemius. »Von wegen, zum Kinderweglocken.«
»Blödsinn!« Schmidt lachte, dass sein Speckbauch einen Wellengang entwickelte, der ihn fast von der Bank warf. »Hamburger sind was zum Essen, das weiß doch jedes Kind! Die gibt’s nicht nur in Hamburg, die gibt es überall.«
»Bei uns aber nicht«, stellte Ocko Onken fest.
»Und das ist auch gut so«, ergänzte Harm Bengen.
»Wieso das denn? Für dich und Klaas ist das doch direkt bedauerlich. Weiches Brötchen und dünne Frikadellen sind doch gut, von wegen für ohne Zähne. Die könntet ihr doch lutschen!« Schmidts Bauch kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Er waberte sogar so stark, dass die Spitze von Klaas Reershemius’ Stock ihn glatt verfehlte, als der Alte wütend zustieß. Schmidt lachte nur noch lauter.
»Hamburger sind Schiet«, beharrte Harm Bengen. »Alles Fertigfraß, mit Chemie drin und ohne Vitamine. Die Pommes dabei sind schieres Fett. Und was die dazu trinken! Nix als Zucker mit Wasser und Kunststofffarbe. Igitt, kann ich da nur sagen.«
Ocko Onken staunte: »Seit wann interessierst du dich denn für gutes Essen? Und woher weißt du das alles?«
»Von Bea.« Seine Augen hinter den flaschenbodendicken Brillengläsern bekamen einen verliebten Ausdruck. »Die Kleine hat doch jetzt dieses Restaurant, wo es so viel Gemüse gibt, bloß dass das anders heißt. Die ist toll, die kennt sich aus.«
»Bea Wulf?« Bodo Schmidt fiel fast der Unterkiefer weg. »Sag bloß, die Lady ist dein neuer Schwarm! Donnerwetter, hätt ich ja nicht gedacht, dass sich in deinem alten Gerippe noch was regt. Bea Wulf, mein Lieber, na, du traust dich was! Das ist ’ne Frau von Format, ich kann dir sagen, die wär ja eher noch was für mich!«
Einen Moment lang herrschte Schweigen auf der Bank; Onken und Reershemius schauten Bengen von der Seite an. Erst als der schallend losprustete, lachten sie laut mit. Und Bodo Schmidt guckte verdutzt.
»Von wegen neuer Schwarm. Bea ist doch seine Enkelin!«, klärte Onken ihn auf.
»Genau.« Bengen nahm die Brille ab, um sich die Lachtränen wegzuwischen. Seine Augen schienen plötzlich in Faltenfächern verschwunden zu sein. »Bea ist klasse. Die weiß Bescheid. Und darum ist es auch gut, dass es solche Hamburgerschmieden hier auf Langeoog nicht gibt.«
»Noch«, sagte Bodo Schmidt leise.
»Weiß gar nicht, warum du die und ihren Laden so toll findest. All das Grünzeug, das die einem vorsetzt, das ist doch mehr was für Hasen!«, stichelte Klaas Reershemius. »Als ob du nicht selber auch lieber zu Renko gehst und dir einen schönen gebratenen Rotbarsch vorsetzen lässt.« Er hielt inne, legte den Kopf schief, schien in sich hineinzuhorchen. »Wieso ›noch‹?‹«, fragte er dann.
»Ja, genau.« Auch Onken hatte etwas gemerkt. »Wieso ›noch‹?«
Bengen sagte nichts, obwohl sein Mund offen stand.
»Keine Zeitung gelesen heute früh?«, fragte Bodo Schmidt zurück, seinen Wissensvorsprung genüsslich auskostend. Die Wal-Witze auf seine Kosten schrien nach Rache.
»Klar«, gab Reershemius zurück. »Wie jeden Morgen. Aber da stand nichts. Bloß was von Merkel und Bohlen und so ’n Zeug.«
»Kein Wunder«, sagte Ocko Onken trocken, »du liest ja auch die Bild.«
»Na und? Die kann man wenigstens lesen!«, schnauzte Reershemius.
»Jedenfalls die Überschriften«, stimmte Harm Bengen zu. Sein Kopf wackelte bestätigend. »Die sind groß genug.«
»Ach, ihr guckt euch doch sowieso nur die Bilder an«, lachte Bodo Schmidt und leckte sich die Lippen. »Nackte Weiber zum Frühstück, als ob das bei euch noch was nützen würde!«
»Jetzt aber raus mit der Sprache!«, fuhr Onken dazwischen. »Von welcher Zeitung redest du? Und was stand da drin?«
»Vom Inselboten«, rückte Schmidt endlich heraus. »Und da stand drin, dass wir vielleicht bald doch einen McDaisy’s nach Langeoog kriegen.«
»Einen was?«, krähte Reershemius. »Ich dachte, der heißt McAllister! Oder er hieß so, jedenfalls, bis sie ihn abgewählt haben.«
»McDaisy’s, Mensch! So ein Fettfutter-und-Zuckerbrause-Laden, mit Hamburgern und Pommes und so. Nicht dieser christdemokratische Halbschotte.« Ocko Onken war von Herzen Sozialdemokrat; warum, das wusste er zwar schon lange nicht mehr, aber gegen die Konservativen war er aus Prinzip. Irgendwie.