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»Ein McDaisy’s kommt hierher?« Harm Bengen sprach ungewohnt laut. Sein Kopf saß gerade und bewegungslos auf seinem faltigen Hals. »Das kann überhaupt nicht sein. Ist doch bestimmt verboten, hier so was aufzumachen.«
»Ist es nicht!«, triumphierte Bodo Schmidt. »Ja, ja, hättet ihr mal doch den Inselboten gelesen, da steht das nämlich alles drin. Dieser Redakteur, wie heißt der noch, Gottverhau oder so ähnlich, der hat nämlich unseren Bürgermeister genau das gefragt. Tja, und der Bürgermeister meint, dass er da überhaupt nichts zu verbieten hat.«
»Was?« – »Unmöglich!« – »Kann ja gar nicht.« – »Hier darf doch nicht jeder, wie dass er glaubt, dass er meint!« – »Also früher, da hätte es das hier nicht, ich meine …« – »Hat dieser Bürgermeister denn überhaupt keinen Mors in der Buxe?« Die anderen drei Mitglieder der Viererbande zeterten wild durcheinander. Bodo Schmidt grinste nur. Endlich schwamm er wieder obenauf. Wie Walspeck.
Dann zog er eine zerknitterte und wieder aufgerollte Zeitung aus einer der vielen Taschen seiner Weste. »Wenn jemand hier auf der Insel ein Gebäude ankauft oder pachtet, das bereits als Restaurant konzessioniert ist, dann kann er darin auch ein Restaurant betreiben«, zitierte er, ohne die Zeitung aufzuschlagen; er hielt sie vielmehr wie ein Ausrufezeichen vor sich in die Luft. »Darauf, was für eine Art Restaurant das dann ist, hat die Gemeinde keinerlei Einfluss, sagt der Bürgermeister.«
»Dat giff’t ja wol nich.« Ocko Onken war die Entrüstung pur. »So wenig haben die zu sagen? Dafür machen die aber ganz schön viel Wind.«
»Anders sieht es aus, wenn es sich um einen Neubau handelt. Dann ist eine Genehmigung natürlich notwendig«, deklamierte Schmidt weiter.
»Na also, wusste ich’s doch. Dann können die dem also doch ins Frittenfett spucken, diesem McDaisy’s.« Siegessicher entblößte Harm Bengen sein Zahnfleisch.
»Von wegen.« Wieder wusste es Bodo Schmidt besser. »In solchen Fällen ist nämlich nicht die Gemeinde zuständig, sondern der Landkreis. Und diese Herrschaften sitzen ja bekanntlich drüben in Deutschland.«
»Der Landkreis? In Deutschland? Sag bloß, die dürfen entscheiden, was wir hier zu essen kriegen!« Das empörte Klaas Reershemius noch mehr als jeder Norderney-Vergleich.
»Musst ja nicht hingehen, auch wenn die hier aufmachen«, widersprach Schmidt. »Außerdem verkaufen die sowieso nix in Schnabeltassen.«
»Na, von wegen!« Ocko Onken lüpfte seine Schiffermütze und rieb sich erregt die spärlichen Haarstoppeln. »Wenn dieser Laden, dieser Imbiss, also dieser McDaisy’s wirklich hier aufmacht, dann rennen alle Kinder und Jugendlichen hin, darauf kannste einen lassen.«
Klaas Reershemius zuckte die Achseln, stieß seinen Stock aufs Pflaster und kreuzte die Hände über dem Griff. »Na und? Dann sind die Blagen alle gut aufgehoben, und wir anderen wissen, wo wir nicht hingehen müssen, um unsere Ruhe vor denen zu haben.«
»Oh nee. Nee nee!« Harm Bengen fuchelte aufgeregt mit dem Zeigefinger. »So einfach ist das nicht. Weil, wenn die Jungen alle zu diesem Burgerladen gehen, dann gehen ein paar von den Alten sicher mit. Im Urlaub muss ja Familie sein, nicht? Geht ja nicht anders. Und diese Gäste, die jungen wie die alten, die fehlen dann den anderen Lokalen! Dann sind die nicht mehr ausgelastet. Und weil die doch alle so knapp kalkulieren müssen, hat mir Bea erzählt, werden die das nicht lange verknusen können. Und dann …«
»Dann machen die dicht«, unkte Ocko Onken mit Grabesstimme.
»Und dann musst du wirklich zu McDaisy’s gehen, wenn du noch mal auswärts essen willst«, sagte Harm Bengen zu Reershemius. »Weil es die anderen Restaurants nämlich nicht mehr gibt.«
»Was für ein Quatsch!«, widersprach Bodo Schmidt, obwohl auch seine Augen vor Schreck gerundet waren. Er ließ die aufgerollte Zeitung fallen. »Es machen hier doch nie und nimmer alle Restaurants dicht, nur weil ein einziger McDaisy’s eröffnet wird! Das ist doch pure Schwarzmalerei. Guckt euch doch bloß mal um, wie viele verschiedene Fressläden es hier gibt!«
»Klar, das stimmt«, antwortete Onken. »Natürlich gehen nicht alle ein. Sondern nur einige. Nur weiß man vorher nicht, welche das sein werden. Vielleicht Renko Heidergott mit seinem Fischlokal? Oder vielleicht … Harms kleine Bea?«
»Bea ist zäh, die gibt so schnell nicht auf«, verkündete Harm Bengen mit brüchiger Stimme.
»Mag sein. Aber kämpfen wird sie müssen. Weil auch die anderen kämpfen werden, kämpfen wie die Kanalratten!«, sagte Onken. »Harte Bandagen. Ein paar werden dabei hopsgehen. Und bei den anderen wird nachher auch nicht alles so sein wie vorher, weil sie ja versuchen müssen, diesem McDaisy’s die Kunden abzujagen. Dabei werden sie sich denen wohl ein bisschen anpassen müssen.«
»Anpassen?«, fragte Reershemius. »Du meinst – überall weiche Brötchen und Fettpommes?«
»Musste mit rechnen.«
»Oh Gommes nee!«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann fragte Harm Bengen: »Wer ist es denn nun eigentlich? Also der, der hier so ’nen Laden aufmachen will? Ich mein, dieser Herr Meckes selbst isses ja wohl nicht.« Er runzelte die Stirn. »Daisy. Ist das nicht überhaupt ein Frauenname?«
»Ihr werdet es mir nicht glauben.« Wieder schickt Bodo Schmidt sich an, seinen Wissensvorsprung genusssüchtig auszukosten. Angesichts dreier finster blickender Augenpaare jedoch verzichtete er lieber darauf. »Also gut, es ist Heiko Grendel. Was sagt ihr nun?«
»Heiko? Ha!« Ocko Onken lachte kurz und freudlos auf. »Dann haben wir ja nichts zu befürchten. Heiko kriegt doch nie was gebacken.«
Harm Bengen lachte nicht. »Heiko Grendel alleine?«, hakte er nach.
»Nee«, sagte Bodo Schmidt. »Wo soll der denn das ganze Geld hernehmen, das er dafür braucht? Die Zeitung schreibt, dass er noch zwei Leute hinter sich hat. Investoren nennt man so was.«
»Aha«, grummelte Klaas Reershemius. »Zwei aus Deutschland, stimmt’s?«
»Stimmt«, bestätigte Schmidt.
»Und die haben Geld übrig, Geld, das Junge kriegen soll?«
Bodo Schmidt nickte.
»Dann wird es vielleicht doch ernst«, sagte Reershemius und hieb erneut seine Stockspitze aufs Pflaster. »Leute, die schon Geld gemacht haben, die wissen, wie das geht. Anders als Heiko Grendel. Und reiche Leute sind nie zufrieden. Die wollen immer noch mehr.«
»Aber warum geben die sich dann überhaupt mit Heiko ab?«, fragte Ocko Onken. »Heiko ist kein Koch, und als Geschäftsführer bringt er’s auch nicht, das ist erwiesen. Ja, wenn er wenigstens ein passendes Gebäude hätte! Dann könnt ich’s ja verstehen, von wegen keine Genehmigung und so. Aber er hat ja … keins …« Er stockte und rieb sich nachdenklich den schlohweißen Vollbart. »Oder denken die etwa … dass Heiko …«
Reershemius nickte. »Tjabbes Laden. Der steht leer.«
»Aber der gehört doch … Tjabbe?«
»Tjabbe Grendel liegt im Hospiz, in Leer.« Reershemis’ ohnehin schmallippiger Mund wurde zu einem dünnen Strich mit abwärts gebogenen Enden. »Soll es wohl nicht mehr lange machen, heißt es.«
»Ja und? Der alte Knochen ist zäh«, sagte Onken. »Außerdem, selbst wenn er demnächst in die Kiste springt – wer sagt denn, dass Heiko das Haus erbt?«
»Wer denn sonst? Heiko ist Tjabbes einziger Neffe, sonst ist da keiner.« Die Familienverhältnisse auf der Insel kannte Reershemius ganz genau.
»Na ja, er könnte doch auch alles sonst wem vererben, nicht? So begeistert von Heiko war Tjabbe doch nie.«
Reershemius schüttelte den Kopf. »Selbst wenn. Grundbesitz aus der Familie geben, so etwas tut man doch nicht. Tjabbe bestimmt nicht.«
»Das Haus ist in miesem Zustand«, warf Bodo Schmidt ein. »Deswegen ist doch der letzte Pächter raus. War ja auch keiner da, an den er sich wenden konnte, wenn es mal irgendwo durchgeleckt hat oder die Heizung kaputt war.«
»Für einen Investor mit Kohle im Rücken kein Problem«, sagte Onken. »Und Leerstand ist doch geradezu ideal. Dann könnten die praktisch gleich anfangen.«
»Sowie Tjabbe tot ist«, knurrte Reershemius. »So viel Zeit muss schon noch sein.«
Schmidt machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das bisschen …«
»Dann steht der Hamburger-Invasion ja eigentlich kaum noch was im Wege«, sagte Onken. »Oder, mit anderen Worten: Die goldene Möwe kreist schon über Langeoog.«
»Wieso denn goldene Möwe?«, fragte Reershemius verständnislos.
Schmidt lachte. »Warte nur, bis die hier sind und ihre Werbung angebracht haben! Dann weißt du schon, was das bedeuten soll.« Mit ausholenden Gesten malte er ein großes, abgerundetes »M« in die Luft, so, wie kleine Kinder einen fliegenden Vogel malen.
»Bis dahin werden wir aber noch einen ganz schönen Sturm erleben«, prophezeite Onken. »Einen Sturm der Entrüstung! Sobald sich das alles rumspricht, werden so ziemlich alle Gastronomen der Insel auf die Barrikaden gehen. In Heiko Grendels Haut möchte ich dann nicht stecken.«
»Ich auch nicht«, sagte Reershemius. »Trotzdem versteh ich das mit der goldenen Möwe nicht. Begreifst du das, Harm?«
Er blickte zur Seite. Aber Harm Bengen war verschwunden.
»Meine Zeitung ist auch weg«, maulte Bodo Schmidt.
5.
Henning van der Werft liebte es, abends von der Melkhörndüne über Land und Meer zu blicken, dem Rauschen der Brandung, dem Pfeifen des Windes und dem Kreischen der Möwen zu lauschen, den Schein der untergehenden Sonne verblassen und die Farben der Natur nach und nach verschwinden zu sehen. Meist machte er sich erst auf den Heimweg, wenn alles fahlgrau war und er die schmalen Wege durch die Nachbardünen und sein unten abgestelltes Fahrrad kaum noch erkennen konnte. Dann erst hatte er das Gefühl, den Tag gründlich ausgeschöpft, das Angebot der Insel Langeoog bis zur Neige ausgekostet zu haben.
Gründlichkeit war eine von Henning van der Werfts hervorstechenden Eigenschaften. Vor allem, wenn es um seine eigenen Interessen ging.
Obwohl es ein Frühlingstag gewesen war wie gemalt, war van der Werft schlecht gelaunt, als er sich an den Abstieg von Langeoogs höchster Erhebung machte, und mit jedem Schritt, den er sich den Pfad entlang tastete, wurde seine Laune schlechter. Sein Partner hatte ihn versetzt, schon das zweite Mal heute. Dabei gab es wichtige Dinge zu beschließen und auszuführen. Klar, notfalls konnte van der Werft auch alleine aktiv werden. Aber das war womöglich riskant, und ein Henning van der Werft sicherte sich gerne ab.
Vorgestern hatten sie sich noch getroffen, wie verabredet. In diesem komischen Lokal, wo es nur Gemüse und diese merkwürdigen Ersatzprodukte gab, wie hieß der Laden noch? Richtig, Veggie-Paradies, was für ein bescheuerter Name für ein Restaurant! Na ja, immerhin passte er, fand van der Werft. Sein Partner, der neuerdings anscheinend auf dem Gesundheits-Trip war, hatte gelacht und sich köstlich amüsiert, weil er mit den ungewohnten Gerichten und ihren kryptischen Bezeichnungen auf der Karte nicht zurechtkam. Der Typ hatte manchmal wirklich einen seltsamen Humor. Egal, er war liquide und bereit, sich zu beteiligen. Auf nichts anderes kam es an.
Van der Werft war anschließend wieder aufs Festland gefahren, zurück nach Leer, einige Dinge klären. Da war dieser Einbruch gewesen, allerhand war weggekommen, da galt es, Polizei und Versicherung zu beruhigen und die Presse aus dem Spiel zu halten. Die Sicherheitsvorkehrungen in der neuen Abteilung waren wohl noch nicht ausgereift, man musste nachbessern, aber das ging ja niemanden etwas an. Sein Partner wollte derweil auf Langeoog bleiben, ein paar Tage ausspannen. Hatte von frischer Luft und Brandungs-Kontemplation gefaselt. Und natürlich wieder gelacht, als van der Werft verständnislos guckte. Kontemplation gut und schön, er selbst mochte das ja auch, wenn es gerade mal passte, aber doch nicht tagelang! Und schon gar nicht, wenn es Arbeit zu tun gab.
Andererseits – ein allzu aktiver Partner war auch nicht wirklich wünschenswert, dachte van der Werft. War doch nicht schlecht, immer einen kleinen Vorsprung vor ihm zu haben, gedanklich wie strategisch. Sollte er sich also ruhig ein bisschen hängen lassen. Sollten ruhig auch noch mehr Leute so denken wie er! Das war gut für Langeoog, das war gut fürs Geschäft. Demnächst auch für sein Geschäft.
Vor allem für seins.
Heute Mittag hatten sie sich erneut verabredet, diesmal im Seestern, darauf hatte van der Werft bestanden, da gab es anständig Fleisch und Fisch. Sicherheitshalber hatte er dort einen Tisch reserviert. Hatte dann aber alleine daran gesessen und gegessen, denn sein Partner war nicht erschienen.
Der war auch im Hotel nicht ans Telefon gegangen, obwohl die Rezeptionstante gesagt hatte, sein Schlüssel sei nicht abgegeben worden, was eigentlich üblich sei, wenn der Gast das Haus verließ. Und sein Handy war abgeschaltet. Die ganze Zeit. Das war ungewöhnlich.
Dass man sich abends an der Melkhörndüne treffen wollte, war mehr eine lockere Absprache gewesen. Van der Werft war trotzdem hergekommen, in der Hoffnung, seinen Partner wenigstens hier anzutreffen. Vergebens.
Henning van der Werft strauchelte. Inzwischen war es schon zu dunkel, um die Unebenheiten des Dünenpfades zu erkennen. Schon bald würde man nicht einmal mehr den Pfad erkennen können. Verdammt, er brauchte Licht! Laternen gab es hier natürlich keine. Aber hatte er nicht eine Taschenlampe, so eine mit einer kleinen, einklappbaren Kurbel zum Selbstaufladen, in einer seiner Anoraktaschen?
Er stocherte und wühlte mit beiden Händen in seinen Außentaschen herum. Dabei rutschte seine Wollmütze heraus; zum Glück spürte er es, denn sehen konnte er schon nichts mehr. Er bückte sich, um nach dem Ding zu tasten.
Etwas fauchte über seinen gesenkten Kopf hinweg. War das ein Vogel gewesen, ein Nachtjäger? Aber …
Der zweite Schlag traf seinen Nacken. Er kam von oben und war wuchtig, und dass van der Werft nicht sofort zu Boden ging, lag wohl daran, dass seine Kapuze, die ihm beim Bücken auf den Hinterkopf gerutscht war, die Wirkung ein wenig milderte. So ging er nur in die Knie. Instinktiv ließ er sich zur Seite fallen, dorthin, wo er den Angreifer nicht vermutete. Ein dumpfer Laut verriet ihm, dass der dritte Hieb den dicht bewachsenen Boden getroffen hatte. Glück gehabt. Eilig rollte sich van der Werft weiter in die eingeschlagene Richtung.
Das ging einfacher und schneller als erwartet; das Gefälle der Dünenflanke half ihm dabei. Als sein Körper von alleine wieder zum Stillstand kam, kämpfte van der Werft den Impuls nieder, aufzustehen und zu flüchten. Besser in Deckung bleiben. Da drüben, nur ein paar Schritte entfernt und oberhalb von ihm, gab es jemanden, der es auf ihn abgesehen hatte und mit einem Knüppel bewaffnet war. Wer mochte das sein? Und was für Waffen besaß dieser Angreifer womöglich noch?
Van der Werft blieb regungslos liegen, eine Hand auf seinen Mund gepresst, um das Geräusch seines vor Schreck keuchenden Atems zu dämpfen, während er mit der anderen fieberhaft weiter nach der Taschenlampe suchte. Er lauschte, aber zu hören war nichts außer dem Rauschen des Windes und dem adrenalingepeitschten Pochen seines Herzens, das ihm in den Ohren dröhnte. Dafür konnte er etwas erspähen. Gegen den restlichtbleichen Saum des Himmels zeichnete sich eine Silhouette ab, eine geduckte Gestalt, die sich langsam um ihre eigene Achse zu drehen schien.
Er kann mich nicht sehen, dachte van der Werft. Der tiefe Schatten der Senke, in der er lag, musste für den Angreifer wie ein schwarzes Loch sein. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass der Kerl ihn auch nicht hören konnte, dann hatte er eine Chance. Eine gute Chance, dachte er und staunte selbst über seine Kaltschnäuzigkeit.
Einen Augenblick später war es damit vorbei. Eine Bewegung an seinem Oberschenkel, das kribbelige Gefühl einer Berührung, ließ ihn zusammenzucken. Ihm brach der Schweiß aus. Das Vibrationsgefühl wiederholte sich, und ehe er noch begriff, dass es von seinem eigenen Handy ausging, kam auch schon der Signalton dazu. Seine suchende Hand steckte natürlich in der anderen Tasche. So schnell es ging, drehte er sich auf dem Rücken, angelte mit der Linken in der anderen Hosentasche nach dem Mobiltelefon, riss es heraus und versuchte es stumm zu schalten. Verdammt, die Tastensperre! Es dauerte eine Sekunde, sie zu deaktivieren.
Genau eine Sekunde zu lang. Hell und klar, wie hingemalt, hing der Anfang seines Klingeltons über der dunklen Dünenlandschaft. Noch nicht einmal in voller Lautstärke, ihm aber kam es vor wie eine Alarmsirene. View to a kill von Duran Duran – was hatte er sich nur dabei gedacht?
Er schaute hoch zum Dünenkamm. Wo war die geduckte Gestalt?
Sie war verschwunden. Eingetaucht in den Kernschatten. Auf dem Weg zur erneuten Attacke auf sein Ziel, das ihm seine Position so leichtfertig verraten hatte. Henning van der Werft keuchte panisch und zog seine Beine an den Körper, die Füße in die Luft gereckt wie ein auf den Rücken gedrehter Käfer. Aber vielleicht doch nicht ganz so hilflos; ein gut gezielter Tritt war sicher nicht die schlechteste Verteidigung gegen den knüppelschwingenden Angreifer.
Wenn er in dieser Dunkelheit nur zielen könnte!
Er hielt den Atem an. Der Wind tat das Gleiche. Tatsächlich, jetzt konnte er hören, wie sich jemand durchs hohe Gras näherte, vorsichtig tastend, aber stetig. Jetzt streifte dieser Jemand wohl einen Busch; das Kratzen der Zweige über den Stoff einer Jacke ließ van der Werft erschauern wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Wandtafel.
Die Schritte kamen immer dichter heran. Schon ließ sich unterdrücktes Schnaufen erahnen. Van der Werft dachte an den Knüppel.
Lautes Rauschen in der Luft. Hektisch flappende Geräusche, ein wütender, krächzender Schrei. Dann ein Antwortschrei, ebenfalls schrill, aber menschlich. Und ein dumpfer Aufprall, nur wenige Schritte von Henning van der Werft entfernt, gefolgt von lautem Stöhnen und gemurmelten Verwünschungen.
Da war van der Werft schon auf den Füßen. Tief gebückt und so schnell er sich traute, hastete er davon, die Hände vorgestreckt, um nicht ebenso wie der unbekannte Angreifer auf der Nase zu landen, nichts wie weg von diesem unheimlichen Ort, dorthin, wo er den nächsten befestigten Weg vermutete. Hoffentlich ist dort noch jemand unterwegs, dachte er, das wäre dann meine endgültige Rettung. Der unmittelbaren Gefahr aber glaubte er sich bereits entronnen. Dank einer Raubmöwe, die sich im Landeanflug gestört gefühlt hatte.
Ehe er es verhindern konnte, platzte ein Lachen aus ihm heraus. Ausgerechnet eine Möwe! Wenn das kein gutes Omen war. Schade, dass er nicht an Omen glaubte.
Der Schlag gegen den Hinterkopf traf ihn ohne Vorwarnung. Er taumelte, vor seinen Augen drehten sich funkelnde Sterne, und als er sich an den Hinterkopf fasste, fühlte der sich feucht an. Aber er blieb auf den Füßen, und das bisschen Orientierung, das er noch hatte, blieb ihm ebenfalls. Auch das Gefühl der Erleichterung hielt sich. Geworfen hat der Kerl, dachte er, blind ins Schwarze hinein. Glückstreffer. Kann wohl nicht mehr rennen. Oder er traut sich nicht. Nee, mein Lieber, du kriegst mich nicht.
Irgendwann wurde das Gelände ebener, er kam zügiger voran, und tatsächlich sah er nach einiger Zeit Lichter, zwei Paar Fahrradlampen, die sich näherten. Van der Werft erreichte den Weg, erinnerte sich seiner eigenen Dynamolampe, und jetzt fand er sie auf Anhieb. Natürlich.
Während er Lichtsignale gab, fühlte er sich bereits vollkommen sicher. Und als die Fahrradfahrer zu klingeln begannen und auf ihn zuhielten, wurde das Sicherheitsgefühl schon wieder verdrängt. Von Ärger, von Wut, zuletzt von purem Hass auf den unbekannten Angreifer. Warte nur, Bürschchen, dachte Henning van der Werft. Du hast mich nicht gekriegt. Aber ich, ich kriege dich.
6.
Als sein Handy klingelte, war Stahnke eigentlich schon wach. Er wollte es bloß noch nicht sein, denn sein letzter Traum war so schön gewesen. Beängstigend auch, das schon – aber er war sich der Tatsache, dass er träumte, schon halbwegs bewusst gewesen, und so hatte es ihn auch nicht erschreckt, dass es bei seinem Rundflug über Wattenmeer und Inseln zuerst keine Flugzeugkabine mehr gegeben hatte, dann keinen Motor und zum Schluss nicht einmal mehr Tragflächen. Ich kann jederzeit ganz aufwachen, hatte er nur gedacht – oder geträumt – und mitten im Sturzflug die Arme ausgebreitet. Und siehe, es hatte funktioniert, wenn auch nicht besonders zuverlässig. Sein Flug war wild und ruppig verlaufen, und die Flughöhen hatten ganz plötzlich und unberechenbar gewechselt. Hatte er eben noch beim Tiefflug mit dem Bauch fast die Mastspitzen der Yachten im Hafen gestreift, lag im nächsten Augenblick ganz Langeoog als Spielzeugpanorama tief unter ihm, und er war in wilden Spiralen darauf zu getrudelt. Ehe ich aufschlage, wache ich auf, hatte er ganz sicher gewusst. Drücke ganz einfach den Knopf in dem Fahrstuhl, der zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt.
Normalerweise endeten Träume, sowie man so etwas dachte. Dieser nicht, darum genoss Stahnke ihn so.
Gegen ein klingelndes Handy aber kam auch der schönste Traum nicht an. Wenigstens hatte der Hauptkommissar blitzartig reagiert, seinen Arm vorschnellen lassen, zugepackt und das Gespräch schon entgegengenommen, ehe der erste leise Signalton ganz verklungen war. »Moment«, raunte er in seine Faust, ehe er sie fest um das winzige Gerät schloss, aufstand und Richtung Küche tapste. Sina schien zum Glück nichts mitbekommen zu haben; ihr Atem ging unverändert regelmäßig.
Er setzte sich, ehe er die Hand zum Ohr hob. »Ja?«
»Ich bin’s«, sagte Kramer. Seine Stimme klang neutral wie immer, und mit Grüßen hielt er sich gar nicht erst auf.
»Urlaub«, sagte Stahnke im gleichen Tonfall. »Du erinnerst dich?«
»Das tue ich«, erwiderte Kramer. Danach schwieg er.
Jetzt könnte ich einfach auflegen, dachte Stahnke. Das wäre mein gutes Recht, und ich hätte meine Ruhe. Aber er wusste natürlich, dass das nicht stimmte. Von wegen Ruhe! Nicht etwa wegen seines Gewissens – das glaubte er ganz gut im Griff zu haben. Seine ungestillte Neugier aber würde ihm garantiert den Tag versauen.
»Also, was gibt’s?« Stahnkes Blick streifte die Küchenuhr. Gerade erst Viertel nach sieben, Kramer war früh dran.
»Vermisstensache.« Oberkommissar Kramer, Stahnkes engster Mitarbeiter im 1. Fachkommissariat der Polizeiinspektion Leer/Emden, fasste sich kurz. »Dietz Lichterfeld, Doktor der Medizin, wohnhaft in Leer-Loga. Vermisst gemeldet von seiner Ehefrau. Kontakt plötzlich abgerissen, sagt sie.«
»Vermisst«, wiederholte Stahnke.
»Ja«, bestätigte Kramer schlicht. Er wusste ebenso gut wie Stahnke, dass die Suche nach Vermissten nicht die Aufgabe des FK 1 war, jedenfalls nicht, ehe diese Vermissten sich als entführt, misshandelt, sonstwie verletzt oder als tot herausstellten. Also musste sein Anliegen einen besonderen Grund haben.
»Lass mich raten«, sagte der Hauptkommissar. »Vermisst auf Langeoog?«
»Stimmt«, erwiderte Kramer. »Jedenfalls im Prinzip. Vermisst wird Dr. Lichterfeld, wie schon gesagt, in Leer. Von seiner Frau. Sein letzter bekannter Aufenthaltsort aber war in der Tat Langeoog.«
»Klugscheißer«, knurrte Stahnke.
»Angenehm«, sagte Kramer. Gleichbleibend neutral.
Stahnke schluckte eine Replik hinunter. »Und was soll ich jetzt machen? Ausschwärmen und den Typ zwischen den Dünen suchen? Und Lüppo Buss steht wohl daneben und spendet mir Applaus! Weißt du eigentlich noch, dass Lüppo hier auf der Insel zuständig ist?«
»Für den Anfang könntest du mal Kontakt zu ihm aufnehmen«, antwortete Kramer ungerührt. »Ich krieg ihn nämlich nicht ans Telefon.«
»Handy?«
»Mailbox.«
»Fax, E-Mail?«, fragte Stahnke weiter. »Oder Brieftaube?«
»Mensch, Stahnke.« Jetzt fiel Kramer doch aus seiner Stoiker-Rolle, wurde drängender. »Dieser Dr. Lichterfeld ist nicht irgendwer. Dem gehört die große Tagesklinik in der Leeraner Innenstadt, jedenfalls zum großen Teil. Seine Frau macht mächtig Druck. Dedo de Beer hat bei mir schon auf der Matte gestanden, kaum dass ich heute früh im Dienst war.«
»Na und? Gibt es bei uns neuerdings einen Promi-Bonus? Oder interessiert sich etwa irgendwer für irgendwas, das de Beer sagt?« Stahnke gab sich widerborstig. Noch, denn eigentlich war sein Widerstand bereits gebrochen. Nicht etwa, weil Dedo de Beer sein direkter Dienstvorgesetzter war – den hätte er eiskalt abblitzen lassen, schließlich konnte er den ebenso wenig leiden wie de Beer ihn. Aber seinem Kollegen Kramer würde er den Gefallen tun. Schließlich war er ihm noch mehrere schuldig.