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Kramer wusste das und schwieg.
Stahnke seufzte. »Also gut, sag deinem Mattenabnutzer, dass du hier alle Hebel in Bewegung gesetzt hast. Will sagen, mich. Darf ich vielleicht vorher noch meinen Morgenkaffee trinken?«
»Selbstverständlich«, sagte Kramer. »Und wenn du mit Lüppo gesprochen hast …«
»Dann melde ich mich, alles klar«, unterbrach ihn Stahnke. »Übrigens, danke.«
»Danke wofür?«
»Für den Kaffee.« Stahnke drückte den Aus-Knopf, legte sein Handy auf den Küchentisch, erhob sich.
Und setzte sich sofort wieder hin, denn das Handy begann erneut zu zirpen. »Ja?«
»Lüppo hier.« Die Stimme des Inselkommissars klang kraftvoll und war trotz des knisternden Rauschens, das sie zu übertönen trachtete, gut zu verstehen. »Wie ich höre, bist du hier auf der Insel. Kommt mir gut zupass. Könnte gerade etwas Unterstützung gebrauchen.«
Da bist du nicht der Einzige, dachte Stahnke. »Was gibt’s?«, fragte er.
»Letzte Nacht ist jemand in den Dünen überfallen worden«, berichtete Lüppo Buss. »Einer aus Leer, ein Arzt, wohl ein ziemlich bedeutender, jedenfalls tut er so. Jetzt sitzt er bei mir im Büro und verlangt, dass ich ihm den Täter auf dem Silbertablett serviere, und zwar zackig.« Wieder musste sich Lüppo Buss’ Stimme gegen ein lautes Rauschen durchsetzen.
Ein schadenfrohes Lächeln dehnte Stahnkes Gesicht in die Breite. »Und du stehst jetzt draußen im Wind und telefonierst mit dem Handy? So ein nerviger Typ ist das?«
»Erraten«, bestätigte der Inselpolizist freudlos. »Der haut fürchterlich auf den Putz. Selbst für einen Doktor.«
»Lass mich raten«, sagte Stahnke. »Der Mann ist nicht nur Arzt, sondern auch der Besitzer einer Tagesklinik in Leer, jedenfalls zum großen Teil?«
»Stimmt.« Ehrfürchtiges Staunen klang aus Lüppo Buss’ Stimme. »Sag bloß, du kennst den Mann!«
»Jedenfalls dem Namen nach. Dr. Dietz Lichterfeld, nicht wahr?« Selbstzufrieden lehnte sich der Hauptkommissar zurück und rieb sich raschelnd die stoppeligen Wangen. So schnell hatte er noch keinen Fall gelöst.
»Lichterfeld? Nö. Der Mann heißt van der Werft, Dr. Henning van der Werft. Da warst du auf dem falschen Dampfer, mein Freund.« Die Ehrfurcht war ebenso aus Lüppo Buss’ Stimme gewichen wie das breite Lächeln aus Stahnkes Gesicht. »Wie sieht es nun aus, kann ich auf dich zählen? Nur ein bisschen Präsenz zeigen, damit mir der Doc nicht mehr so auf den Senkel geht.«
»Klar, mach ich. Bis gleich.« Stahnke beendete das Gespräch.
Merkwürdig, dachte er, als er ins Bad eilte, das Mobiltelefon in der Hand. Ein merkwürdiger Zufall ist das. Wenn überhaupt.
Nach Kaffee war ihm nicht mehr zumute.
7.
Die Kälte, denkt er, die Kälte ist im Augenblick das Schlimmste. Durch den steinernen Boden dringt sie ihm bis ins Mark, von seiner viel zu dünnen, teilweise zerrissenen Kleidung kaum gehindert, macht seine Haut taub und lässt seine Muskulatur unkontrolliert schlackern. Seine Nase läuft, seine Oberlippe ist von Rotz verklebt, den er nicht einmal wegwischen kann, weil seine Hände gefesselt sind, fachkundig gefesselt, so dass seine gelegentlichen wütenden Befreiungsversuche rein gar nichts gefruchtet haben, und seine Nasenflügel fühlen sich schon dick und entzündet an. Auch sein Hals tut weh. Wenn er noch lange hier liegen muss, holt er sich womöglich eine Bronchitis. Und mehr. Im Augenblick ist die Kälte wirklich das Schlimmste.
Und er wünscht sich, wünscht sich sehnlichst, dass das noch möglichst lange so bleibt.
Aber das wird nicht passieren. So viel hat er schon begriffen.
Sind da schon wieder Schritte? Wenn ja, dann sind es die seines Entführers. Sonst scheint hier niemand vorbeizukommen.
Nein, wohl doch nicht. Niemand in der Nähe. Schreien hat hier gar keinen Zweck. Klar hat er es versucht, als er es gerade einmal gekonnt hat und Schritte zu hören waren, aber dann sind es wieder seine gewesen, und er hat nichts unternommen, um die Schreie zu unterbinden. Er unternimmt nie etwas dagegen, sagt nicht einmal, dass Schreien sinnlos sei. Deutlicher kann er das gar nicht ausdrücken.
Dann, nachdem er das Schreien aufgegeben hat, hat der andere ihm wieder Wasser eingeflößt, sonst nichts, nur Wasser. Und dann hat er ihm wieder Spritzen verabreicht.
Oh Gott, diese Spritzen! Diese unglaublichen Qualen. Unvorstellbar schlimm, schlimmer als der Tod.
Der Tod wäre besser. Er wünscht ihn sich herbei. Nicht immer, aber immer dann, wenn der andere mit der Spritze kommt.
Und der andere weiß das. »Irgendwann ist es vorbei«, raunt sein Peiniger immer wieder mit diesem samtenen Tigergrollen in der Stimme, »irgendwann hast du es überstanden. Aber noch nicht. Jetzt noch nicht.« Dann die kleinen Stiche, dann wieder zurück in die Hölle.
Und jetzt? Irgendwas ist da, irgendein Geräusch. Manchmal hört man hier den Wind, dann zieht es auch etwas stärker als gewohnt, auch besonders starken Regen hat er schon hören können, und einmal auch etwas, das er für Meeresrauschen gehalten hat. Was für ein Raum ist das wohl, in den der andere ihn gesteckt hat? Ein Keller vermutlich oder ein Lagerraum. Sehen kann er jedenfalls überhaupt nichts. Die Dunkelheit hier drinnen ist absolut. Außer, wenn der andere kurz seine Lampe aufleuchten lässt, um sich zu überzeugen, dass sein Opfer noch lebt.
Oder um sich an seinen Qualen zu weiden. Oder beides.
Die Tür. Da draußen ist eine Tür laut ins Schloss gefallen, eine eiserne Tür, die Tür. Vielleicht ist es wieder windiger geworden. Da, die Schritte. Nicht so energisch wie sonst, eher etwas schleppend, aber eindeutig die seines Entführers. Und damit nicht weniger bedrohlich als sonst. Er kommt, er kommt! Alles wie immer, alles wieder von vorn.
Jetzt, denkt er, wäre ein guter Augenblick zum Sterben.
8.
Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, musste Sina lächeln. Natürlich war sie wach geworden, während Stahnke seine Sachen zusammengesucht und im Bad hantiert hatte. Auch die beiden Anrufe hatte sie mitbekommen, noch im Halbschlaf zwar, aber doch deutlich genug, um zu bemerken, dass da schon wieder etwas Dienstliches ablief. Aber sie hatte auch registriert, wie sehr Stahnke sich bemühte, leise zu sein und sie nicht zu wecken. Das fand sie lieb, und so hatte sie sich weiterhin schlafend gestellt und lieber auf einen Abschiedskuss verzichtet, als Stahnke eine Enttäuschung zu bereiten.
Jetzt aber streckte sie sich wie eine Katze, genüsslich und von lautem Gähnen untermalt, und schob die Füße unter der Bettdecke hervor. Denn auch ihr Arbeitstag würde in Kürze beginnen, und aus dem Alter, in dem sie für ein Zusatz-Viertelstündchen Schlaf gerne aufs Frühstück verzichtet hätte, war sie schon eine Weile heraus.
Während der Kaffee durchlief, warf sie sich ihren Bademantel über, zerrte die zusammengerollte Zeitung aus dem Briefkastenschlitz und setzte sich auf den Balkon. Kirchenglocken läuteten anhaltend; ach ja, heute war Karfreitag. Sonderlich warm war es noch nicht, aber hinterm Windschutz ließ es sich in der Morgensonne schon gut aushalten. Auf dem kleinen Campingtisch strich sie die Zeitung glatt. Natürlich las sie den Langeooger Inselboten, trotz seines eher biederen Erscheinungsbildes – das war sie Marian schuldig.
Als sie die Aufmacher-Überschrift las, lachte sie hell auf. »Die goldene Möwe kreist über Langeoog« – Himmel, da hatte Marian aber ganz tief in die Lyrik-Kiste gegriffen! Reichte es denn nicht, dass er schon den zweiten Tag in Folge dieses Thema auf die Titelseite hob?
Anscheinend nicht, stellte sie fest, als sie den Innenteil aufblätterte. Außer dem Aufmacher gab es auch noch ein Interview – nein, sogar zwei – und einen Kommentar, außerdem schon die ersten beiden Leserbriefe, offenbar per E-Mail eingeschickt, beide von eingefleischten Langeoog-Fans aus Nordrhein-Westfalen, einer jung, der andere schon älter, einer pro Hamburger-Restaurant, der andere contra. Sina schüttelte ungläubig den Kopf: Die passten einfach zu gut ins Konzept – hatte Marian die etwa selber verfasst? Aber nein, das denn doch nicht, das passte wiederum nicht zu ihm.
Das kürzere der beiden Interviews war das mit dem Inselbürgermeister, der noch einmal die Rechtslage und die mangelnden Einflussmöglichkeiten der Gemeinde erläuterte, alles in schönstem Amtsdeutsch. Das längere Interview hatte Marian mit zwei eingesessenen Gastronomen geführt, Bea Wulff und Renko Heidergott. Sina kannte und schätzte beide, jeden auf seine Art; auf die Idee, sich mit diesen beiden, die so unterschiedliche Auffassungen vertraten, zur selben Zeit an einen Tisch zu setzen, wäre sie aber nicht gekommen.
Immerhin, Bea und Renko schienen nicht übereinander hergefallen zu sein, nicht einmal verbal. Vermutlich einte sie ausnahmsweise einmal der gemeinsame Feind, und der hieß Heiko Grendel. Sina erinnerte sich, diesem Mann einmal begegnet zu sein; ein irgendwie unreif wirkender, großsprecherischer Typ mit schlechten Manieren und keiner nennenswerten Bildung. Dafür hatte sie sehr bald einen erheblichen Minderwertigkeitskomplex bei ihm diagnostiziert. Nach allem, was die beiden Interviewten über Grendel äußerten, lag sie damit wohl genau richtig.
Auffällig erschien nur, dass die beiden Grendel nach eigenen Bekunden überhaupt nicht zutrauten, solch ein Projekt verantwortlich zu stemmen, andererseits aber eine Heidenangst davor zu haben schienen, dass er es doch schaffte. Auch das zeugte nicht gerade von übermäßig viel Selbstsicherheit. Sina grinste und holte sich einen großen Becher Kaffee.
Auf Marians Kommentar war sie gespannt, fand den Einstieg jedoch enttäuschend. Das roch verdächtig nach einerseits – andererseits, viel Abwägung, wenig Stellungnahme. Von der Unverwechselbarkeit Langeoogs war die Rede, die durch verwechselbare Serien- und Massenprodukte gefährdet werden könnte, eine Entwicklung, die man in den uniformen Fußgängerzonen zahlreicher Städte auf dem Festland längst beobachten könne. Andererseits seien da natürlich die veränderten Bedürfnisse der Touristen, zumal der jungen, die ja die finanzielle Zukunft der Insel seien, weshalb man sie nicht ignorieren könne … Wobei man wiederum das Beispiels Venedigs nicht außer Acht lassen dürfe, das sich gegen die Überhandnahme landesuntypischer Dönerläden ebenso schlicht wie massiv mit einem gesetzlichen Verbot zur Wehr gesetzt habe …
»Schwach, Marian«, murmelte Sina und leerte ihren Becher. Trotzdem las sie den Text zu Ende – und fand dort tatsächlich doch noch etwas, das sie elektrisierte. »Woher kommt das Geld für solch ein Projekt?«, fragte Marian provokant und rhetorisch: »Von der Insel jedenfalls nicht.« Holla, wie kam er denn zu dieser Behauptung? Hatte er tatsächlich herausbekommen, wer hinter diesem Grendel steckte? Dann bekam die Sache noch mehr Brisanz. Streit unter Insulanern war ja eine Sache. Wenn aber Festländer hinter der Sache steckten, dann konnte das mehr bedeuten. »Krieg«, sagte Sina leise. Dann blinzelte sie in die herrliche Sonne, lauschte dem Glockengeläut, dem Rauschen des Windes und der fernen Brandung und musste lachen. Nein, wirklich, nur nicht übertreiben. So schlimm würde das alles schon nicht werden.
Sie schaute zur Uhr und erhob sich. Zeit, sich dienstfertig zu machen. Der heutige Tag war randvoll mit Terminen. Und gleich der erste versprach wieder eine Herausforderung zu werden.
Eine halbe Stunde später überquerte sie den Vorplatz der Klinik Haus Waterkant. Auch um diese Zeit war er schon ziemlich belebt; etwa ein Dutzend Anorexiepatientinnen standen herum, rauchten und tranken schwarzen Kaffee aus Pappbecher. Einige nickten ihr einen sparsamen Morgengruß zu, und Sina antwortete mit einem strahlenden Lächeln. Leicht fiel ihr das nicht. Sie blickte auf Blusen und Sweatshirts, die von eckigen Schultern herabhingen wie an Kleiderbügeln, auf Hosen, die an Hintern und Schenkeln Falten schlugen, weil da einfach nichts war, um ihnen Form zu verleihen. Schlimm genug. Aber sie wusste auch, wie es unterhalb dieser Oberflächen aussah, in den Köpfen dieser Patientinnen, in ihren Seelen, und das war schlimmer. Hier richteten sich Menschen, überwiegend Frauen, überwiegend junge, systematisch zugrunde, um sich und ihrer von Minderwertigkeitsängsten zerrütteten Psyche zu beweisen, dass sie wenigstens das konnten. Dabei waren das doch tolle Frauen, sehr intelligente zumeist, die stolz auf sich und ihr Potenzial hätten sein können. Aber so sahen sie sich eben nicht, so konnten sie sich nicht sehen.
Dafür zu sorgen, dass sie das wieder konnten, war Sinas Job. Vielmehr, ihnen dabei zu helfen, das wieder selbst zu können. Und zwar schnell, denn hier fanden Wettläufe statt. Der Gegner hieß Tod, und es kam allzu oft vor, dass er gewann.
Sie betrat das Gebäude durch die geräuschlosen Automatiktüren, querte die dicke, weiche Fußmatte und sog den inzwischen bereits vertrauten Klinikgeruch ein, der zwischen süßlich und sauber changierte, aber immer noch eine scharfe Gumminote enthielt. Offenbar hatte man beim Bodenbelag allzu sehr gespart. Sina war es recht. So wurde sie wenigstens immer wieder daran erinnert, dass glatte Oberflächen niemals die ganze Wahrheit waren.
Vor dem Empfangstresen, der mehr an ein Hotel erinnerte als an eine Klinik, saßen drei Patientinnen in Rollstühlen. Sie waren schon derart abgemagert, dass ihnen jedwede körperliche Bewegung untersagt worden war, um ihre mittlerweile vollkommen ungeschützten Gelenke nicht dauerhaft zu schädigen. Zwei dieser Frauen waren ganz auf ihr Strickzeug konzentriert, die dritte blickte Sina erwartungsvoll entgegen. Sie war älter als die anderen, vielleicht Ende dreißig. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangenknochen traten hart hervor, ihre Haut war wie Pergament und ihre dünnen Lippen schienen die Zähne kaum noch bedecken zu können. Ihre hochgetürmten, glänzenden dunklen Haare bildeten dazu einen bizarren Kontrast. Es war mehr als offensichtlich, dass sie eine Perücke trug.
»Guten Morgen.« Sina zwang sich ein Lächeln ab. Konnte es sein, dass Frau Duismann seit gestern noch mehr abgebaut hatte?
»Guten Morgen, Frau Gersema.«
»Und, wie war es heute früh? Ging alles gut?«
Ein schmerzliches Lächeln, ein bedauerndes Kopfschütteln. »Leider nein. Es ging überhaupt nicht. Tut mir leid.«
»Aber Mareike, Sie müssen doch essen!« Sina hätte sich ohrfeigen können. Was für ein dummer, unprofessioneller Appell! Natürlich musste Mareike Duismann essen, wie jeder Mensch. Aber das konnte sie nicht, und genau das war das Problem, das psychologische. Gutgemeinte mütterliche Ratschläge fruchteten da überhaupt nichts.
»Ich weiß doch«, erwiderte Mareike Duismann prompt. »Ich versuche es ja auch. Aber Sie wissen ja, das Schlucken … es geht einfach nicht.«
Als ob sie sich bei mir entschuldigen müsste, dachte Sina, als ob es um mich ginge, nicht um sie! Diese märtyrerhafte Haltung machte alles nur noch schlimmer. Tapfer lächelte Sina dagegen an. »Das schaffen wir schon, was, Mareike? Wir kommen dem Problem schon noch auf den Grund. Hauptsache, Sie bleiben bis dahin bei Kräften.«
Mareike Duismann unterschied sich äußerlich zwar in nichts von den Anorektikerinnen im fortgeschrittenen Stadium, ihr Krankheitsbild aber war ein völlig anderes. Statt einer krankhaften Fixierung auf ein utopisches körperliches Erscheinungsbild, einer Störung der Selbstwahrnehmung oder dem Gefühl eigener Unzulänglichkeit, für das der Körper büßen musste, lag bei ihr eine panische Angst vor dem Schlucken vor. Sie schaffte es einfach nicht, Nahrung durch die Speiseröhre in den Magen zu befördern. Und diese Blockade war progressiv, wurde also schlimmer. Hatte sie zunächst noch Fleisch bis in einzelne Fasern zerteilt und jeden Bissen Gemüse minutenlang gekaut, so vermochte sie jetzt schon nicht einmal mehr ein Löffelchen Brühe zu schlucken. Selbst Wasser nahm sie nur tropfenweise zu sich.
Die Folgen waren unübersehbar. Sina musste sich zwingen, nicht dauernd auf die skeletthaften Schlüsselbeine zu starren, die aus Mareike Duismanns Halsausschnitt ragten, bespannt mit trockener, runzliger Haut und umgeben von schluchtartigen Vertiefungen, über denen sich ein dünnes Goldkettchen ausnahm wie eine winzige Hängebrücke. Gestern hatte die Frau schon Kochsalzlösung injiziert bekommen, per Tropf, um den Körper vor dem völligen Austrocknen zu bewahren. Als Nächstes würde die künstliche Ernährung kommen. Vor diesem Augenblick hatte Sina Angst, denn dann wäre sie gescheitert.
Mareike Duismann straffte ihr Kinn. Was Entschlossenheit ausdrücken sollte, verstärkte nur noch die Ähnlichkeit ihrer Physiognomie mit einem Totenkopf. »Na denn, gehen wir es an«, sagte sie mit plötzlicher Munterkeit. Sina staunte, wie energisch Mareike Duismann mit ihren mageren Händen den Rollstuhl in Fahrtrichtung rangierte. »Je eher wir anfangen, desto eher sind wir damit durch, nicht wahr? Sie wollen Ihr Pensum ja auch hinter sich bringen. Immerhin ist heute Feiertag.« Schon hatte sie ihr Gefährt in Bewegung gesetzt. Die Automatiktür zum Trakt mit den Besprechungszimmern hatte kaum Zeit, zischend den Weg freizugeben.
Schöner Feiertag, dachte Sina, als sie ihrer Patientin hinterher eilte. Karfreitag, was gibt es denn da zu feiern? Der Gedanke an das Wunder der Auferstehung des Fleisches kam ihr in diesem Augenblick absurder vor denn je.
9.
Stahnkes erster Gedanke war: eine schlimme Nase. Und sein zweiter: Schlimm, ja – aber doch nicht so schlimm, dass alles davor flüchten müsste!
Genau das aber schien Dr. Henning van der Werfts Gesicht zu tun. Alles wich von dieser spitzen, langrückigen Nase mit den großflächigen Flügeln und den schmalen, langgezogenen Nasenlöchern zurück: das unscheinbare Kinn, die hohe, eingezogene Unterlippe, die Mundwinkel, die glatten Wangen, die tiefliegenden Augen, die fliehende Stirn und die nach hinten gekämmten, stark gegelten Haare mit den tiefen Geheimratsecken. Mit so einem Gesicht, dachte Stahnke, ist ein Mensch geschlagen. Auch ohne eine dick verpflasterte Wunde am Hinterkopf.
Als Dr. van der Werft aber seinen schmalen Mund öffnete, begriff der Hauptkommissar, dass sich der Wunsch nach eiligem Zurückweichen nicht nur jenseits dieser spitzen Nase manifestierte, sondern auch diesseits. Und dass nicht nur der Träger dieses Fluchtgesichts ein geschlagener Mensch war, sondern dass dies auch auf alle zutraf, die mit ihm zu tun hatten.
»Und wer sind Sie jetzt?«, herrschte van der Werft ihn an, kaum dass Stahnke das kleine Polizeibüro an der Langeooger Kaapdüne betreten hatte. »Noch so eine Insulaner-Existenz, die mir klarmachen will, dass hier alles seine Zeit braucht und ich mich doch bitteschön gedulden soll? Daraus wird nichts, mein Lieber! Ich bin es nicht gewohnt, vertröstet zu werden, und ich habe auf keinen Fall vor, meine Gewohnheiten zu ändern, bloß weil ich mich hier auf einer größenwahnsinnigen Sandbank befinde! Mein Anwalt ist schon verständigt, das kann ich Ihnen versichern. Und dem geht das Wörtchen ›Dienstaufsichtsbeschwerde‹ ganz leicht von den Lippen!«
Stahnke widmete Lüppo Buss einen sondierenden Blick. Der durchtrainierte, kerngesunde und gewöhnlich sehr souveräne Inselkommissar zitterte wie ein Drahtseil unter Spannung, und seine rötliche Gesichtsfärbung signalisierte nicht wie sonst eine windanimierte gute Durchblutung, sondern gefährlichen Hochdruck. Der Hauptkommissar verstand, warum er gerufen worden war. Zeit, die Dinge hier ins Lot zu bringen.
Er schritt auf den hölzernen Besuchersessel zu, in dem van der Werft Platz genommen hatte, baute seine zwei Zentner vor ihm auf, senkte seinen breiten Oberkörper über ihn und stützte seine Fäuste auf die Armlehnen. Dann sagte er laut und vernehmlich: »Schnauze.«
Jetzt flogen auch van der Werfts wimpernlose Augenlider zurück, und sein Körper sank tiefer in den Stuhl, als presse ihn ein starker Windstoß hinein, ausgelöst von Stahnke, der somit wohl das Sturmzentrum darstellte. Aber der Doktor wäre nicht der durchsetzungsfähige Erfolgsmensch gewesen, der er war, hätte er nicht umgehend eine Reaktion gezeigt. Nach kaum einer Schrecksekunde stemmte er sich hoch, um zum Gegenangriff überzugehen, die langrückige Nase wie eine Speerspitze voran.
So schnell van der Werft reagierte, Stahnke reagierte schneller, und zwar um den entscheidenden Sekundenbruchteil. Als van der Werft hochschnellte, hatte sich Stahnke bereits wieder aufgerichtet, was auf diese Weise nicht wie ein Zurückweichen wirkte, sondern van der Werfts Vorstoß schlicht ins Leere laufen ließ. Der Doktor zwinkerte verwundert; sein bereits geöffneter Mund blieb stumm.
Spielchen, dachte Stahnke. Ach was, noch nicht einmal das: Mätzchen! Aber genau darauf stehen die doch, diese Chefs. Also bitte, Doktor, schluck deine eigene Medizin.
»Wo war denn Ihr Anwalt, als Sie heute Nacht was auf die Rübe bekommen haben?«, knurrte er den Verwundeten an. »Und meinen Sie, Ihr Anwalt kann den Burschen ausfindig machen, der Ihnen den Hinterkopf verbeult hat? Ob der denn auch weiß, wo er eigentlich suchen soll? Oder glauben Sie, dass eine Dienstaufsichtsbeschwerde verhindern kann, dass dieser Typ nächste Nacht wiederkommt, um sein Werk zu vollenden? Glauben Sie das wirklich?«
Van der Werft klappte den Mund zu. Über eine weitere Attacke auf ihn – eine mit der Absicht, ihn zu töten – schien er noch nicht nachgedacht zu haben. Eine Überlegung, die jedoch unangenehm nahelag. Und die aus Stahnkes Mund wie eine Drohung geklungen hatte.
»Ich denke mal, dass Sie Schutz und Hilfe in dieser Angelegenheit wohl eher von uns erwarten, richtig?«, resümierte Stahnke, jetzt in ruhigerem Ton. »Und genau das wollen wir nun auch versuchen, nämlich Ihnen zu helfen und Sie zu schützen. Dazu aber benötigen wir umgekehrt auch Ihre Hilfe. Am besten, Sie setzen sich wieder, und wir unterhalten uns in aller Ruhe. Okay?«
»Okay.« Van der Werft ließ sich zurück in seinen Lehnstuhl fallen. Stahnke warf einen Seitenblick auf Lüppo Buss; dessen Züge entspannten sich sichtlich. Für ihn schien sich der Anruf bei Stahnke bereits voll ausgezahlt zu haben.
»Na denn.« Stahnke lehnte sich an die Kante von Lüppo Buss’ auf Hochglanz poliertem Schreitisch, die Arme vor der Brust verschränkt. »Bringen Sie mich mal auf Stand. Was genau ist passiert?«
»Ich wurde angegriffen. Gestern am späteren Abend, bei der Melkhörndüne. Mit einem Knüppel niedergeschlagen«, referierte van der Werft knapp.
Der Hauptkommissar nickte. Na bitte, das klang doch ebenso exakt wie kooperativ. Der Herr Doktor konnte also, wenn er nur wollte. »Darf ich fragen, warum Sie sich so spät noch dort draußen aufgehalten hatten?«
»Ich war dort mit einem Geschäftspartner verabredet«, erwiderte van der Werft. Nach einem Blick auf Stahnkes erhobene Augenbrauen fügte er hinzu: »Ungewöhnlich, ich weiß. Die eigentliche Besprechung sollte ja auch schon mittags stattgefunden haben, in einem Restaurant. Aber da ist mein Partner nicht erschienen. Die Abend-Verabredung an der Aussichtsdüne war nur eine Ergänzung; ich hatte ihm wohl viel davon vorgeschwärmt, wie schön es dort abends ist. Daher wollte er das unbedingt auch mal erleben. Aber er ist dann ja doch nicht gekommen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Stahnke.
Van der Werfts Hand zuckte zu seinem Kopfverband. »Sie meinen …« Der Arzt überlegte einen Moment, schien die Möglichkeit, dass sein eigener Geschäftspartner ihn im Dunkeln überfallen hatte, ernsthaft zu erwägen. Dann aber schüttelte er den Kopf. »Das halte ich für ausgeschlossen. So ein Typ ist er nicht. Außerdem gab es überhaupt keinen Anlass. Alles, was wir gemeinsam an Geschäften betreiben, läuft gut. Die Verträge zwischen uns sind sauber und wasserdicht. Und auch die neuen Projekte, über die wir reden wollten, lassen sich gut an. Warum also sollte er über mich herfallen?«
Aha, dachte Stahnke, so sieht der Herr das also. Gewalttätigkeiten bitte nur, wenn es auch Gründe dafür gibt, sonst nicht. Interessant, führt jetzt aber auch nicht weiter.
»Wir reden hier doch von Dr. Lichterfeld?«, fragte der Hauptkommissar. »Dietz Lichterfeld, mit dem zusammen Sie auch die Tagesklinik in Leer betreiben. Er ist doch dieser Partner, mit dem Sie sich gestern treffen wollten, richtig?«
»Stimmt.« Van der Werft legte den verbundenen Kopf schief: »Ich erinnere mich gar nicht, seinen Namen erwähnt zu haben.«
Stahnke öffnete den Mund, wollte schon von der Vermisstenanzeige berichten, von der er durch Kramer erfahren hatte, entschied sich jedoch dagegen, schloss die Lippen wieder und machte nur eine wegwerfende Handbewegung. Sollte dieser Doktor ruhig denken, er hätte schon gründlich recherchiert. Das wenige, das er bisher wusste, musste er van der Werft nicht unbedingt gleich auf die Nase binden.