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Nicht aber das, was sich in den Ecken und Ritzen befand. Stahnke beugte sich weiter vor, die Hände auf dem Rücken, um nur ja keine Spuren zu gefährden. Alle Winkel und Stöße innerhalb der Kiste waren mit einer weißen Masse abgedichtet. Vermutlich Silikon, sauber aus einer Patrone in alle Ritzen gedrückt und glattgestrichen. Da hatte einer sorgfältige Vorbereitungen betrieben. Warum eigentlich? Und wie sorgfältig? Vielleicht hatte der Täter die Silikonwürste ja mit dem Finger geglättet.
Mit einer Kopfbewegung wies Stahnke einen der Techniker auf die Dichtungen hin. Die Antwort bestand aus einem müden Nicken und einem Rollen der Augen. Man sollte den Leuten eben nicht ihren eigenen Job erklären, dachte der Hauptkommissar. Es reichte, wenn de Beer das tat.
Die Leiche war inzwischen auf eine Plane gebettet worden, und Dr. Mergner hatte mit einer ersten, flüchtigen Inaugenscheinnahme begonnen. »Fitter alter Knabe«, meinte der Mediziner und zwinkerte hinter seinen flaschenbodendicken Brillengläsern. Seine eigenen Haare waren deutlich spärlicher und weißer als die des Toten, dafür sträubten sie sich in alle Richtungen. »An die achtzig Jahre, würde ich sagen, vielleicht älter. Kriegsgeneration. Da, eine Narbe an der Schulter. Dies hier am Unterarm könnte eine weitere sein. Und wer weiß, was da noch alles unter der Wäsche ist.«
»Diese Narben scheint er ja wohl auf jeden Fall überlebt zu haben, richtig?«, unterbrach Stahnke den Pathologen. »Mich würde vor allem die mutmaßliche Todesursache interessieren.«
Mergner rollte seine Augen exakt so wie zuvor der Kriminaltechniker. »Nun geht das wieder los! Stahnke, werden Sie nicht albern. Wurde dieser Corpus nicht eben erst aus einer wassergefüllten Kiste gezogen? Einer verschlossenen noch dazu, wie der Leichenfinder zu Protokoll gegeben hat? Da werden Sie ja wohl nicht erwarten, dass ich vorschnell diagnostiziere, der Mann sei ertrunken. Denn wenn das stimmt, wäre dafür kein Ruhm zu ernten. Falls das aber nicht stimmt, und dafür bleiben ja immerhin ein paar Prozent Restwahrscheinlichkeit, hätte ich mich mit einer vorschnellen Festlegung gründlichen blamiert. Sie verstehen?«
»Natürlich«, erwiderte Stahnke in beschwichtigendem Ton. »Zumal der ganze Keller ja völlig unter Wasser stand.«
Diesmal war Mergners Blick voller Verachtung, und der Doktor würdigte den Hauptkommissar keines weiteren Kommentars.
»Eine Kiste mit Wasser, ein gefesselter Mann«, murmelte Stahnke vor sich hin. »Woran erinnert mich das?«
»Waterboarding«, antwortete Kramer, der wieder einmal direkt neben Stahnkes rechtem Ellenbogen aus dem Boden gewachsen zu sein schien, ohne zu zögern. »Folter durch scheinbares Ertränken. Wird von den Amerikanern gerne angewandt. Gewöhnlich aber nicht hier bei uns.«
»Waterboarding?«, fragte Stahnke. »Geht das nicht anders?«
»Stimmt schon«, bestätigte Kramer. »Bei den Amis wird der Delinquent rücklings auf ein schräges Brett geschnallt, so dass der Kopf tiefer liegt als die Füße, dann wird ihm Wasser so übers Gesicht und in Mund und Nase geschüttet, dass das Opfer zu ertrinken glaubt. Was meistens nicht geschieht, aber die Möglichkeit reicht ja, um Panik auszulösen.« Der Oberkommissar zuckte die Achseln. »Anders, klar. Aber mit dieser Kiste ginge das auch. Siehst du das kleine Loch da im Deckel? Das wurde kürzlich erst hineingebohrt, die Ränder sind frisch. Der Durchmesser entspricht dem eines Gartenschlauchs. Stell dir mal vor: Delinquent da hinein, Deckel zu, Schlauch ins Loch, und dann Wasser marsch. Nicht zu schnell natürlich, damit das Opfer auch Zeit hat, vor Angst fast wahnsinnig zu werden.«
Stahnke bekam eine Gänsehaut. Er starrte Kramer mit großen Augen an. »Du bist ja richtig zu Spekulationen aufgelegt! Und dann auch noch zu so brutalen. Gab es gestern einen James Bond im Fernsehen?«
»Nein«, erwiderte Kramer ungerührt. »Aber eine Doku aus dem Irak.«
Stahnke nickte. Seine Gänsehaut blieb. »Was die Details angeht, sind solche Typen bestimmt nicht kleinlich«, sagte er betont forsch. »Andere Länder, andere Foltersitten, nicht wahr? Und wer foltert, nimmt immer auch billigend in Kauf, dass der Gefolterte Schaden nimmt oder stirbt. Was meinst du – war dies hier ein versehentlicher Tod? Irgendwer versuchte von diesem Mann eine Information zu erzwingen, und er ist ihm unter den Händen weggestorben? Sozusagen ein Betriebsunfall?«
»Nicht unbedingt. Vielleicht hat der Täter ja auch alles bekommen, was er wollte, und hatte keine Verwendung für einen lästigen Zeugen.«
»Ertränkt also, nicht ertrunken«, konstatierte Stahnke.
Kramer nickte.
Stahnke schaute auf das Gesicht des Toten, dessen Schädel gerade von Mergner befingert wurde. Sah der womöglich aus wie ein Iraker? Eher nicht – allerdings mochte die Blässe des Todes den Eindruck verfälschen. Wie auch immer, Kramers Agentenphantasien waren doch sehr weit hergeholt. Immerhin befanden sie sich hier in Leer, einer Kleinstadt im äußersten Nordwesten der Bundesrepublik, gleich hinterm Deich und vor der holländischen Grenze. In dieser Ecke tummelten sich gewiss keine gewalttätigen Islamisten und deren Gegenspieler, die Geheimdienste gewalttätiger Großmächte.
Oder?
»Aha.« Das war Mergner. Gegen seinen Willen hatte er sein Protestschweigen gebrochen. »Schwellungen am Hinterkopf! Unter dem beneidenswert dichten Haarschopf nicht zu sehen, sondern nur zu ertasten. Mehrere Schwellungen. Der Mann wurde also vermutlich bewusstlos geschlagen.«
»Während er in der Wasserkiste lag?«, fragte Stahnke. »Oder vorher?«
Mergner stemmte die Hände in die Hüften und wackelte mit dem Kopf. »Vorher, nachher, vielleicht auch zwischen zwei Anwendungen!«, keifte er mit verstellter Stimme. »Mann, Stahnke! Lernen Sie es denn nie?«
»Wer weiß?«, raunte der Hauptkommissar und wandte sich wieder Kramer zu. »Als Erstes müssen wir wissen, wer der Tote ist. Irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Keine Papiere, wie gesagt«, resümierte Kramer. »Die beiden Handwerker, die den Mann gefunden haben, kennen ihn nicht. Hier gibt es keine Hausbewohner, die man fragen könnte; das Gebäude steht leer. Sowie wir die Fotos haben, klappern wir die Nachbarn ab, vielleicht hat ihn einer von denen schon mal gesehen. Parallel Abnahme und Abgleich der Fingerabdrücke. Wenn das alles nichts bringt, müssten wir an die Presse gehen.«
Stahnke nickte. Mehr fiel ihm dazu auch nicht ein; Kramer war wieder einmal perfekt. Man konnte ihn getrost in Eigenregie machen lassen. Der Hauptkommissar nickte versonnen, dann zuckte er plötzlich zusammen. De Beers Worte waren ihm wieder eingefallen. »Einen Stahnke kann hier wirklich keiner gebrauchen!« – Hatte der Mann damit womöglich recht?
6.
Zum Gallimarkt durfte sie, das hatte Mama ihr erlaubt. Aber von Stinus abholen lassen wollte sich Erika auf keinen Fall, wenigstens nicht zu Hause. Mama würde die Augen zusammenkneifen, Fragen stellen und womöglich ihre Erlaubnis im letzten Moment widerrufen. Das durfte nicht passieren. Der Handel musste erfüllt werden. Stinus hatte seinen Teil erledigt; es blieb abzuwarten, was dabei herauskam. Aber jetzt war erst einmal sie dran.
Also wartete sie bei ihrer Oma auf ihn. Nicht, dass die nicht auch ihre Bemerkungen machte! Sicher noch mehr als Mama. Aber sie moserte nicht, sondern stichelte höchstens. Und auf gar keinen Fall verbot sie etwas. Auch wenn sie von dem Handel zwischen Erika und Stinus überhaupt nichts wusste. Und schon gar nicht, dass dieser Handel auch für sie selbst von größter Bedeutung war.
»Moi süchst du ut, mien Tüt!«, lobte sie Erika. Tatsächlich entsprach ihre Enkelin in ihrem langen Rock, der weißen Bluse unter der dunkelroten Jacke und mit der Schneckenfrisur ziemlich genau dem Schönheitsideal ihrer Jugend. »Moi Tüch! Tja, da kann man mal sehen, es kommt doch alles wieder.«
Erika verzog ihren Mund. »Na toll! Ich laufe rum wie beim BdM, weil der Hitler das so will und Mama mich sonst nicht aus dem Haus lässt, bin angezogen wie eine alte Frau, und dir gefällt das auch noch! Und ich dachte, du kannst die Nazis nicht leiden! Hast du dich etwa bekehren lassen?«
Erikas Großmutter hob abwehrend ihre Hände. »Geh mir bloß weg mit Hitler!« Ihre Weltanschauung war fest gefügt, und zwar schon lange vor der Weimarer Republik und den Nationalsozialisten – allerdings aus ziemlich widersprüchlichen Komponenten. Da war zum einen der Geist der Kaiserzeit, den sie in ihrer Jugend mit der Muttermilch eingesogen hatte. Zum anderen gab es die Ideale der Arbeiterbewegung, für die ihr Ehemann sie begeistert hatte. Und dann war da noch die allgegenwärtige Kirche mit ihrer allsonntäglichen Indoktrination. Für die Nazi-Ideologie gab es da keinen Platz mehr; sie war einfach zu spät gekommen.
Außerdem hatten die Nazis ihr den Mann genommen. Die Braunen hatten bei ihr verspielt, gründlich und für immer. Dieser Abneigung machte sie gelegentlich Luft, obwohl sie wusste, wie riskant das war. Auch jetzt musste ein saftiger Fluch her. »Hitler!« Sie spuckte den Namen förmlich aus. »Hitler, de oll Jööd!«
»Aber Oma!« Erika schlug sich die Hände vor den Mund, teils vor Schreck über solchen Leichtsinn, teils, um nicht laut herauszuplatzen. »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«
Es pochte an der Tür. Die alte Frau und das Mädchen, das wie eine alte Frau angezogen war, fuhren erschrocken zusammen. Und gleich darauf noch einmal, denn das laute, fordernde Pochen wiederholte sich. Schutzsuchend drückte sich Erika an ihre Großmutter. Sie konnte spüren, wie Oma zu zittern begann.
Dann flog die unverschlossene Tür auf, und lautes, helles Lachen ertönte. Zweistimmiges Lachen, denn außer Stinus drängte sich noch ein weiterer Junge in den Korridor. Er war etwas größer als der Pimpf, der wieder seine Uniform trug, allerdings mit langen Hosen und einem Mantel darüber. »Ha!«, rief Stinus übermütig. »Rollkommando! Darauf wart ihr nicht gefasst, was? Aber keine Angst, alles nur Spaß.« Er grüßte Erikas Großmutter flüchtig, ohne ihr richtig ins Gesicht zu blicken, und wenn ihm auffiel, dass sie leichenblass war, dann zeigte er es nicht.
Erika hatte sich von ihrer Oma gelöst und starrte den anderen Jungen an. Er wirkte kräftig, hatte braunes Haar, schmale Hände und ein freundliches Gesicht. Sieht nicht schlecht aus, dachte sie. Aber wer ist das, und was macht er hier? Schließlich hatte sie ein Abkommen mit Stinus und mit niemandem sonst.
»Das ist Fritz«, sagte Stinus, der ihren Blick bemerkt hatte. »Er wohnt jetzt bei Fleischhauers. Ich hab gesagt, er kann mit zum Gallimarkt nach Leer. Hast doch nichts dagegen, oder?«
Erika schüttelte nachdenklich den Kopf. Evert Fleischhauer war Schuster, trotz seines Namens und seiner Erscheinung. Er war der größte und breiteste Mann, den Erika jemals gesehen hatte, hatte das finsterste Gesicht, das sie sich vorstellen konnte, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Es fiel leicht, sich auszumalen, wie dieser Fleischhauer ein totes Schwein oder auch ein Rind mit einem langen Beil in Hälften und Viertel teilte, ohne sich anzustrengen. Tatsächlich aber hockte der Riese von morgens bis abends zusammengekrümmt in seiner Schusterwerkstatt im Tiefparterre unter seiner Wohnung, hantierte mit Leder, Ahle und Garn, reparierte Schuhe und fertigte neue an. Mittags und abends ging er die Stiege hoch in seine Wohnung, wo ihn seine Frau und nicht weniger als neun Kinder erwarteten, davon sieben Jungen. Erika kannte sie alle aus der Schule, wilde Burschen, die keiner Rauferei aus dem Wege gingen, ohne wirklich bösartig zu sein. Keiner davon ähnelte diesem Fritz auch nur entfernt. Na ja, trotzdem konnte er ja ein Verwandter sein, vielleicht ein entfernter. Warum sonst sollte einer bei Fleischhauers wohnen, wo es bestimmt sehr eng und schrecklich laut zuging, noch enger und lauter als in anderen wenig betuchten Familien?
Stinus drängte sich an Erika vorbei und stiefelte ganz selbstverständlich den Flur entlang zur Vorderküche, Fritz im Schlepptau. Offenbar hatte er ihm von dem wunderbaren Schiffsmodell unter dem Glassturz erzählt und wollte es ihm zeigen, ganz so, als sei er hier zu Hause. Fritz schenkte Erika immerhin einen entschuldigenden Blick, während er Stinus hinterhertrottete.
Erikas Großmutter schien sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen zu haben. »Machst du uns noch einen Kakao?«, fragte das Mädchen. »Dann haben wir wenigstens etwas Warmes im Bauch, wenn wir gehen. Ist ja schon ziemlich kalt draußen.« Immerhin war es bereits Mitte Oktober.
»Kannst mir helfen dabei.« Oma lächelte schon wieder, stellte Erika erleichtert fest. Wenn auch etwas dünn. Aber das war ja nach dem Schreck kein Wunder.
Erika fischte ein Steertpanntje aus dem Topfschrank, goss etwas Milch hinein, stellte es auf die heiße Platte und ließ es nicht aus den Augen, während ihre Großmutter das exotisch bedruckte Paket mit dem kostbaren braunen Pulver aus dem Küchenschrank holte. Kakao war Luxus, wie alles, was aus Übersee kam, und er schien immer teurer zu werden. Angeblich waren die Engländer schuld, hieß es, weil sie den Deutschen die afrikanischen Kolonien weggenommen hatten, die ihnen doch rechtlich zustanden, und damit den Platz an der Sonne. Die Strafe dafür werde das perfide Albion schon bekommen, hatte Erikas Schulleiter erst kürzlich wieder verkündet. Erst nach und nach hatte sie verstanden, dass Albion England bedeutete und Strafe wohl Krieg. Da hatten ihre Schulkameraden schon lauthals gejubelt.
Oma gab mit einem Teelöffel Kakaopulver und Zucker in die schnell wärmer werdende Milch und wies Erika an, immer kräftig zu rühren, damit nichts anbrannte. Dann angelte sie Becher von den Haken unter dem Tellerbrett und wischte sie mit einem Tuch aus. Dabei zwinkerte sie Erika verschmitzt zu. »Zwei gleich, was?«, raunte sie. »Du gehst ja ran wie Blücher an der Katzbach!«
»Was meinst du?« Erika braucht einen Moment, ehe sie die Anspielung verstand. Dann lief sie tiefrot an. »Also Oma, nun hör mal! Was denkst du denn von mir? Ich hatte doch keine Ahnung!«
Erikas Großmutter lachte gutmütig. »Mach dir bloß keine Gedanken! Was glaubst du denn, wie ich früher war! Zugegeben, ganz so früh wie du habe ich nicht angefangen. Aber dafür dann richtig. Als ich siebzehn war, da habe ich mich zum Gallimarkt nämlich gleich mit drei jungen Männern verabredet.«
Erika bekam runde Augen. »Drei? Etwa am selben Tag?«
Ihre Oma kicherte wie ein Backfisch. »Na klar, am selben Abend, zur selben Zeit. Sie hatten mich alle drei gefragt, und ich dachte, na ja, wenn sie so gerne wollen, warum soll ich sie enttäuschen?«
Fast hätte Erika den Zeitpunkt verpasst, als die erhitzte Kakaomilch zu schäumen begann. Im letzten Moment zog sie den Stieltopf zum kühleren Rand des Herdes, goss Milch nach und rührte energisch. »Und … und was dann?«, fragte sie atemlos. »Sind die dann alle drei gekommen? Und was haben sie denn dazu gesagt?«
»Keine Ahnung.« Erikas Großmutter nahm ihr das Steertpanntje aus der Hand und verteilte den Inhalt auf drei Becher, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Ich war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt«, sagte sie dann, »und bin mit dem ersten der drei, der dort auftauchte, mitgegangen.«
»Aber Oma!« Erikas Ohren waren immer noch heiß. »Wie das klingt. Was hätte Opa wohl dazu gesagt?«
»Kindchen, der Erste, der kam, war doch dein Opa!«
Die Küchentür flog auf. »Ah, lecker!« Stinus kam hereingepoltert, griff ohne Umstände nach einem der dampfenden Becher und trank, ohne sich an der Haut zu stören, die sich bereits auf der braunen Flüssigkeit gebildet hatte. Fritz schien besser erzogen zu sein, er wartete, bis ihm ein Becher angeboten wurde, und bedankte sich höflich. Die Milchhaut schob er mit einem Löffel beiseite. Nach dem ersten Schluck zog er anerkennend die Augenbrauen hoch. Wie erwachsen das aussah! Und so … kultiviert. Gar nicht so, wie es bei den Fleischhauers zugehen musste, wenn man Stinus Glauben schenkte.
Stinus, bei sich zu Hause der einzige Junge, hielt sich gerne bei der Schusterfamilie auf, weil es dort an Spiel- und Raufkameraden nie mangelte. Und er aß auch öfter am großen Tisch mit, Milchsuppe mit Haferflocken oder Karmelkbreei, Arme Ritter oder, wenn es hoch kam, Speckendicken. Daheim auf dem Polderhof wartete weit edleres Essen auf ihn, zubereitet von einer Köchin, die ihr Handwerk verstand. Stinus aber hatte lieber bei karger Kost seinen Spaß, als zu Hause mit steifem Rücken Filet oder Lammbraten zu speisen, immer wieder zurechtgewiesen von seinen gestrengen Eltern, die sich, trotz ihres bescheidenen Wohlstands, ihrer eigenen Herkunft schämten. Was ihr Sohn ausbaden musste.
Manchmal aber, wenn es die Jungs bei Fleischhauers zu toll trieben, verdunkelte sich das ohnehin meist finstere Gesicht des Hausherrn noch mehr. Dann erhob er seine imposante Gestalt vom Kopf der langen, aus selbst gehobelten Brettern gezimmerten Tafel und nahm unter dem Türrahmen Aufstellung, den Kopf geduckt, um überhaupt Platz zu finden. »Alle Mann raus!«, knurrte er dann mit tiefer Stimme; jeder tat gut daran, diesem Kommando ungesäumt Folge zu leisten. Und jeder, der sich an dem Riesen vorbei nach draußen drückte, erhielt eine krachende Kopfnuss, egal ob mehr oder minder schuldig, ob eigener Sohn oder Gast. Auch Stinus bezog stets seinen Anteil, nicht selten hochverdient. Und trotzdem kam er immer wieder.
Obwohl Stinus gierig trank, hatte Fritz seinen Becher als Erster leer. »Vielen Dank, Frau Albers«, sagte er so wohlerzogen, dass Erikas Großmutter erstaunt blinzelte. »So was Feines bekommt man nicht alle Tage.«
Stinus knallte nur seinen leeren Becher auf den Tisch; bei ihm zu Hause schien Kakao keiner Erwähnung wert zu sein. »Los jetzt, kommt!«, rief er. »Wir müssen endlich aufbrechen, sonst wird es dunkel, ehe wir überhaupt in Leer sind.«
Das war zwar weit übertrieben, denn noch war es früher Nachmittag, aber inzwischen hatte das Gallimarktfieber auch Erika gepackt. Sie griff nach ihrem Mantel – und stellte überrascht fest, dass ihre Großmutter im Begriff war, Kopf und Schultern in ein großes schwarzes Umlegetuch zu hüllen. »Was ist, willst du auch noch los?«
»Ich bringe euch natürlich bis zur Fähre«, erklärte die alte Frau bestimmt. »Was sollen denn sonst die Leute denken.« Auch lautes Stöhnen konnte sie von diesem Entschluss nicht abbringen. Reichte es nicht, dass Stinus verdonnert worden war, gleich nach der Ankunft seinen in Leerort wohnenden Onkel aufzusuchen, der sie zum Gallimarkt und anschließend zurück zur Fähre begleiten sollte? Als ob sie noch Kleinkinder wären, die ständiger Aufsicht bedurften! Dabei behaupteten die Nazis doch stolz, Deutschland so viel sicherer gemacht zu haben.
So schoben sie ihre Räder, anstatt zu fahren, denn Erikas Oma besaß kein eigenes Rad. Auch Erika nicht; ihre Großmutter hatte für sie eins bei einem Nachbarn erbettelt, der in Ditzum auf der Werft arbeitete und täglich dorthin radelte. Weil er an diesem Samstag frei hatte, konnte er darauf verzichten, wenn auch nur zögernd; gleich mehrmals hatte er Erika und ihrer Großmutter eingeschärft, das gute Stück ja nicht zu beschädigen oder sich etwa stehlen zu lassen. Zum Glück handelte es sich um ein altes Damenrad, und der Sattel ließ sich niedrig genug einstellen, dass Erika mit den Zehenspitzen an die Pedale kam.
Beim Ausprobieren hatte sie festgestellt, dass sie seit letztem Jahr beträchtlich gewachsen sein musste. Ein Gedanke, der sie mit einer Zufriedenheit erfüllte, die sie nicht recht zu deuten wusste. Wie sich auch ihre Vorfreude auf den Gallimarkt zwiespältig und verwirrend anfühlte. Einerseits war ihr nach Hüpfen und Juchzen zumute, andererseits wäre ihr das albern und kindisch vorgekommen. Also ging sie gesittet neben ihrem Fahrrad her. Aber ihre Wangen brannten.
Was es wohl auf dem Jahrmarkt alles zu sehen und zu erleben gab? Klassenkameradinnen, die letztes Jahr mit ihren Eltern nach Leer gefahren waren, hatten in höchsten Tönen geschwärmt. Bodenkarussells und Schiffsschaukeln, Kettenkarussells und »Lustige Tonnen«, in denen sich einem der Boden unter den Füßen wegdrehte, sollte es dort geben, außerdem Schieß- und Losbuden, Ringewerfen, Rhönräder, Ponys und Buden mit Schmalz- und Honigkuchen und Zuckerzeug. Glänzende Augen hatten die Mädels beim Erzählen gehabt – und sie hatten auch damit geprahlt, wie viel Geld sie dort in wie kurzer Zeit ausgegeben hatten.
Erika fand das alles teils mehr, teils weniger interessant. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die abenteuerlichen, die exotischen, die kuriosen Attraktionen. Zauberkünstler zum Beispiel, ein Marionettentheater oder gar Liliputaner. Von Lebendem Meissner Porzellan war die Rede; was das wohl zu bedeuten hatte? Und ob man auch Tiere mit zwei Köpfen zur Schau stellte oder Damen mit Vollbärten?
Bloß gut, dass sie genug Taschengeld gespart hatte, um sich das eine oder andere leisten zu können, dachte Erika. Von ihrer Großmutter hätte sie für den Gallimarkt bestimmt keinen Pfennig bekommen. Als echte Rheiderländerin war Oma »sühnig«, was so viel wie sparsam bedeutete. So nannte sie das jedenfalls selbst. Andere, vor allem die Leeraner von jenseits der Ems, nannten ihre Nachbarn unverblümt »grannig«, nämlich geizig. Was sicherlich ungerecht war, denn die Rheiderländer waren in der Mehrzahl schlicht arm und hatten nichts zu verschenken. Ihre Oma allerdings, das musste Erika im Stillen zugeben, konnte zuweilen schon ziemlich grannig sein. Dem Mädchen war es jedes Mal unheimlich peinlich, wenn die alte Dame in einem Geschäft das gesamte Sortiment ausgiebig musterte, nur um dann zu erklären: »Schade, dass ich mein Knippke heute nicht einstecken habe.«
Wenn ihre Oma etwas außer der Reihe kaufte, dann oft beim »Koffermann«, einem Juden, der als fliegender Händler öfters nach Jemgum kam und Wolle, Garn, Nähnadeln und allerhand andere Kurzwaren günstig auf der Straße anbot. In letzter Zeit schien sie das sogar besonders oft zu tun, überlegte Erika. Dabei war das direkt gefährlich geworden, seit Jan de Bruin, ein fanatischer Nazi, alle Kunden des »Koffermanns« fotografierte und drohte, sie als Judenfreunde anzuprangern: »Morgen stehst du im Stürmer!« Auch ihre Großmutter hatte dieser Kerl schon bedroht. Trotzdem ging sie immer wieder zu dem Juden, als sei das ein riskantes, aber reizvolles Spiel. Oder vielleicht eine Mutprobe? Aber wem wollte ihre Oma denn etwas beweisen?
Das Wetter war genau richtig für den Gallimarkt, recht kalt, aber sonnig; der Septemberregen war klarer, herber Spätsommerwitterung gewichen. Das Haus von Erikas Großeltern lag praktisch auf der Grenze zwischen Neu-Jemgum und dem alten Ortskern, so war es zur Emsfähre nicht weit.
Doch kaum hatten sie die Oberfletmerstraße erreicht, wurden sie durch einen Menschenauflauf gestoppt. »Nun mal Platz hier, wir müssen zur Fähre, die wartet nicht«, rief Stinus laut mit heller, schon befehlsgewohnter Stimme. Niemand achtete auf ihn, auch nicht, als sich der Pimpf mit Hilfe seines Rades durch den Pulk zu drängeln begann; die Leute traten ohne sich umzublicken gerade weit genug beiseite, um ihre Mäntel in Sicherheit zu bringen. Erika und die anderen hielten eilig Anschluss. So peinlich ihnen Stinus’ Verhalten auch war, ihre Neugier überwog.
Vor ihnen auf der Straße stand ein großes schwarzes Auto, ein Personenwagen mit langer Motorhaube, hohem Kühlergrill und rundem Kofferraumbuckel. So etwas sah man in Jemgum nicht alle Tage. Das allein aber war es nicht, was die Leute so zum Gaffen brachte. Auch nicht, dass der Wagen schräg auf der Fahrbahn stand, als hätte sich die Besatzung an keinerlei Regeln zu halten. Vor dem Auto stand eine Gruppe von Männern, einige in braunen SA-Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden, andere in Zivil. Erika erkannte Janssen in seiner schwarzen SS-Kluft, der weit ausholend gestikulierte, den drohenden Blick ebenso unstet wie seine Haltung, den Mund von gehässigem Lachen verzerrt. Anscheinend hatte er mal wieder dienstfrei, und er war betrunken, obwohl es heller Nachmittag war. Ebenso wie der Mann neben ihm. Erika zuckte zusammen, als sie ihn erkannte. Es war ihr Vater. Seit wann war der denn aus Hamburg zurück?
Sie spürte die Hände ihrer Großmutter auf ihren Schultern, fühlte sich vorwärtsgedrängt. Aber sie kamen nicht an Stinus und seinem Rad vorbei. Der Junge besah sich die Szene mit großen Augen, als sei sie die Ouvertüre des Jahrmarktprogramms, und dachte gar nicht daran, den Weg fortzusetzen oder freizugeben.
Ob alle Männer angetrunken waren oder nur die beiden, konnte Erika nicht ausmachen. Jedenfalls wurde mit erhobenen Stimmen geredet, erregt, wütend und durcheinander. Zu verstehen war nicht viel. Die Männer bildeten einen Halbkreis vor dem großen Auto und wandten ihrem Publikum zumeist den Rücken zu. Warum? Erika stellte sich auf die Zehenspitzen. Da waren noch zwei Männer; sie standen mit dem Rücken zum Auto, so dass Erika einen Blick auf ihre Gesichter werfen konnte. Gesichter, die sie hier noch nie gesehen hatte. Gesichter, aus denen die nackte Angst sprach.