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»Die haben zwei Juden am Wickel«, sagte ihre Großmutter mit unterdrückter Stimme. »Los, seht zu, dass wir weiterkommen. Stinus, mach voran!«
»Aber wieso denn?«, fragte der Junge störrisch und rührte sich nicht vom Fleck. Auch Fritz starrte wie gebannt auf das Geschehen.
Gerade war Janssens Lachen besonders laut zu hören. Der SS-Mann taumelte, fuchtelte scheinbar unkontrolliert. Im nächsten Moment zuckte seine rechte Hand vor und klatschte einem der beiden Bedrängten ins Gesicht, so hart, dass dem sein kleines Käppchen vom Hinterkopf flog. Erika hörte Stöhnen, schnell übertönt von lautem, beifälligem Gelächter. Verspätet hob der Geschlagene seine Arme vors Gesicht, Arme in langen weißen Ärmeln mit schwarzen Schonern über den Manschetten. Ein Bürohengst, dachte das Mädchen, unwillkürlich den Ausdruck benutzend, den sie von ihrem Vater kannte. Was machte der hier? Und wie sollte sich so einer gegen diese vierschrötigen Kerle wehren?
Die Männer, die den Wagen umstanden, schienen sich durch das Gelächter angefeuert zu fühlen. Weitere Ohrfeigen, Schläge, Stöße, auch Tritte prasselten auf die beiden in die Enge Getriebenen ein, die sich so gut es ging zu decken versuchten, ohne sich ernsthaft zu wehren. Dann wäre es ihnen gewiss noch schlimmer ergangen. Oma hat schon recht, dachte Erika, die Olympischen Spiele sind vorbei, niemand muss sich mehr für das Ausland verstellen, jetzt zeigt Deutschland, wie es wirklich ist.
Die Schläger johlten wie spielende Jungen. Und genau wie kleine Jungs schienen sie die Lust an ihrem Spiel schnell wieder zu verlieren. Prügeln allein führte offenbar zu nichts – etwas Neues musste her. »Raus mit den Kerlen!«, brüllte Janssen los. »He, ihr Judenbengel, jetzt schmeißen wir euch raus aus dem Dorf!« Erika lief es kalt über den Rücken, als sie hörte, wie ihr Vater grölend mit einstimmte.
»Ja, raus mit ihnen, aber richtig!«, schrie ein braun Uniformierter. Erika kannte ihn nur flüchtig. War das nicht der Holz- und Kohlenhändler? Alle nannten ihn nur Hackes, keine Ahnung, wie der richtig hieß. »Wir schicken die beiden auf Transport! Hier, mit dem Auto. Und zwar so, dass wir die ein für alle Mal los sind.«
»Mit dem Auto? Du spinnst wohl!«, rief ein Mann, der Erika unbekannt war; vermutlich der Fahrer des großen Wagens. »Die kommen mir nicht da rein. Glaubst du, ich lasse dreckige Juden auf die guten Polster?«
»Wer redet denn von deinen Polstern?« Der Uniformierte schlug auf die Kofferraumhaube, dass es dröhnte, und lachte noch dröhnender. »Die kommen natürlich hier hinten rein! Abteilung für Gepäck und Viehzeug, da gehören sie hin!«
Wieder lautes Gelächter, diesmal in der ganzen Runde. Die beiden Juden, die anscheinend schon gehofft hatten, das Schlimmste überstanden zu haben, tauschten einen schnellen Blick. Dann rannten sie los, die Köpfe gesenkt. Ein verzweifelter Fluchtversuch, der zum Scheitern verurteilt war. Im Nu waren die beiden von zahllosen Händen ergriffen und zu Boden gezerrt. Auch viele der Zuschauer beteiligten sich jetzt, hielten die beiden Männer fest, schlugen und traten sie, während Janssen und Erikas Vater ihnen Gürtel und Hosenträger abnahmen und sie damit fesselten. Die Kofferraumklappe des Wagens öffnete sich wie ein gefräßiges Maul, und die beiden Gefangenen wurden hineingestopft wie die Opfer eines blutrünstigen Molochs. Zwei der SA-Männer drückten die Klappe herunter.
»Passt nicht«, rief einer der beiden. »Das Ding geht nicht zu!« Zwar steckten die Körper der Gefesselten im Frachtraum, ihre Köpfe jedoch schauten noch durch einen Spalt heraus, am Hals eingeklemmt zwischen Klappe und Karosserie.
»Haut ihnen welche auf den Dassel!«, schrie jemand aus der Menge. »Dann passen sie schon rein, wetten?« Und eine andere Stimme grölte: »Schneidet ihnen die Rüben doch einfach ab!«
Wieder lachte der Kohlenhändler dröhnend. »Wieso denn? Sieht so doch gut aus. Kann wenigstens jeder sehen, was Juden blüht, die sich in Jemgum blicken lassen.« Er fixierte die Kofferraumklappe mit einem Stück Seil am Griff, so fest, dass die Hälse der beiden Gefangenen schmerzhaft gequetscht wurden. Einer von ihnen schrie auf; die Gaffer antworteten mit höhnischem Geheul. Der andere, dem das Blut aus der zerschlagenen Nase lief, biss die Zähne zusammen und schwieg.
Umso mehr johlten die Umstehenden. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, die anderen Nazis drängten sich auf Vorder- und Rücksitze, und wer keinen Platz mehr fand, stellte sich auf die äußeren Trittbretter und hielt sich an den Fensterrahmen fest. Eine Qualmwolke quoll aus dem Auspuff, als der Motor dröhnend ansprang. Langsam und auf dem unebenen Pflaster schwankend, setzte sich der Wagen in Bewegung. Jetzt schrien beide Geschundenen laut auf; ihre Hälse wurden mit jedem Schaukeln stärker und schmerzhafter zwischen den Metallkanten gescheuert und gequetscht. Einige Halbwüchsige und auch ein paar erwachsene Männer trabten hinterher, als hätten sie Sorge, auch nur einen Moment dieser schaurigen Prozession zu verpassen.
Erika schaute auf Stinus, der sich nur mit Mühe zu beherrschen schien, um sich nicht stracks in den Sattel zu schwingen und dem Auto mit den Gefolterten zu folgen. Sein Mund stand vor Begeisterung halb offen, und sein gespannter Blick verriet keine Spur von Mitleid.
Ganz anders Fritz. Überrascht bemerkte Erika, dass dessen Unterlippe bebte, dass sich der Junge sogar über die Augen wischte. Keiner außer ihr schien das gesehen zu haben, alles starrte immer noch dem Wagen nach, der sich langsam entfernte.
»Disse Düvels«, zischte Erikas Großmutter halblaut. »Disse naare Düvels.«
Stinus nickte, ohne sich umzudrehen. »Ja, das ist wahr«, stimmte er zu. »Die Juden sind Deutschlands Unglück, das steht mal fest.«
Gott sei Dank, dachte Erika und hoffte, dass ihre Großmutter nicht daran denken mochte, Stinus’ Irrtum aufzuklären.
»Nun macht mal voran«, sagte die stattdessen. »Sonst verpasst ihr noch die Fähre.«
Die Leute um sie herum gingen noch nicht auseinander, sondern besprachen laut und erregt das Geschehene, hämisch zumeist und ohne einen Ton des Bedauerns. Trotzdem kamen sie jetzt mit ihren Fahrrädern leichter durch. Schnell brachten sie die Oberflethmerstraße hinter sich und erreichten den Fährpatt. Schon hatten sie die Deichlinie hinter sich; vor ihnen glitzerte das Hafenbecken in der kalten Oktobersonne. Allerhand Boote dümpelten an ihren Festmachern. Die Fähre lag abfahrtbereit.
Erika war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch Lust auf den Jahrmarkt hatte, so voll war ihr Kopf von den fürchterlichen Bildern, die noch kaum verblasst waren. Sollte sie einfach umkehren? Aber da war diese Abmachung mit Stinus, so bindend wie ein Vertrag. Gut, sie konnte Übelkeit vorschützen, ein plötzliches Unwohlsein. Unterleibsbeschwerden. Da würde Stinus nicht nachfragen, das würde er sich nicht trauen. Alle Jungs hatten eine heilige Scheu vor den Mysterien des weiblichen Körpers, das wusste Erika genau. Zwar brannten sie alle darauf, mehr, viel mehr darüber zu erfahren, aber fragen würden sie nie. Lieber sich die Zunge abbeißen.
Unwillkürlich war sie langsamer gegangen. Stinus, dem es nach dem spannenden Aufenthalt nun nicht schnell genug gehen konnte, hatte schon ein paar Meter Vorsprung. Auch vor Fritz, der ebenfalls seinen Schritt verhalten hatte, den Blick zu Boden gerichtet. Dieser Fritz kam Erika immer eigentümlicher vor. Warum benahm er sich so … so … anders als andere Jungen?
Als erneut Motorengeräusch ertönte, dachte Erika zunächst, es käme von der Fähre, die gleich abfahren würde. Dann erst registrierte sie, dass das Geräusch von hinten kam. Und lauter wurde. Das große Auto war wieder da, hatte seine Rundfahrt durch den kleinen Ort offenbar beendet. Dröhnend bog es in den Fährpatt ein, die Nazis immer noch auf den Trittbrettern, die beiden Geschundenen immer noch eingeklemmt im Kofferraum. Direkt am Hafenbecken, nur wenige Schritte von Erika und ihren Begleitern entfernt, hielt der Wagen an. Sekunden später hatte sich auch die Traube der Gaffer wieder versammelt.
Der Kohlenhändler stieg aus, ein aufgeschossenes Tau über dem Arm. Woher hatte er das plötzlich? Mit breitem, fettem Grinsen wandte sich der Mann an die Umstehenden. »So, Volksgenossen«, tönte er, »jetzt wollen wir diesen Judenlümmeln mal zeigen, wie wir Ostfriesen mit solchen Schädlingen umgehen. Vorwärts, holt die Schweine mal raus da!«
Eifrige Helfer lösten die provisorische Vertäuung des Kofferraumdeckels. Die beiden Gefesselten, die aus Schnitt- und Schürfwunden am Hals bluteten und kaum noch bei Bewusstsein waren, wurden herausgezerrt, auf die Füße gestellt und unsanft aufrecht gehalten, Rücken an Rücken. Der Kohlenhändler nahm ein Tauende in die Hand und reckte den Arm in die Höhe. »Passt alle gut auf!«, brüllte er. »Jetzt werden die beiden Juden hier mal mit Emswasser Bekanntschaft machen! Nachher werden sie sauberer sein als vorher, denn so gründlich haben die sich bestimmt noch nie gewaschen! Vor allem aber wird Ostfriesland hinterher viel sauberer sein. Wir spülen den Dreck weg, und zwar endgültig, das verspreche ich euch.« Mit diesen Worten bückte er sich, schlang das Tau den beiden bereits Gefesselten um die Leiber und knotete die Schlinge fest zusammen. »Janssen, was ist nun mit dem Boot?«, rief er über seine Schulter.
»Kommt!«, ertönte die militärisch knappe Antwort. Janssen treidelte bereits eine schlanke Motorbarkasse die Kaimauer entlang in Position, unterstützt von Erikas Vater, der, nachdem er den achteren Festmacher provisorisch belegt hatte, den Glühkopf des schweren Diesels mit einer Lötlampe auf Temperatur brachte.
»Sie wollen die beiden hinter das Boot binden!« Stinus’ Gesichtsausdruck wechselte zwischen Unglauben und Gier. »Sie wollen die Juden durchs Wasser schleifen! Mensch, die meinen es ernst.«
»Das überleben die beiden nicht«, stöhnte Erikas Großmutter und verbarg ihr Gesicht in den Handflächen.
Fritz schwieg. Tränen liefen über seine wachsbleichen Wangen.
7.
Als Stahnke zu Kramer hinüberging, stand Dr. Mergner bei ihm, die weißen Haare unternehmungslustig gesträubt, in der Hand einen Stoß zusammengehefteter Kopien. »Fertig!«, verkündete er stolz. »Na, war das schnelle Arbeit?«
Der Hauptkommissar zuckte die Achseln. »Mal gucken. Wenn’s uns schlauer macht, war’s schnell. Wenn nicht, dann hat es noch zu lange gedauert.«
Mergner schickte Stahnke einen vernichtenden Blick, der allerdings durch seine dicken Brillengläser einiges an Sprengkraft verlor. Dann wandte er sich demonstrativ wieder Kramer zu. »Zunächst einmal steht die Todesursache jetzt eindeutig fest«, referierte er. »Die Obduktion hat ergeben, dass der Mann ertrunken ist.«
Stahnke schnaubte. »Kunststück! Wenn man eine Leiche in einer wassergefüllten Kiste findet, dann ist es ja wohl kein Wunder, wenn die Lunge voll Wasser ist.«
»Das habe ich nicht gesagt«, korrigierte Mergner scharf. »Im Gegenteil. Natürlich hatte der Tote keine wassergefüllten Lungen. Vielmehr waren sie voll mit sogenanntem Schaumpilz, also feinen Blasen aus Schleim und Luft, vermischt mit etwas Wasser. Wie es eben typisch ist für einen Ertrunkenen.« Wieder so ein giftiger Blick auf Stahnke: »Das sollten Sie aber wirklich wissen.«
Stahnke spürte aufsteigende Hitze im Nacken. Klar, eigentlich wusste er das auch. Hatte auch schon einschlägige Befunde in der Hand gehalten, in denen von ballonierten Lungen die Rede war, Lungen, die gebläht waren von diesem Schaum und in die man Dellen drücken konnte, weil sie ihre Elastizität verloren hatten. Er mochte gar nicht daran denken, wie es zuging, wenn während des Ertrinkens solcher Schaum entstand.
Nachdem Mergner aber Stahnkes Erinnerung nun einmal auf die Sprünge geholfen hatte, fielen dem gleich noch ein paar Details mehr ein. »Wie sieht es denn mit dem Magen des Toten aus? War da Wasser drin?«
Der Mediziner runzelte die Stirn und blinzelte über seine Brillengläser hinweg. »In der Tat, ja«, antwortete er verblüfft. »Das könnte jedoch …«
»… auch postmortal dorthin gelangt sein«, unterbrach Stahnke. »Ist bekannt. Und was ist mit dem Dünndarm?«
»Ebenfalls Wasser«, erwiderte Mergner und nickte anerkennend. »Womit wir einen eindeutigen Beweis für Tod durch Ertrinken hätten.«
»Wurde das Wasser analysiert?«
»Was denken Sie denn? Natürlich! Es ist mit dem Wasser in der Kiste identisch. Beziehungsweise mit dem Wasser, das diesen Keller halb geflutet hatte. Wobei es sich um hiesiges Leitungswasser ohne signifikante Beimischungen handelt. Als Beweis, dass der Betreffende nicht anderweitig ertränkt wurde, würde ich das aber gelten lassen.«
Stahnke begann breit zu grinsen. »Aber, aber, Herr Doktor! Jetzt fangen Sie ja doch an, unsere Arbeit zu machen. Erst bewerten Sie Indizien und befördern sie zu Beweisen – und dann machen Sie aus Ertrinken plötzlich Ertränken! Kann es sein, dass Sie irgendwo einen Trumpf stecken haben, den Sie eigentlich noch ausspielen wollten?«
Jetzt war es an Mergner, zart zu erröten. »Tja, äh … Sie wissen ja, diese Schwellungen am Hinterkopf des Toten. Ich wollte da ganz sichergehen. Aber es steht zweifelsfrei fest, dass dem Mann diese Verletzung vor seinem Tod zugefügt worden ist. Und dass die Schläge hart genug waren, um ihm das Bewusstsein zu rauben.«
Stahnke wechselte einen stummen Blick mit Kramer. Von gewaltsamer Tötung waren sie ohnehin schon ausgegangen, das ganze Arrangement dort in diesem Kellergewölbe, die gefesselten Hände und Füße ließen gar keine andere Schlussfolgerung zu. Jetzt schied wohl die Möglichkeit eines Unfalls aus, etwa bei einem schiefgegangenen Waterboarding. Wenn dem Ertränken dieses alten Mannes tatsächlich eine peinliche Befragung vorausgegangen war, dann hatten die Täter diese wohl als beendet erachtet. Entweder, weil sie die Hoffnung aufgegeben hatten, an Informationen zu kommen – oder weil sie schon alles erfahren hatten, was sie wissen wollten. Womit ihr Opfer verzichtbar geworden wäre. Fester Schlag auf den Kopf, noch einer zur Sicherheit, Klappe zu. Mit anderen Worten: Mord.
»Wie lange ist die Tat in etwa her?«, erkundigte sich Kramer.
»Zwischen sechsunddreißig und achtundvierzig Stunden vor dem Auffinden«, erwiderte Mergner prompt. »Das Leitungswasser war kalt, die Kellerluft ebenfalls, das hat den Zersetzungsprozess verlangsamt. Haben wir beides in Rechnung gestellt.«
Der Tatzeitpunkt war demnach weder auf einen Wochentag noch auf eine Tageszeit genau zu bestimmen. Vor allem Letzteres fand der Hauptkommissar ärgerlich.
»Was ist mit dieser Silikondichtung?«, fragte er. »Wie alt ist die eigentlich?«
»Nicht sehr alt«, warf Kramer ein. »Sogar fast frisch, Lösungsmittel teilweise noch nicht ausgegast, also nicht ganz durchgehärtet. Die Masse dürfte erst kurz vor dem Tod unseres Unbekannten aufgebracht worden sein.«
Stahnke runzelte die Stirn. »Und zu genau diesem Zweck vermutlich«, ergänzte er. »Warum nur dieser Aufwand?«
Kramer zuckte die Achseln.
»Bleibt die Frage aller Fragen.« Der Hauptkommissar wandte sich wieder Mergner zu. »Nämlich die, mit wem wir es hier zu tun haben.«
Mergner nickte. »Richtig. Weshalb wir der Leiche auch erstklassige Fingerabdrücke abgenommen haben, was ich einmal lobend erwähnen möchte, denn aufgrund der fortgeschrittenen Waschhaut des Toten war das keine kleine Herausforderung.« Beifallheischend huschte sein Blick zwischen Stahnke und Kramer hin und her. Die aber hielten sich mit Anerkennung zurück, ahnend, was folgen würde. Der Mediziner seufzte. »Hat aber leider nichts genützt. Der Tote ist nicht in unserer Kartei. Auch beim Bundeskriminalamt wurde alles abgerufen und verglichen, aber ohne positiven Befund.«
Stahnke rieb sich die Augen; obwohl sie noch am Anfang vermutlich langwieriger Ermittlungen standen, fühlte er sich bereits müde. Der Jüngste war er wahrlich nicht mehr. »Da die Befragung der Nachbarn ebenfalls negativ verlaufen ist, stehen wir in puncto Identifikation also nach wie vor bei null«, knurrte er.
»Und die DNA?«, fragte Kramer
»Diese Hoffnung bleibt uns noch«, entgegnete der Doktor.
Stahnke brauchte eine Sekunde, ehe er begriff. »Wie! Soll das heißen, der genetische Fingerabdruck wurde noch nicht abgeglichen?«
»Na hören Sie mal!« Mergners zerzauste Haare schienen sich im Zorn noch mehr zu sträuben. »Wofür halten Sie mich? Für einen Zauberer?« Irritiert hielt er inne, denn Stahnkes verkniffene Miene gab ihm Rätsel auf. Wie hätte der Gerichtsmediziner auch wissen können, dass sein Gegenüber ihn in Gedanken gerade eben genau mit einem Hexenmeister verglichen hatte und sich das Lachen jetzt nur mit Mühe verbeißen konnte?
»So schnell ist das LKA nun einmal nicht«, assistierte Kramer dem Doktor. »Das wissen wir doch zur Genüge.«
»Nach Hannover haben Sie die Proben zur Analyse geschickt?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein! Gegen das Landeskriminalamt sind Schnecken die reinsten Rennpferde. Die lassen uns doch warten, bis wir schwarz werden.«
»Nicht in Mordsachen«, widersprach Mergner. »Machen Sie mir die Kollegen dort nicht schlechter, als sie sind. Die wissen auch Prioritäten zu setzen.«
»Tja, wenn die Bildzeitung drängelt und ein Skandal droht! Dann vielleicht.« So leicht war der Hauptkommissar nicht zu besänftigen. »Haben Sie die Sendung denn wenigstens entsprechend gekennzeichnet?«
Mergner schluckte und schwieg.
Stahnke stöhnte. »Los, Mann, sorgen Sie mir dafür, dass eine zweite Probe in ein privates Labor gegeben wird, mit Eilvermerk. Wir müssen hier endlich von der Stelle kommen.«
Der Mediziner schnappte nach Luft. »Ohne offizielle Anordnung? Und wer zahlt das? Soll ich die Rechnung gleich an Sie persönlich schicken lassen?«
Stahnke wandte sich Kramer zu. »Ruf Manninga an, sag, dass der Laborbefund eilt und dass wir grünes Licht brauchen. Schönen Gruß. Ach ja, und wenn du ihn schon an der Strippe hast: Er soll doch bitte auch in Hannover Druck machen. Doppelt hält besser. Mal gucken, wer am Ende das Rennen macht.« Er drehte sich zurück, legte Mergner einen Arm um die Schultern, schob ihn wie beiläufig zur Tür: »Schönen Dank so weit, dann sehen wir mal zu, dass es weitergeht, wir beide, nicht wahr?«
Etwas später tauchte Kramer vor Stahnkes Schreibtisch auf. »Läuft alles, so wie gewünscht«, teilte er mit, knapp und effizient wie immer. Dann verharrte er stumm, bis der Hauptkommissar sich bequemte, den Blick zu heben. »Dass die Anzahl deiner Freunde gerade um einen halben geschrumpft ist, weißt du ja wohl, oder?«
»Ein halber Freund? Was kann man damit schon anfangen.« Stahnkes Schmunzeln fiel dünn aus. »Schöntuerei bringt keine Resultate, und Resultate sind das Einzige, was mich interessiert. Das war doch schon immer so.«
Der Oberkommissar nickte. »Stimmt, du hattest hier noch nie viele Freunde.«
Stahnke zuckte die Achseln. »Sollen sie ruhig auf mich schimpfen, solange sie in der Sache funktionieren. Hauptsache … wir haben Erfolg.«
Kramer blickte ernst auf seinen Vorgesetzten herab. Dass der sich erst im letzten Moment besonnen hatte und vom »Ich« zum »Wir« gewechselt war, war ihm nicht entgangen. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er leise. »Vielleicht sind demnächst auch halbe Freunde verdammt wichtig.«
Stahnke hielt Kramers Blick nicht stand. Er senkte den Kopf, wischte ein paar imaginäre Krümel von seinem Schreibtisch und erwiderte schroff: »Hör auf zu unken. Sag mir lieber, wie wir weiter vorgehen. Geben wir das Foto des Toten nun an die Presse oder nicht?«
Das Bild war ganz manierlich geworden; das markante Antlitz war nicht auf den ersten Blick als das einer Leiche zu erkennen.
»Wenn der Mann hier aus der Gegend stammt, müsste ihn jemand erkennen«, sagte Kramer. »Andererseits hat die Vermisstenstelle keine Anzeige vorliegen, die auf unseren Toten passt. Also könnte er auch ganz woanders herstammen. Dann bringt die regionale Veröffentlichung nichts. Aber der Täter weiß dann, dass wir die Leiche gefunden haben, was von Nachteil sein könnte.«
»Theoretisch ja; praktisch wüsste ich nicht, welcher Nachteil das sein sollte, da wir ja noch nicht einmal einen Anfangsverdacht haben«, erwiderte Stahnke. »Andererseits sollten wir vielleicht doch den DNA-Abgleich abwarten.«
»Den haben wir hoffentlich morgen, so oder so«, sagte Kramer.
»Morgen also. Bis dahin warten wir noch ab.« Immerhin eine Entscheidung, dachte Stahnke. Wenn schon kein Ergebnis.
8.
Niemand hatte den Riesen kommen sehen. Plötzlich war er da wie aus dem Boden gewachsen.
Der Kohlenhändler sah ihn als Erster. Hackes hatte das lose Ende des Taus, das er den beiden Gefesselten um die Leiber geschlungen hatte, schon zu Janssen ins Boot gereicht, und der war gerade dabei, einen Palstek hineinzuknüpfen und es an der eisernen Heckklampe der Motorbarkasse zu befestigen. Jeder seiner Handgriffe wurde erwartungsvoll beäugt. Das Pochen des Bootsdiesels beschleunigte sich. Gleich würde die Barkasse ablegen, die Leine würde sich unter dem Zug straffen und den beiden Männern den Boden unter den Füßen wegreißen. Sicherlich würde ihnen die Kante der Kaimauer noch einen harten Schlag verpassen, ehe das Boot sie unter Wasser zog. Der Zug der Leine würde sie anschließend wieder an die Oberfläche befördern, wo sie verzweifelt nach Luft schnappen würden, ehe es wieder abwärts ging, wieder und wieder. Am Ende würden sie quälend langsam ertrinken, ertränkt von einer Mörderhorde, die heute früh noch eine Ansammlung ganz gewöhnlicher rheiderländer Ostfriesen gewesen war. Letzter Gruß von Jemgum, der Perle des Rheiderlandes, schoss es Erika durch den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Heimat.
Aber sie schämte sich auch ihrer selbst. Warum schrie sie nicht, warum rief sie nicht »Halt, ihr Mörder!«? Weil sie wie gelähmt war vor Angst. Weil niemand sonst es tat. Und warum tat es wohl niemand? Weil kein anderer es tat? Ja, dachte Erika, wahrscheinlich funktioniert es so.
Es funktionierte wirklich gut.
Aber dann war der Riese plötzlich da. Hoch ragte er auf vor Hackes, dem Kohlenhändler, der den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ein finsterer Blick Fleischhauers trieb den Nazi einen Schritt zurück. Der Riese riss ihm das Tau aus den Händen, ruckte am losen Ende. Janssen, der die Palstek-Schlaufe gerade über die Klampe streifen wollte, griff ins Leere.
Ein Raunen ging durch die Gaffermeute. Was fiel dem Schuster ein, sich mit den Nazis anzulegen, mit der ersten und inzwischen längst einzigen Gewalt im Staate? Was gingen ihn diese Juden an, dass er sein Leben für sie riskierte? Denn sein Leben, so viel stand fest, hatte er verwirkt. Jeder, der den Nazis Widerstand leistete, starb. Das glaubte, das wusste jeder. Entweder er starb an Ort und Stelle, oder er verschwand und blieb verschwunden.
Fleischhauer trug seine blaue Arbeitsschürze über seiner Alltagskluft. Für Markt und Müßiggang schien er keinen Sinn oder keine Zeit zu haben. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, und auf seinen Unterarmen traten Muskeln hervor, dicker als das Tau, das er in seinen Händen hielt. Kein Wunder, dass dem Kohlenhändler das Herz in die Hose gerutscht ist, dachte Erika.
Der erste Schreck aber war schnell überwunden. Die Nazis hatten zwar lange keinen Widerstand mehr erlebt, aber sie erinnerten sich schnell daran, wie man welchen brach. Die erste Regel hieß Überzahl, und die war hier eindeutig gegeben. Zudem trugen einige der Uniformierten Pistolen, während der Schuster allein und unbewaffnet war. Beste Voraussetzungen also, um mutig zu werden.
Janssen sprang aus der Barkasse, die rechte Hand an der Pistolentasche. Von Trunkenheit war nichts mehr zu bemerken. »Wer bist du denn?«, brüllte er Fleischhauer an. »Was bist du denn für einer? Judenfreund, was? Willst deinen Freunden wohl Gesellschaft leisten?« Er beugte sich vor und starrte den Schuster drohend an, verfehlte jedoch die beabsichtigte Wirkung, weil auch er, obgleich größer gewachsen als der Kohlenhändler, zu dem Riesen aufblicken musste. Auch aus einem anderen Grund wirkten seine Worte eher komisch. Fleischhauer und Janssen waren beide in Jemgum aufgewachsen, und jeder wusste, dass der heutige SS-Mann seine Schuhe und Stiefel seit Jahr und Tag beim selben Schuster reparieren ließ wie alle anderen auch. Ihn zu fragen, wer er denn sei, löste trotz der herrschenden Anspannung ein paar Gluckser in der Menge aus.