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Erika war nicht nach Lachen zumute. So also geht es zu in den Moorlagern, dachte sie und stellte sich vor, wie Janssen und seine Komplizen ihren Großvater auf diese Weise angingen, um ihn einzuschüchtern und gefügig zu machen. Und was danach wohl noch alles kam. In diesen Lagern gab es ja keine Zeugen, niemanden, der berichten konnte, wie es dort zuging. Nur Täter und Opfer. Die Täter hielten dicht, um sich nicht selber reinzureißen. Und die Opfer …
Das Mädchen schaute zu den beiden gefesselten Juden. Auch sie starrten den tapferen Schuster an, wie alle anderen auch. Auf ihren Gesichtern war keine Hoffnung zu erkennen, schon gar keine Freude über die unerwartete Hilfe. Erika sah nur Traurigkeit. Als hätte sich die Zahl der Opfer gerade um eins erhöht.
Die Nazis hatten sich jetzt alle von ihrem Schock erholt, machten Front gegen Fleischhauer, griffen nach dem Seil, versuchten es dem Schuster wieder zu entwinden. Der Riese hielt eisern fest, musste aber zurückweichen. Janssen tänzelte ein paar Schritte seitwärts, versuchte in Fleischhauers Rücken zu gelangen. Es sah schlecht aus für den mutigen Mann.
Fritz stieß einen eigenartigen Laut aus, wie ein getretenes Kätzchen. Niemand achtete darauf. Niemand außer Erika. Er schluchzt, dachte sie. Ihr Blick streifte wieder die Gesichter der Gefesselten. Und traf genau auf den des Mannes mit den Ärmelschonern. Jedenfalls glaubte sie das einen Moment lang. Tatsächlich aber schaute der Mann zu Fritz, der direkt vor ihr stand. Sie sah den Mann seine Stirn runzeln und leicht, fast unmerkbar den Kopf schütteln.
Und Fritz verstummte.
»Was soll das denn werden hier? Düvel noch mal, seid ihr denn jetzt ganz und gar van d’ Padd of?« Eine neue Stimme zerteilte den Tumult, der sich gerade aufs Neue erheben wollte. Eine trainierte, befehlsgewohnte Stimme, deren Besitzer durch die Gaffermeute pflügte und auf die Gruppe zuhielt, die den Kreis um Fleischhauer schon fast geschlossen hatte. Heinz Lüchte war es, der Dorfgendarm, allem Anschein nach direkt vom Küchensofa hochgeschreckt, auf dem er gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt, denn sein spärliches Haar hing ihm wirr um den Kopf, und seine Finger hatten noch damit zu tun, die letzten Jackenknöpfe über dem Bauch zu schließen. Lüchte war ein bekennender Nazi, mindestens ebenso glühend wie der Kohlenhändler, und Erika stöhnte innerlich auf. Wie schlimm sollte es denn noch kommen?
Lüchte stieß Janssen beiseite, ignorierte dessen empörten Protest und stellte sich neben Fleischhauer. »Zurück«, sagte er leise, aber unerwartet bestimmt. »Alle zurück. Das Tau loslassen. Sofort.«
Fleischhauer wechselte einen Blick mit dem Gendarm, dann ließ er los. Als Erster. Wie geschickt das war, ging Erika erst nach und nach auf. Formal war der Ortspolizist nach wie vor die höchste Autorität am Platz, auch wenn er seine Befehle längst von der Partei bekam, deren Repräsentanten ihm hier gegenüberstanden. Diese Partei jedoch verkündete Gehorsam gegenüber der Obrigkeit als eines der obersten Prinzipien. Der Schuster hatte, scheinbar brav, Folge geleistet. Wer sich jetzt etwa weigerte, setzte sich ins Unrecht, und zwar in aller Öffentlichkeit.
Der Kohlenhändler löste seinen Griff, hob mit übertriebener Geste die Hände halbhoch, Flächen nach vorn. Die anderen folgten seinem Beispiel. Das Tau fiel zu Boden.
»So, und jetzt macht die beiden hier los.« Lüchte strich sich die Haare glatt, war jetzt eindeutig Herr der Lage. »Schluss mit dem Blödsinn. Hier ist Deutschland, hier herrschen Recht und Ordnung. Wenn hier jeder machen würde, wozu er gerade Lust hat, wo kämen wir dann hin!« Er stemmte seine Fäuste in die Hüften und wandte sich halb der Nazigruppe, halb den Zuschauern zu: »Was wir von den Juden zu halten haben, wissen wir, und zwar alle. Die werden kriegen, was sie verdienen, das könnt ihr mir glauben! Da wird der Führer schon für sorgen. Früher oder später. Aber das wird ordentlich geschehen, verstanden? Nach Recht und Gesetz. Nicht wie bei den Hottentotten. Geht das in eure Köpfe?!«
Erika sah die wütenden Mienen, aber sie sah auch gesenkte Häupter und verlegene Blicke. Zumindest für den Moment hatte der Gendarm erreicht, was er wollte. Wer die beiden Juden losgebunden hatte, sah Erika nicht. Aber als sie das nächste Mal dorthin blickte, wo sie gestanden hatten, waren die Männer fort. Das Seil lag schlapp am Boden. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte ihre Großmutter leise. Erika nickte. Die Lust auf einen Jahrmarktsbesuch war ihr gründlich vergangen. Fritz und Stinus ebenfalls, wenn auch wohl aus unterschiedlichen Gründen.
Als Erika noch ein letztes Mal zu der Gruppe bei dem großen Auto schaute, blickte sie genau in die wütenden Augen ihres Vaters.
9.
Kühe, ganz viele Kühe. Schwarz-weiß auf grün, fast weiß auf grün, braun-weiß auf grün, braun. Braun war in, braun war im Kommen, oh Baby, Baby. Cooler Checker. Was geht ab, Alda. Beweg dein’ Aasch, Alda.
Laute Stimmen, ärgerlich, wütend, hart. Drängend. Aufdrängend. Wie hieß das noch? Irgendwie anders. Alter, eh. Scheiß doch auf Deutsch, scheiß doch, Alter. Kühe glotzten ihn an. Bewegten ihre Mäuler, glotzten ihn an. Laute Stimmen, wütend, drängend. Kühe brüllten ihn an. Stinksaure Kühe, echt jetzt mal, ey, Alter. Was hatten die denn genommen? Was für Milch gaben die denn wohl, saure? Und was hatten ihn denn wohl Kühe anzubrüllen, jetzt hier, echt mal?
Justin stemmte mühsam seine Augenlider hoch; sie waren verklebt, sein Mund war ausgetrocknet, seine Zunge rollte in der Mundhöhle herum wie mit Sandpapier bespannt. Sollte doch mal nachts bisschen was mehr schlafen, dachte er, ey Alter, dachte er. Und hatte es sofort wieder vergessen. Die lauten, wütenden, harten, drängenden Stimmen waren immer noch da, dröhnten aus seinen Earplugs. HipHop, irgendwas von Bözemann, wieso, vorhin war es doch noch Massiv gewesen? Egal, Mann, Hauptsache Drive, Hauptsache cool. Wütend und aggressiv und voll respektlos war cool. Fresse, Alda, is’ doch alles nur Spaß!
Justin gähnte ausgiebig. Dann zupfte er sich den Soundknopf aus dem rechten Ohr. Aber die laut brüllenden, aggressiven Stimmen wurden dadurch eher noch lauter.
Scheiß Tagesfahrt, dachte Justin, scheiß Schule auf Rädern. Stundenlang nur Gewackel im Doppeldecker und stumpfe Kühe auf der Weide vor dem Fenster und drinnen Gebrüll. Nicht mal richtig schlafen konnte man. Dann fiel ihm auf einmal das Wort ein: aufdringlich. Nur, wozu sollte das gut sein? Justin zuckte die Schultern.
»Was ’n, Alter, machste Sitzpogo?« Hadid plumpste auf den freien Platz neben Justin, grapschte nach dem baumelnden Earplug. »Was’ das denn, Bözemann? Is’ doch Schwachmatenkram, ey! Hör dir lieber Alba Kingz an. Kann ich dir downloaden, wenn du willst, kost’ nix. Oder Bass Sultan Hengzt. Alles doch nur Spaß!« Hadid lachte, es klang hysterisch. Justin zog ihm den Ohrhörer aus der Hand und antwortete nicht, seine Miene unbewegt bis auf die hängende Unterlippe, die jede Bewegung des Busses nachzitterte. Was der Typ sich einbildet, dachte er, hab ich doch alles längst!
Hadid grinste, die krause Tolle über seiner schmalen Stirn wippte. Dann katapultierte er sich aus der Bank, irgendwo anders hin.
Eine verzerrte Stimme krächzte aus den Buslautsprechern, durchdrang das Schülergetöse nur ansatzweise. Fast niemand hörte hin, die Lehrer saßen sowieso alle unten. Irgendwas mit »Gurte anlegen, während der Fahrt nicht die Plätze wechseln« oder so. Plögers Stimme, ach, gepfiffen, auf den hörte ja eh keiner. Knack, aus.
Dann, nach ein paar Sekunden, wieder knack: »Sofort das Kaugummi von der Kamera entfernen, oder ich komm rauf!« Oha, das klang nach Käpt’n Iglo! Justin richtete sich ein wenig auf, linste nach vorne. Aha, natürlich Max. Pulte schon den Gummiqualster von der Linse, schön von der Seite, toter Winkel. Wollte keinen Ärger, der Max. Aber mit Käpt’n Iglo wollte ja keiner Stress. Der war fast so schlimm wie Knoppers, der Sportlehrer, und Knoppers konnte einen richtig fertigmachen. Drei, vier Runden um den Platz, den Alten mit seiner Pferdelunge dabei immer im Nacken, das brauchte echt keiner. Voll krass waren die Typen, echt, ey.
Jetzt ging Max in die Hocke, zog sich seine Hood über den Kopf und tauchte unter der Kamera hindurch zurück auf seinen Platz. Natürlich neben Dunja, war ja klar. Verdammt heiße Schnecke, wenn man auf Ölaugen stand. Wilde schwarze Locken bis über den halben Rücken, Ohrringe wie umgedrehte Weihnachtsbäume, auch sonst geile Optik, aber ihr Mund stand nie still. Justin würde so was rasend machen. Aber eine wie Dunja kam für ihn ja sowieso nicht in Frage.
Trotzdem, geiler Mund.
Knack, wieder der Lautsprecher. Plöger, ihr Geschichtslehrer. »So, liebe Schülerinnen und Schüler, wir erreichen jetzt gleich das Lager Westerbork. Ihr wisst ja Bescheid, Westerbork wurde ursprünglich 1938 von der niederländischen Regierung errichtet, um die vielen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, vor allem natürlich Juden, aufzufangen und unterzubringen, denn integrieren wollte man sie auf keinen Fall, schon um das Verhältnis zu Deutschland nicht zu belasten. So galten die Juden als unerwünschte Ausländer.«
»Na logo!«, schrie Hadid dazwischen. »Wo denn auch nicht? Die waren ja nicht dumm, die Holländer, was, Caro?«
Die Angesprochene, eine hübsche, hochgewachsene Blondine, deren Eltern aus Drenthe stammten, lächelte nur, irgendwas zwischen geschmeichelt und peinlich berührt. Einige andere johlten laut und beifällig. Auch Dunja lachte, dass ihre Ohrgehänge schepperten.
»Nach dem Einmarsch am zehnten Mai 1940 übernahmen die Deutschen das Kamp Westerbork«, fuhr Plöger ungerührt fort. Er kriegt unten wohl nur ansatzweise mit, was hier oben im Bus abgeht, dachte Justin. Unten war es ruhiger, da saßen sowieso nur die Braven. »Aus Internierten wurden damit automatisch Gefangene. So gesehen, haben die Holländer den Nazis die Arbeit sehr erleichtert.«
Wieder Beifallsrufe oben im Bus; Hadid beugte sich zu Caro vor und klopfte ihr demonstrativ auf die Schulter. Das wurde der Blonden nun doch zu viel. Ärgerlich schüttelte sie die Hand des Libanesen ab.
»Auch die Familie Frank, deren Haus in Amsterdam wir später noch besichtigen werden, wurde nach ihrer Gefangennahme hierher gebracht«, erzählte der Geschichtslehrer weiter. »Inzwischen war aus dem sogenannten Flüchtlingslager ganz offiziell ein Judendurchgangslager geworden. Durchgang bedeutet Zwischenstation auf dem Weg zu den Vernichtungslagern. Aber das wisst ihr ja hoffentlich noch aus dem Unterricht, hatten wir ja alles schon.« Knack. Gelangweiltes Genöle machte sich breit, während der Bus abstoppte und schwankend auf einen Museumsparkplatz einbog. Knack: »Und kommt natürlich im nächsten Test dran.« Knack. Genervtes Stöhnen mischte sich ins Genöle.
»Scheiß Judentest!« Das kam von ganz hinten. »Nix wie Ärger hat man mit dem blöden Pack.« Ach, Erol. Sollte wohl komisch sein, jedenfalls lachte der Lange selbst, und seine Kumpels stimmten ein, Hadid allen voran. Dunja lachte nicht, das konnte Justin deutlich sehen, denn sie hatte sich umgedreht und starrte nach hinten. Ihre Augen funkeln, stellte Justin fest. Scharf. Aber blaue fand er trotzdem schöner.
Zischend öffneten sich die Türen, die Schüler quollen ins Freie, alle drei neunten Klassen der Leeraner Friesenschule, Fünfzehnjährige überwiegend, aber auch schon Sechzehn-, Siebzehn- und Achtzehnjährige. »Überlagerte« nannte Plöger die Wiederholer. Justin war sechzehn, spät eingeschult, einmal backen geblieben, genau wie Hadid, der war zwar schlauer als er, aber früher genauso faul, tja, war halt so. Wen kümmerte das? Seine Mutter jedenfalls nicht. Vater hatte er eh keinen.
Während draußen schon die Gruppen eingeteilt und Bögen mit Aufgaben verteilt wurden, schob sich Justin noch die Wendeltreppe runter. Eilig hatte er es nicht, Geschichte war noch nie sein Ding gewesen. Musik schon eher, jedenfalls HipHop. Er schob den zweiten Earplug wieder hinein. Ich ficke deine Mutter hier langsam gang und gäbe / dank mir, kein Problem, das war im Handumdrehn / ich sperre Mädchen in meinen Keller ein / sag, was kann man für ein Penner sein / und kick den Neugeborenen die Schädel ein … Krass. Justin musste grinsen. Tja, Bass Sultan Hengzt, solche Leute trauten sich was. Fand er geil, auch wenn er die eigentlich nicht mochte. Komisch eigentlich. Aber auch egal.
Dunja tänzelte auf Plöger zu und schnappte sich eines der letzten Klemmbretter mit Fragebögen, strahlend wie immer. Fingerlang Ehrgeiz, pah. Justin beeilte sich, an ihre Seite zu kommen, quetschte sich zwischen Max und Hadid, rempelte dabei Thang zur Seite, ohne sich zu entschuldigen. Der Schlitzi war eifrig genug, der konnte sich sehr gut selber helfen.
»Immer vier arbeiten zusammen!«, rief Plöger. Justin hörte nichts, sah nur die vier Finger, die sein Lehrer in die Höhe hielt. Na prima, das passte doch. Dunja würde das schon machen, notfalls mit Max’ Hilfe. Er und Hadid mussten nur lässig dabeistehen. Perfekt.
Sie wollen mich hinter schwedischen Gardinen / die Kids sind seelisch labil, ich als Vorbild rede vom Dealen / und habe all diese Mädchen zu Huren gemacht / ich bin das wahre schlechte Vorbild und hab die Juden vergast!
Hinter den anderen her taperte er an Bahngeleisen entlang, stillgelegten offenbar, jedenfalls waren sie verrostet. Einige waren total verbogen, die Enden standen hoch, stachen ins Leere. Sah aus wie der Schrott bei Firma Heeren am Hafen in Leer. Justin glotzte verständnislos. Da war auch ein Prellbock, davor waren Blumen gepflanzt. Hä?
»He, mach gefälligst auch mal mit hier!« Dunja riss ihm die Ohrstöpsel heraus, beide gleichzeitig. Tat richtig ein bisschen weh.
Ärgerlich grunzte Justin auf und stoppte den Player. »Wassn?«
»Pass auf, Frage vier: Wie viele Züge mit deportierten Juden verließen Westerbork zwischen 1942 und 1944 in Richtung Osten?« Dunjas dunkle Augen fixierten ihn ungeduldig.
Justin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Eine Million?«
Dunja schlug ihm das Klemmbrett gegen die Brust. »Blödmann. Penn weiter!«
»Hier!« Hadid hatte eine Infotafel entdeckt. »Da steht’s. 65 Züge nach Auschwitz, 19 nach Sobibor, acht nach Bergen-Belsen und sechs nach Theresienstadt. Macht zusammen, äh, 98 Stück. Richtig?«
»Klasse!« Dunja trug die Zahl ein, benutzte dabei Max’ Rücken als Schreibunterlage. »Damit hätten wir auch gleich die Antwort auf Frage vier: Welche Konzentrationslager waren die Ziele? Vier Kästchen, prima, das passt!«
»98 Züge, gar nicht so viele, oder?«, fragte Max.
»Nur aus Holland? So groß ist das Land ja nicht«, erwiderte Hadid. Er reckte den Hals, konnte Caro aber nirgends entdecken. »Komisch, so ’n kleines Land und so große Frauen!«
»In diesen 98 Zügen saßen aber insgesamt über hunderttausend Menschen«, sagte Dunja. »Guck, das war doch Frage zwei. 107 000 genau. Also über tausend pro Zug.« Sie legte nachdenklich den Stift an ihre vollen Lippen und blieb vor einem offenen Waggon stehen. Westerbork – Auschwitz, Auschwitz – Westerbork stand auf einem verwitterten Schild neben der Schiebetür.
»Gesessen haben die da drin wohl eher nicht«, sagte Max leise. »Das ist ein Viehwaggon.«
»Jetzt kapier ich auch das mit den Schienen«, platzte Justin heraus. Und ärgerte sich, weil ihm aufging, dass sein Lehrer mit seinen Fragen genau das hatte erreichen wollen. Zum Glück achteten die anderen gar nicht auf ihn.
»Frage fünf: Wie viele der Deportierten haben die KZs überlebt?«, las Dunja vor. »Wieso überlebt? Ich denke, die sind da alle ermordet worden.«
»Die meisten, ja«, warf Max ein. »Und viele auch sofort. Aber viele kamen auch erst in Arbeitslager, mussten schuften, die Männer ersetzen, die als Soldaten in den Fabriken fehlten. Hart arbeiten. Dass sie sich dabei schnell zu Tode arbeiteten, war gewollt und einkalkuliert.« Max rieb sich die Stirn, hob dann den Zeigefinger: »Am Ende hat in den Arbeitslagern einer von fünfhundert überlebt. In den Vernichtungslagern war es nur einer von 75 000.«
»Gewollt und einkalkuliert. Soso.« Auch Hadid hob den Finger, rieb sich die Stirn, äffte seinen Mitschüler nach. »Da haben wir aber recht gut aufgepasst, sehr schön, sehr schön, Herr Plöger junior. Dafür dürfen Sie einmal in Ihres Vaters Sessel pupsen.«
Dunja und Justin lachten gleichzeitig los. Hadid hatte sowohl Max als auch seinen Vater gut getroffen. Das Mädchen aber wurde schnell wieder ernst. »Mensch, hört auf zu geiern, das passt hier doch wohl gar nicht. Die Leute gucken schon.«
»Na und?« Hadid blickte sich provozierend um. Keiner der Besucher, die nicht zu den Leeraner Schülern gehörten, schien auf die Gruppe zu achten. »Wenn schon. Was ist denn mit den Leuten, die von den Juden verfolgt und ermordet werden? Was ist mit Palästina und dem Libanon? Massenmord in Palästina, Holocaust durch die Rabbiner! Macht sich darum etwa einer von euch hier einen Kopf? Nee, die Menschen da sind euch doch völlig egal. Nur um die Juden, da wird andauernd ein Gejammer und Geschrei gemacht, ewig und drei Tage! Ist ja nicht auszuhalten.«
Justin nickte beifällig. »Genau. Und immer stehen wir Deutschen als Täter da. Mann, geht einem das auf die Nerven! Dabei waren die Juden doch selber schuld. Hätten ja nicht immer so gierig sein müssen.«
Max zog seine Stirn in Falten. Dunja schnappte nach Luft. Hadid grinste breit. Justin zuckte die Achseln. Ganz genau wusste er auch nicht, wo er das jetzt herhatte. Das Internet bot ja so allerhand.
»Los, weiter.« Dunja blätterte energisch um, las die nächsten Fragen vor. Justin hörte nicht hin. Felder rötlicher Backsteine nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen. Sie standen aufrecht, waren unterschiedlich hoch, und jeder trug einen glänzenden Davidstern auf der oberen Seite. Wenn man genauer hinsah, waren auch Namen und Daten zu erkennen. Konnte es sein, dass jeder dieser Steine für einen Menschen stand, der von hier aus in den Tod geschickt worden war?
Hunderttausend, das war bloß so eine Zahl. Das hier, die Steine, das waren so unglaublich viele. Justin fühlte sich unbehaglich. Er sehnte sich nach seiner Musik, um das ungewohnte Gefühl in seinem Kopf zu betäuben, traute sich aber nicht, die Ohrhörer wieder einzustöpseln. Überall schwirrten Lehrer herum. Jetzt ärgerte er sich doch, dass er sein Haar so kurz hatte schneiden lassen.
Der Fragebogen führte sie vom Freigelände in die Ausstellungsräume. Große, körnige Schwarzweißfotos zeigten Menschen in altertümlicher Kleidung, Erwachsene und Kinder. Begleittexte nannten die unterschiedlichsten Geburtstage. Aber die Todesdaten, die waren irgendwie alle sehr ähnlich.
Haufen von Koffern, die die Leute hatten zurücklassen müssen. Briefe und Karten mit verzweifelten Botschaften, teilweise aus bereits fahrenden Zügen geworfen. Ein Teddy in einem gestreiften Schlafanzug.
Zwischen den Exponaten fühlte Justin sich unbeobachtet. Er stöpselte sich wieder ein und fuhr den Song weiter ab. Menschen sterben jeden Tag auf der Welt / sie haben Pech! / Es ist doch alles nur Spaß, Boy!
Eine eng beschriebene Postkarte ohne Briefmarke drehte sich in einer Glasvitrine, als schwebte sie mit dem Fahrtwind davon. Eine Mädchenstimme sagte: »Mein Gott, was tun mir die Leute leid.«
Justin hörte es nicht. Justin stand wie angewurzelt, die Unterlippe noch weiter herabhängend als sonst, den Blick starr zu Boden gerichtet. In dieser Abteilung gab es Utensilien der Gestapo zu sehen, darunter auch Foltergeräte, zusammen mit Bildern und Texten, die zeigten, wie sie benutzt wurden. Mitten drin eine Kiste, lang und schmal, mit hochgeklapptem Deckel. Justin brauchte nicht erst zu schauen, wie die Nazis sie eingesetzt hatten.
Solch ein Ding hatte er schon einmal gesehen. Im Einsatz.
10.
Auf dem glatten Linoleumboden des hell erleuchteten Labors nahm sich die Kiste ganz anders aus als in dem finsteren Kellergewölbe, wo Stahnke sie zuerst gesehen hatte. Zudem war sie jetzt trocken und enthielt keine Leiche. Trotzdem blieb ein Eindruck von Bedrohlichkeit. Bedrohlich wie ein Sarg eben.
»Die früheren Besitzer des Hauses leben nicht mehr«, referierte Kramer aus seinen Unterlagen. »Es gibt aber Aussagen von Nachbarn, denen zufolge diese Kiste tatsächlich zur Lagerung von Gartengeräten benutzt worden sein soll. Das erklärt die vielen Macken an den Innenseiten und den Sand.«
»Eigentlich unsinnig«, wandte Stahnke ein. »Gartengeräte hängt man doch besser an die Wand, zumal, wenn im Keller so viel Platz ist. Dann muss man nicht lange suchen, wenn man irgendwas braucht. In so einer Kiste liegt doch alles wirr durcheinander, und das, was man gerade benötigt, ist grundsätzlich unten. Außerdem, wenn etwas fehlt, bemerkt man es nicht gleich. Unpraktisch, wenn du mich fragst.«
Kramer blätterte in seinen Unterlagen. »Stimmt«, sagte er. »Allerdings besaßen diese Leute außer dem Garten hier noch eine Parzelle in einem Schrebergarten draußen im Hammrich. In der Kiste wurden die Geräte hin- und hertransportiert.«
»Hm. Na denn.« Stahnke beugte sich vor, musterte das Kisteninnere, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Was haben die lieben Kollegen denn noch so alles herausgefunden?«
»In dem Loch im Deckel hat ein Schlauch gesteckt«, antwortete Kramer. »Abriebspuren lassen den Schluss zu, dass es sich um denselben Gartenschlauch handelt, der im Keller gefunden wurde. Weitere Spuren fanden sich an dem Schlauch leider nicht.«
»Nach der Tat zurückgelassen? Oder schon dort vorgefunden?«
»Vermutlich Letzteres. Das Schlauchende ist auf einen Wasserhahn aufgeschraubt, und Korrosionsspuren weisen darauf hin, dass diese Verschraubung seit Jahren nicht mehr gelöst worden ist.«
Wie mochte das sein, wie mochte es sich anfühlen, gefesselt in einer verschlossenen, engen, dunklen Kiste zu liegen, die sich langsam mit Wasser füllte? War der alte Mann mit der Beule am Kopf bis zum Schluss betäubt gewesen, oder hatte das eiskalte Wasser ihn wieder zu Bewusstsein gebracht, lange genug, um den eigenen Todeskampf voll auszukosten? Stahnke erschauderte.
»Der Klempnermeister hat ausgesagt, der Wasserhahn sei nicht ganz geschlossen gewesen«, fuhr Kramer fort. »Damit ist die Überflutung des Kellers zu erklären. Ob das Absicht war oder ob die Täter gestört wurden und überstürzt flüchteten, ist ungewiss.«
»Wie so vieles«, seufzte Stahnke.
Kramer blätterte. »Auffällig ist, dass der Sand, der sich in der Kiste befand, mit Spuren von Kohlenstaub durchsetzt war. Das betreffende Haus hat eine Gasheizung, keine Kohleöfen. Vermutlich war das früher anders. Wir überprüfen das.«
»Alles gut und schön«, knurrte Stahnke. »Aber wieder nichts, das uns konkret weiterhilft.«
»Eine Sache wäre da noch«, sagte Kramer. Ganz beiläufig, mit stoischer Miene.
Na Gott sei Dank, dachte Stahnke. Dass wir nicht mit völlig leeren Händen dastehen. Und dass auf Kramers Hang zu kleinen Spielchen immer noch Verlass ist. »So«, erwiderte er ebenso gelassen. »Lass mich raten. Ein Fingerabdruck in der Dichtmasse.«
»Genau«, bestätigte Kramer. Falls er enttäuscht darüber war, dass Stahnke seinen dramaturgischen Kniff hatte verpuffen lassen, so ließ er sich auch das nicht anmerken. »Das Silikon ist überall mit dem Finger glattgestrichen worden, der Täter jedoch hat entweder Latexhandschuhe getragen oder aber Kunststofffolie benutzt. Dabei ist er ziemlich sorgfältig vorgegangen.«
»Einen Fehler aber macht jeder«, soufflierte Stahnke, dem es jetzt doch zu langsam ging.
Kramer nickte. »Folie verrutscht, Handschuh aufgescheuert und gerissen – so was in der Art. Am Tatort gefunden haben wir keins von beiden. Dafür aber einen sauberen Zeigefingerabdruck. Genau dort.« Er zeigte auf eine der unteren Kistenecken. Dann blickte er auf. »Merkwürdig, nicht wahr? Da macht sich jemand so viel Mühe – und dann das.«
»Was willst du? Ich beschwere mich jedenfalls nicht«, sagte Stahnke. »Jetzt muss uns dieser Abdruck nur noch weiterbringen.« Er dachte an die Fingerabdrücke des Toten, die sich in keiner Kartei gefunden hatten.
»Abgleich läuft«, sagte Kramer.
Also wieder warten! Stahnke rammte die Fäuste in die Hosentaschen. »Und sonst? Was haben wir noch?«
»Ich habe mir Mergners Bericht noch einmal genauer angesehen«, sagte Kramer. »Er schreibt allerhand zu den alten Narben des Toten. Irgendwie bringe ich das nicht auf einen Nenner. An der Schulter eine vernarbte Schussverletzung, möglicherweise auch Splitterverletzung. Angesichts des vermuteten Alters des Toten, nämlich etwa achtzig Jahre, könnte die aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Auf dem Rücken aber befindet sich noch eine Brandverletzung, Größe etwa DIN A3. Das steht da wirklich! Und dann steht da noch, sie stamme vermutlich von Napalm.«