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„Kein Stück weiter.“
„Genau“, erwiderte Swenja. „Hier war das damals.“
Sie ärgerte sich über ihre Worte. So wollte sie gar nicht angefangen haben. Aber die Sätze bildeten sich von allein.
„Was? Wie? Wovon redest du überhaupt?“, wollte Sybilla wissen, während sie sich mühsam erhob und die sandigen Hände an der Jacke abwischte.
„Du weißt ganz genau, worauf ich anspiele. Hier hast du damals Knut geküsst. Ihr beiden dachtet, ich würde das nicht mitbekommen, weil ich nicht so schnell zu Fuß war. Aber ich habe alles exakt gesehen. So wie ich überhaupt alles gesehen und bemerkt habe.“
„Jaja … Das ist nun Ewigkeiten her. Und die Ehe mit ,deinem‘ Knut war auch nicht gerade die Erfüllung. Hättest den Waschlappen ruhig behalten können. Nicht mal zum Kinderzeugen hat er getaugt. Na, zum Glück weilt er nicht mehr unter uns. Der Herzinfarkt vor zwei Jahren war die ideale Lösung mit dem tödlichen Ausgang. Bin ich schon mal in den Genuss einer Witwenrente gekommen. Also, als Pflegefall hätte ich Knut keinen Tag lang zu Hause behalten, sondern mich sofort um einen Platz in einem Heim gekümmert! So ein sabberndes, lallendes Untier gehört weggesperrt!“
Während dieser letzten Worte hatte sich Swenja der Schwester immer dichter genähert. Sie atmete heftig und stieß sie gegen die Brust, sodass sie nach hinten taumelte.
„Das lasse ich mir nicht von dir gefallen. Du bist so ein hinterhältiges Aas, und jetzt auch noch die Ehre von Knut beschmutzen. Du hattest ihn überhaupt nicht verdient. Er war viel zu gut für dich!“
„Na, du musst das ja wissen, bei deiner Erfahrung mit Männern“, sagte Sybilla nüchtern und trat freiwillig noch einen Schritt rückwärts.
In den lauten Streit der beiden Schwestern mischte sich ein Geräusch, das nicht dem Nebelhorn zuzuordnen war. Es war ein Brummen und Knirschen, dazu schien der Boden leicht zu wanken. Swenja holte mit einem Mal aus und schlug Sybilla ins Gesicht. Einmal und noch einmal, mit der Handfläche und mit dem Handrücken. Sie tat das ganz mechanisch, aber dafür umso kraftvoller. Dabei verlor die völlig verdutzte Jüngere den Halt und stürzte zu Boden, mit dem Hinterkopf auf die Steine. Das Grollen der Umgebung wurde größer. Sybilla schien bewusstlos, und Swenja hockte sich nun doch erschrocken neben sie, wobei sich ihre Gedanken verirrten.
„Swenja!“
Die Stimme der Mutter klang drohend.
„Sofort kommst du her!“
Das Kind drehte nervös an einer Strähne der glatten Haare. Was war es wohl diesmal, was ihr vorgeworfen wurde? Sie konnte sich nicht erinnern, etwas falsch gemacht zu haben. Bis eben hatte sie doch noch bei ihren Schularbeiten gesessen, vorhin den Müll runtergetragen und von allen Familienmitgliedern die Schuhe geputzt. Ihr Zettel mit den übertragenen Aufgaben lag ordentlich abgehakt neben dem Mathematikbuch.
Swenja lief in die Küche, aus der die Rufe der Mutter gekommen waren. Und schon in der Tür entdeckte sie das Malheur. Der komplette Fußboden war übersät mit Glitzerspuren, und auf dem Küchentisch war die Tube mit Leim ausgelaufen. Der Schraubdeckel lag daneben. Dazwischen befanden sich ein paar farbenfrohe Steckbilder, zusammengeklebt, mit unschönen Glitzerhaufen versehen und zu nichts mehr zu gebrauchen.
Die Mutter, zunächst noch die Hände in die Hüften gestemmt, griff flugs Swenja am Ohr und drehte es nach oben, bis es dem Kind wehtat. Ein paar Haare hatten sich verfangen, und es ziepte überdies.
„Aua, Mama, aua“, kam es kläglich.
„Was hast du blöde Göre hier wieder angestellt?“
Und schon setzte es die erste Ohrfeige. Noch riss sich Swenja zusammen und verkniff sich die Tränen. Worte der Entschuldigung, dass sie die ganze Zeit in ihrem Zimmer gewesen sei und schwierige Mathematikaufgaben gelöst hätte, gingen unter. Denn schon folgte ein Schlag nach dem anderen, bis das Kind sich wimmernd auf dem Boden krümmte.
„Das kann nur Sybilla gewesen sein“, entrang es sich dem Mädchen halblaut und mit Schluchzen, als plötzlich die Schwester im Raum stand und „alte Petze“ zwischen den Zähnen hervorstieß, was die Mutter ignorierte.
„Ach was, du solltest auf sie aufpassen. Die Kleine kann gar nichts dafür. Schließlich bist du die Große, die Vernünftige! Aber wie immer konnten wir uns nicht auf dich verlassen! Dein Vater wird sehr, sehr traurig sein, wenn ich ihm das nachher erzähle. Wahrscheinlich setzt es noch einmal eine Tracht Prügel.“
Damit war die Sache für die Mutter erledigt.
„Du räumst hier alles auf, sodass ich hinterher nicht mehr eine einzige Spur von diesem dämlichen Glitzerzeug sehe.“
Dann wandte sie sich behutsam der jüngeren Tochter zu: „Hab ich dich verschreckt, mein Kleines? Nimm es mir nicht übel.“
Und sie drückte Sybilla einen Kuss auf die Stirn. Schließlich verschwanden Mutter und Tochter Hand in Hand aus dem Raum.
„Natürlich, meine Süße. Wenn du studieren willst, dann ist das gar kein Problem. Das bekommen wir hin. Alles, was du willst. Wir, dein Papa und ich, denken ja beständig an deine gute, sichere Zukunft.“
Swenja glaubte, sich verhört zu haben. Sie stand im Flur, und die kleine Schwester saß mit der Mutter im Wohnzimmer auf dem Sofa, es war ein Freitagnachmittag und der Vater noch auf der Arbeit. In ihren zitternden Händen drohte der Kuchen vom Teller zu rutschen. Sie atmete tief durch. Nein, bei ihr war überhaupt nichts möglich gewesen. Sieh zu, dass du Geld verdienst, hatte es geheißen. Dabei hatte sie fast nur Einsen auf dem Zeugnis, im Gegensatz zu Sybilla, die sich gerade so im Mittelfeld ihrer Klasse bewegte.
Und auch der Vater ließ sich nicht erweichen. Er ging sowieso allen Auseinandersetzungen in dieser Familie aus dem Weg, indem er sich, so lange es vertretbar war, auf seiner Arbeit aufhielt und sich stets auch welche mit nach Hause brachte, in der er sich dann vergrub, ohne ansprechbar zu sein.
„Klärt das untereinander“, war sein Lieblingsspruch, während er abwinkte. Seine dicke Aktentasche stand dabei mahnend neben dem wuchtigen Schreibtisch. Und schon war sein Kopf wieder in irgendwelchen Papieren verschwunden.
Swenja trat also nach dem Schulabschluss als Klassenbeste die Ausbildung bei einem Buchhändler an, damit sie ihren Eltern nicht zu lange auf der Tasche lag. Der war natürlich heilfroh, so einen pfiffigen Lehrling zu bekommen, und unterstützte sie bei ihrem späteren Wunsch, im Fernstudium noch mehr nachzulegen. Das war der Seniorchef, der irgendwann aber die Geschicke in die Hände seines Sohnes gab …
Als der Vater noch vor seinem Renteneintritt verstarb, weinte Swenja am Grab bitterlich. Später bestand Sybilla auf ihrem Pflichtteil des Erbes, wofür die Mutter vollstes Verständnis zeigte. Schließlich war eine Eigentumswohnung eine gute Investition, wie sie meinte. Swenja hingegen erhielt zwar die gleiche Summe, musste aber alles in das elterliche Reihenhaus stecken, in dem sie wohnen geblieben war.
„Das ist doch mehr als gerecht“, hatte die Mutter festgelegt und ihrer Tochter über die Schulter geblickt, als sie die Überweisung für den Dachdecker ausfüllte, nachdem er die nötigen Arbeiten erledigt hatte.
Zu der Eigentumswohnung kam es allerdings bei Sybilla nie. Sie steckte all ihr Geld in ihr Outfit. Teure Designergarderobe verschlang auch das elterliche Erbe.
„Das ist ja völlig klar, dass du dich um Mutti kümmerst. Schließlich wohnt ihr unter einem Dach“, beschloss Sybilla und tippte nebenher eine SMS in ihr Handy ein. „Ich kann bei meiner wichtigen Arbeit nicht kürzertreten. Sonst verliere ich da sofort den Anschluss und bin weg vom Fenster. Das wäre das glatte Aus. Aber du könntest ja im Dienst zum Beispiel auf weniger Stunden bestehen, weil du einen Pflegefall in der Familie hast. Das geht doch heutzutage relativ unproblematisch. Steht dir rechtlich sogar zu. Und das üppige Pflegegeld bekommst du obendrein. Wenn das kein echter Anreiz für dich ist.“
Dabei setzte Sybilla die Kaffeetasse ab und griff sich noch einen Keks. Ihr Handy machte schon wieder mit einem Stück klassischer Musik auf sich aufmerksam, wurde jedoch von ihr nur kurz gemustert. Es schien nicht von größerer Wichtigkeit.
Swenja war aschfahl im Gesicht geworden. So hatte sie sich das Gespräch mit ihrer kleinen Schwester nicht vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass sich beide irgendwie nach dem Schlaganfall der Mutter die Betreuung teilen könnten. Außerdem war doch die Kleine immer das Lieblingskind gewesen. War das nicht zugleich Verpflichtung? Swenja schüttelte den Kopf.
„Bist du etwa dagegen?“, erkundigte sich Sybilla mit scharfer Stimme. „Ich wüsste keine Alternative. Höchstens das Heim. Aber das können wir ihr ja nun nicht gleich zumuten. Wir, ähm, du solltest es zumindest versuchen.“
„Wenn du meinst“, entgegnete Swenja tonlos. „Ich will es probieren. Mal schauen, was mein Arbeitgeber dazu sagt. Es arbeiten ja einige Kolleginnen wegen ihrer Kinder verkürzt. Das müsste schon machbar sein. Wollen wir es hoffen.“
Swenja hatte den Eindruck, als ob nicht sie es war, die da redete. Als ob jemand ihre Stimme nachahmte. Sie fühlte sich beklommen und hilflos.
„Siehst du. Genau! Bei dir ist es machbar. Bei mir führt kein Weg dahin. Ich komme euch immer besuchen. Zur Not kann ich dich ja mal ablösen. Jedenfalls, wenn es meine Zeit erlaubt.“
Für Sybilla war die Sache damit aus der Welt. Sie hatte sich im Korbstuhl zurückgelehnt und genoss den Rest ihres Milchkaffees.
„Wirst du mir wohl endlich den Schieber bringen, du unnützes Ding“, schall es durch das Haus. Swenja wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Mutter konnte gut und gern selbstständig auf die Toilette gehen, aber sie ließ sich lieber von vorn bis hinten bedienen. Und man durfte sie keinen Augenblick aus den Augen lassen. So, als ob sie auf Schabernack aus war, stellte sie laufend etwas an. Es war an ihrer großen Tochter, mit dem rechtzeitigen Gespür alles zu entdecken: den aufgedrehten Hahn der Badewanne, der sie zum Überlaufen brachte, die angestellte Herdplatte, auf der eine wie zufällig dahin geratene Pralinenschachtel anfing zu qualmen, die offen stehende Haustür mitten in der Nacht …
Wenn Swenja zur Arbeit ging, dann redete sie zuvor behutsam auf die Mutter ein, was sie alles bedenken möge. Aber sie hätte auch in den Wald hineinrufen können. Nichts, aber auch gar nichts blieb hängen. Im Gegenteil. In allen Dingen wurde genau anders gehandelt. Natürlich hatte Swenja über all das gelesen, was mit Demenz zu tun hatte. Es gab so viele Parallelen. Ihr Versuch, den Pflegegrad der Mutter hochzusetzen, um auch Pflegepersonal anfordern zu können, scheiterte. Wenn da jemand von Amts wegen kam, um entsprechende Fragen zu stellen, dann brillierte die alte Frau mit ihren Antworten wie in ihren besten Jahren und bewegte sich durchs Haus wie ein junges Mädchen. Und wenn – ganz selten – Sybilla auftauchte, dann plauderten und lachten Mutter und Tochter, als ob nichts in ihrer beider Leben geschehen wäre …
Swenja löste sich erschrocken aus ihren Erinnerungen. Das Ton-Geröll-Sand-Stein-Gemisch rutschte in diesem Augenblick donnernd den Abhang hinunter, während Sybilla auf dem Boden lag. Sie wurde schlagartig von den Massen überrollt und begraben. Swenja hatte sich intuitiv rechtzeitig erhoben, war ein Stück zurückgesprungen und hatte sich damit in Sicherheit gebracht. Als wieder Stille eingezogen war, betrachtete sie den Ort des Geschehens. Jetzt dröhnte neuerlich das Nebelhorn. Eine Hand der Schwester ragte aus dem Untergrund, die Finger bewegten sich leicht, krallten in die nebelfeuchte Luft.
Swenja überlegte ganz kurz. Dann drehte sie sich um, lief zur Treppe Richtung Dornbuschwald und stieg die etwa hundert Stufen empor, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
Im Restaurant bestellte sie sich den Grog, von dem die Schwester gesprochen hatte.
„Na, bei dem Schietwetter so allein unterwegs?“, hatte der Kellner freundlich gemurmelt. „Da kann doch allerlei passieren. Aber jetzt sind Sie ja hier und können sich in Ruhe ein wenig stärken. Und dann geht es sicher geradewegs zum Schiff zurück?“
Er sprach Hochdeutsch und schien nicht von der Insel zu sein. Sie hatte nur genickt, obwohl er nicht wirklich auf eine Antwort wartete.
Irgendwann nahm sie den Weg Richtung Hafen in Kloster, nun doch nicht mit dem Umweg über Grieben, wie zuvor der Schwester vorgeschlagen. Dafür hätte die Zeit nicht mehr gereicht. Sie musste pünktlich sein, um die letzte Standardverbindung zu erreichen.
Später auf dem Schiff nach Stralsund, wo die beiden Schwestern Quartier genommen hatten, stand sie wieder an der Reling. Es gab nur wenige Reisende an Bord. Sie atmete jetzt unbeschwert die köstlich-salzige Luft tief ein und aus. Die Nebelfeuchte störte sie nicht. An der Kapuze hatte sie, ohne nachzudenken, endlich einen festen Knoten gebunden, damit sich die sonstige einfache Schleife nicht immer wieder löste. Sie ließ sich die Gischt ins Gesicht sprühen.
Ein paar Möwen begleiteten sie mit lauten, fordernden Schreien. Dann fielen ihr die Streuselschnecken von Bäcker Kasten ein. Die lagen noch in ihrem Rucksack. Dafür würde sie jetzt dankbare Abnehmer finden. Swenja öffnete den Reißverschluss und zog die durchgefettete Papiertüte heraus. Dann brach sie Stückchen für Stückchen von dem Gebäck ab und warf es in die Höhe. Ihre Finger klebten, aber das nahm sie nicht wahr.
In dieser Nacht schlief sie tief und fest, so gut wie lange nicht mehr. Am nächsten Morgen entschied sie sich beim Frühstück für die sofortige Rückreise.
„Und Ihre Schwester? Bleibt sie noch ein paar Tage?“, erkundigte sich die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption.
„Ja, das hatten wir gestern spontan so ausgemacht!“, sagte Swenja mit einem breiten Lächeln. Jetzt freute sie sich sogar auf die Rückfahrt im Auto auf der A 20, die im Gegensatz zu damals mit Knut die Anreisezeit inzwischen erheblich verkürzte.
Swenja war eingenickt. Die fast siebenstündige Autofahrt hatte sie doch ziemlich angestrengt. Aber ein unerfindlicher Drang hatte sie nach ihrer Ankunft daheim in diese Wohnung genötigt.
Irgendwann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Augen. Du hast nichts falsch gemacht, alles ist gut, sagte sie sich. Dann erhob sie sich und verließ die Wohnung, die ihr jetzt unheimlich vorkam. Auf dem Rückweg begegnete sie niemandem.
2. Kapitel
Neben der Spur
„Ich gehe mal zur Tür“, sagte Walther zu sich. Seit geraumer Zeit schon führte er Selbstgespräche, damit wenigstens eine Stimme in der Wohnung zu vernehmen war. Andere Leute wichen ja auf Dauerbeschallung durch Radio oder Fernseher aus, hatten Letzteren schon am frühen Morgen eingeschaltet. Das wäre für ihn niemals infrage gekommen.
Er hatte Swenjas hallende Schritte im Hausflur wahrgenommen. Ein Blick durch den Spion verkündete ihm Leere. Es dauerte ein Weilchen, ehe er alle Riegel zurückgeschoben und den Schlüssel, den er von der Hutablage genommen hatte, ins Schloss gesteckt und zweimal nach rechts gedreht hatte. Einen Spalt nur öffnete der alte Mann die Wohnungstür und ließ seine Blicke erfolglos wandern. Dann zog er die Tür wieder in ihre ursprüngliche Position und aktivierte alle Einbruchssicherungen. Der Schlüssel landete erneut auf seinem speziellen Platz. Er schlurfte durch den Flur zurück, die braun-gelb karierten Pantoffeln schienen an seinen Füßen zu kleben.
„Niemand da“, brummte er in seinen ungepflegten Bart, das lichte Haupthaar lag flusig durcheinander und stand zum Teil in die Höhe. Aber Martha, die am Fenster saß, reagierte nicht. Sie hatte es sich in ihrem Ohrensessel gemütlich gemacht und sich dafür ein weiteres Kissen unter den Hintern geschoben, damit sie etwas erhöht sitzend auch aus dem Fenster schauen konnte. Ihre Füße standen auf einem kleinen, stoffbezogenen Höckerchen. Ohne dessen Hilfe hätten sie den Boden nicht erreichen können und ihre Beine hätten nur im Leeren gebaumelt. Sie trug ein frühlingshaftes Kleid mit Mohnblumen darauf. Ihren Büstenhalter hatte sie darüber angezogen. Keiner der beiden Eheleute nahm das wahr. Die Hände hatte Martha ineinandergefaltet und die Finger jeweils zwischen die anderen gesteckt. Nur die Daumen kreisten unermüdlich umeinander. Sie schien Walthers Bemerkung nicht gehört zu haben.
Aufräumen, dachte der Alte, als seine Augen über den Esstisch wanderten. Der stand in einer Nische des großzügigen Wohnzimmers und war direkt von der Küche aus zu erreichen. Auf ihm befanden sich Tassen, Teller, Gläser, und einige Bestecke kreuzten sich dazwischen. Reste von längst vergangenen Mahlzeiten nahmen undefinierbare Gestalt an. Eine übrig gebliebene Brotscheibe krümmte sich in die Höhe. Der Gedanke mit dem Aufräumen, der gleichzeitig mit jenem Stichwort Frauenarbeit kombiniert war, hatte sich längst verflüchtigt.
Walther verspürte weder Hunger noch Durst. Er zog sich die fleckige Anzughose hoch und nestelte an seiner Krawatte. Das einst weiße Hemd war farblich in einen Grauton übergegangen. Knitterfalten überzogen es. Der Alte machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort setzte er sich an den Schreibtisch, vor seinen Computer, und streichelte behutsam über die Tastatur. Rechter Hand in einer Ablagekiste befanden sich Briefe von den Kindern, die jüngsten Sendungen ungeöffnet. Der Sohn lebte mit seiner Familie in den Staaten, die Tochter jettete für ihren Reiseveranstalter um die ganze Welt.
„Lieber Paps, liebe Mam, so gerne wir übers Fest nach Hause kommen würden, so leid tut es uns, dass wir das in diesem Jahr nicht einrichten können. Die Arbeit hält uns beide hier in Manhattan fest. So wie wir uns das schon gedacht hatten. Leider, leider! Weder Jane noch ich können uns freimachen. In der Klinik ist der Teufel los. Wir müssen uns um so viele Menschen sorgen, die an dem Virus erkrankt sind. Dafür habt ihr ja sicher Verständnis. Schließlich haben wir als Ärzte einen Eid geschworen, der uns zur Hilfeleistung verpflichtet, was wir natürlich von Herzen gern tun … Und wenn du, lieber Paps, im kommenden Jahr deinen 90. feierst, dann sind wir auf jeden Fall dabei … Ihr könnt uns für die riesige Party schon einmal einplanen … In der Zwischenzeit könnte euch ja mein Schwesterherz mal Skype einrichten. Das ist total einfach und ihr könntet eure Enkel sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie sehr die schon wieder gewachsen sind …“
Das hätte Walther im aktuellsten Brief seines Sohnes lesen können, wenn er ihn gelesen hätte. Auch die bohrende Frage, warum denn niemand ans Telefon gehe, die aber gleich selbst beantwortet wurde: „… bestimmt seid ihr viel auf Achse und mit den Senioren unterwegs …“
Marie-Ann war mehrfach auf dem Anrufbeantworter aufgelaufen. Kündigte ein Kommen an, sagte es wieder ab und wiegte sich wie ihr Bruder mit Ausreden in Sicherheit: „… wenn alles klappt, kann ich Heiligabend vorbeischauen. Momentan ist da noch keine neue Dienstreise geplant. Aber man weiß ja nie. Jetzt erst mal ganz liebe Grüße aus Neuseeland. Bleibt gesund und munter. Und Bussi, ihr beiden!“
Noch bis vor Kurzem hatte Walther recht gut funktioniert und die Situation mit seiner Frau im Griff, deren Demenz immer deutlichere Züge annahm. Da hatte er auch stets zum Hörer gegriffen, wenn das Telefon klingelte. Und er wartete mit Notlügen auf, denn er wollte seinen Kindern nicht das Herz schwer machen. Martha befand sich also in der Wanne, war beim Friseur, bei der Fußpflege oder stand am Herd …
„Ja, Mam geht es gut. Sie steht natürlich in der Küche und zaubert was Leckeres für uns beide. Momentan ist sie total unabkömmlich. Aber sie lässt euch herzlich grüßen.“
Dann tauschte er sich mit seinem Sohn aus, und beide fachsimpelten über medizinische Fragen. Wenn es Walther auch nur zum Pfleger gebracht hatte, so hatten sie all ihre Kräfte in die Ausbildung der Kinder gesteckt, vor allem des Jungen, der später seinen Doktor machte.
Marie-Ann war Reiseverkehrskauffrau geworden und tat genau das, was sie sich immer gewünscht hatte, schon als kleines Mädchen. Wenn sie damals etwas spielte, dann war es in der Mehrzahl der Fälle Urlaubmachen. Bei früheren Telefonaten mit ihr ging es stets um phänomenale Eindrücke einer neuen Destination. Die Tochter beschrieb jedes Mal ausgiebig und sehr gut vorstellbar Land und Leute, Flora und Fauna. Fragen nach dem Wohlbefinden der Eltern wurden rhetorisch ans Ende des Gesprächs gelegt und meist gleich selbst beantwortet. Oder aber es endete mit einer Floskel: „Ich muss dann mal wieder, mein Chef drängt. Wir haben ja auch richtig lange geplaudert …“
Die letzte Lieferung der bestellten Waren aus dem Supermarkt war Mitte November eingetroffen. Ein paar Kisten Mineralwasser, etliche Päckchen Knäckebrot, Margarine, Wurst- und Fischdosen, Obst und Gemüse in Gläsern, auch einiges an Frostware. Walther hatte alles verstaut, allerdings auch schon nicht mehr unbedingt an den Orten, wo es hingehörte. Die Tasche mit den gefrorenen Artikeln landete im ehemaligen Kinderzimmer, das der Sohn und die Tochter nie wieder genutzt hatten, seit sie bei den Eltern ausgezogen waren. Gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildungen. Dennoch hielten sie es immer bereit für beide, falls sie sich einmal dafür entscheiden würden.
Auf der rechten Seite stand die Carrera-Bahn an ihrem Platz, der abgenutzte, einst hellbraune Teddy saß auf dem Bett, das in geordneter Regelmäßigkeit frisch bezogen wurde, und an der Wand darüber klebten die Plakate von vor vielen Jahren angesagten Musikgruppen. Auf der linken Seite des Raumes war das Reich der Tochter gewesen, optisch etwas abgetrennt durch ein frei stehendes Bücherregal. Hier saß eine viel geliebte Barbiepuppe auf dem Bettzeug, mit einer märchenhaften, etwas verwaschenen Blumenwiese darauf. Auf dem Kopfkissen prangte ein grüner Frosch mit einer goldenen Krone auf dem Haupt. Irgendwann hatte Martha das alles genau so arrangiert, ein Zustand von vor vielen, vielen Jahren, und es hatte Walther sehr berührt.
„Wir wollen euch ja keine Umstände machen“, war stets die Rede des Sohnes, wenn er sich mit seiner Frau und später auch mit dem Nachwuchs von den Eltern für die Übernachtung ins Hotel verabschiedete. „Ist doch viel zu eng für uns alle!“
Und auch Marie-Ann fand immer einen Grund, warum sie nicht in diesem Zimmer schlafen konnte, obwohl sie Single geblieben war und die Enge nicht als Argument gelten konnte.
Für dieses Weihnachtsfest hatte sich der Sohn auch schon weit vorher, irgendwann im Herbst, am Telefon wortreich entschuldigt. Zu viel Arbeit, der enorme Stress, einfach keine Zeit … Natürlich zeigte Walther Verständnis, hoffte aber im Stillen, es würde ein Wunder geschehen und beide Kinder wären am Heiligen Abend daheim. So, wie sich das gehörte.
Am liebsten hing der alte Mann seinen Gedanken an die alten Zeiten nach, als man ihn noch im Beruf anerkannte. Gern saß Walther dazu auf dem sonnigen Balkon, inmitten der Ranken, die von Britta Baumgartens Balkon heruntergewachsen waren. Er liebte diesen grünen Dschungel, in dem man sich fast verbergen konnte. Im heißen Sommer spendete er schattige Kühle, und es roch, als wäre man auf einem Spaziergang in der freien Natur. Natürlich nur, wenn er die Augen schloss.
Martha ließ ihm diese Ruhe, während sie sich um die Hausarbeit kümmerte, gern etwas Leckeres auf dem Herd zauberte, solange sie konnte. Zum Beispiel Szegediner Gulasch, sein absoluter Favorit. Mit Sauerkraut und Kassler und zuletzt zur Abrundung eine ganze Packung saurer Sahne in das fast fertige Gericht. Wenn die Düfte aus der Wohnung um seine Nase zogen, dann versank er noch lieber in seinen Erinnerungen oder in die Lektüre eines guten Buches.
„Walther, Sie haben unserer Mutter das Leben gerettet mit Ihrer einfühlsamen Pflege. Das hat ihr wieder Mut gegeben“, bedankte sich eine Frau bei ihm, eine seiner Standarderinnerungen. Mit einem großen Blumenstrauß in der Hand und einer Schachtel Pralinen. An dem Strauß ein Umschlag mit einem größeren Geldschein darin. Er winkte nur ab: „Nicht der Rede wert, das ist doch mein Job. Und jeder von uns tut hier sein Bestes. Schön, dass es Ihrer Mutter wieder so gut geht.“
Natürlich steckte er später das Geld in das große rote Sparschwein der Station und teilte die süßen Kalorienbomben mit den Kollegen.
Das mit den Erinnerungen auf dem Balkon musste im vergangenen Sommer gewesen sein oder doch schon im Sommer davor? Walther wusste es nicht mehr. Außerdem trat er jetzt im Winter nicht ins Freie, weder auf den zugeschneiten Balkon noch vor die Haustür.
Und wann es den letzten Szegediner Gulasch gegeben hatte, das war Walther auch nicht mehr bewusst. Lediglich der Auslöser für ein letztes, selbst bereitetes Mahl. Da hatte Martha Spargel, Kartoffeln und Sauce hollandaise zubereiten wollen. Zur Krönung mit Schweinefilet vom Biobauern. Der bot einmal die Woche an seinem Stand neben dem Supermarkt seine Ware feil. Walther hatte nur noch eine schöne Flasche Weißwein zum Essen aus dem Keller holen wollen und war auf dem Weg mit der Hausmeisterin ins Plaudern geraten.




