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Als er wieder nach oben kam, quoll schon dicker Qualm aus der Wohnung, und die Rauchmelder piepten. Dann funktionierte er nur noch. Riss in der Küche die Pfanne mit dem schwarzen Fleisch von der Platte und stellte den Herd aus. Dann öffnete er weit die Fenster in allen Zimmern, um für Durchzug zu sorgen. Zuletzt erst holte er sich einen Stuhl und stieg unter die Rauchmelder, die Alarm signalisierten. Stück um Stück deaktivierte er sie. Während Martha im Wohnzimmer saß und vor sich hin starrte. Um die Reste der Mahlzeit kümmerte sich dann Walther und servierte auch den Wein dazu. Beide aßen und tranken schweigend. Zum Glück waren die Nachbarn an jenem Tag schon ausgezogen, und niemand bemerkte das Missgeschick.
Als sich Walther abends neben seine Frau legte, zog er das Schubfach seines Nachtschränkchens heraus. Natürlich lagen die Tabletten darin. Wo sollten sie auch sonst sein?! Zwei Rationen an Schlafmitteln, bei denen es kein Danach mehr gab. Er hatte die richtige Sorte ausgewählt und die entsprechende Menge abgezählt. Schließlich kannte er sich in dem Metier aus. Zur Sicherheit war er bei der Anzahl etwas großzügiger gewesen.
Im Bett floh ihn zunächst der Schlaf, aber dann umfing er ihn mit wohligen Träumen. Wie er und Martha sich einst kennengelernt hatten, auf der Hochzeitsfeier seines besten Freundes. Er war der Trauzeuge, und sie streute Blumen in der Kirche, weil die Kinder, die das ursprünglich tun sollten, aus unerfindlichen Gründen in einen Streit geraten waren, sich plötzlich prügelten, dabei in einer Pfütze landeten und in der folgenden Anzugsordnung kein gutes Bild abgegeben hätten. Martha sprang ein und zwinkerte ihm dabei zu. Die Initialzündung, wie Walther später immer wieder zum Besten gab. Da hatte es bei ihnen beiden gefunkt. Nur ein Jahr später führte er seine Liebste zum Traualtar.
Jetzt umarmte er sie und hob sie hoch, federleicht, wie sie war. Trug sie über die Schwelle in das neue gemeinsame Zuhause. Nicht eine Falte hatte sein Marthchen, und wie sie duftete, wie der leibhaftige Frühling. Nach Maiglöckchen und noch viel mehr.
Walther drehte sich von einer Seite auf die andere. Eine Träne rollte aus einem Augenwinkel über sein verbrauchtes Gesicht. Martha erwachte, machte die Nachttischlampe an, schaute zu ihm hinüber und streichelte ihm sanft über den Kopf. Wer war nur dieser Mann da neben ihr im Bett? Hatte sie sich zum Großvater dazugelegt, weil sie einen Albtraum hatte, davon hochgeschreckt war und nicht mehr einschlafen konnte? Bestimmt, beschloss Martha. Dann stand sie betont leise auf und lief durch die Wohnung. Nur im Nachthemd und mit bloßen Füßen befand sie sich Augenblicke darauf auf dem Balkon. Ihre Blicke schweiften in die Nacht zu den funkelnden Lichtern, die adventliche Stimmung verhießen. Sie schien die Kälte nicht zu bemerken. Auch nicht das unbeleuchtete Auto mit dem Anhänger, von dem gerade zwei Männer weiteren Sperrmüll auf dem Parkplatz abluden und auf den schon vorhandenen Berg schichteten. Wie immer in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und nicht etwa dann, wenn offiziell dazu aufgerufen wurde.
Ob der Weihnachtsmann ihr und ihren beiden Brüdern auch schöne Geschenke bringen würde? Im Gegensatz zu den beiden Jungs war sie ja immer artig gewesen und der Mutter bei allen Hausarbeiten zur Hand gegangen. Martha hatte die Hände auf die Balkonbrüstung gelegt und wippte jetzt mit den Füßen hin und her. Das Gedicht, hatte sie es denn noch parat? Bald würde sie es aufsagen müssen. Fehlerfrei natürlich. Aber sie kannte ja viele schöne Verse, und die Entscheidung für eine Variante fiel ihr jedes Jahr so unendlich schwer. Am liebsten mochte sie das Gedicht von Knecht Ruprecht. „Von drauß’ vom Walde komm ich her, ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr …“, sprach Martha in die stille Nacht. Ihr Atem flog mit einem sichtbaren Hauch davon. Als sie damit fertig war, grübelte sie weiter. Oder doch vielleicht ein Lied, das mochten die Eltern besonders gern. Sie räusperte sich und setzte mit etwas brüchiger Stimme an:
„Alle Jahre wieder kommt das Christuskind
Auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.
Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,
Geht auf allen Wegen mit uns ein und aus …“
Walthers Traum war abrupt beendet. Vielleicht war es das ungewohnte Streicheln gewesen, eine Erinnerung an früher. Er hatte es ganz deutlich gespürt. Martha, wo war sie denn nun schon wieder hin? Eigentlich wollte er aufspringen, aber das gaben seine Knochen nicht mehr her. Er ächzte, als er sich mühsam erhob und sich dafür mit beiden Händen auf der Bettkante abstützte.
Schon im Flur spürte er den Frost, der durch die Wohnung zog. Nein, die Tür war es nicht. Die war fest verschlossen, und den Schlüssel hatte er wie stets extra auf der Hutablage deponiert, ganz am Ende. Eine generelle Sicherheitsmaßnahme. Martha sollte nicht drankommen und sich eventuell auf den Weg machen können. Dann der Balkon. Natürlich. Walther fuhr sich durch die Haare, die dadurch nicht mehr zerzaust wurden als ohnehin. Von dort vernahm er plötzlich auch ihren Gesang.
„Was machst du denn hier, Liebes?“ Er legte ihr vorsichtig einen Arm um die Schultern, um sie nicht zu erschrecken. „Du wirst dich noch erkälten. Hättest dir wenigstens eine Jacke überziehen sollen.“
Marthas Augen glänzten im Schein der funkelnden Nacht, aber sie sagte kein Wort mehr, sondern ließ sich nur willig ins Innere führen. Walther schloss hinter ihr die Balkontür. Ein richtiges Schloss wäre auch hier eine Lösung, fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das hättest du schon längst machen lassen sollen. Er nickte und zugleich fiel ihm ein, dass er dafür eigentlich Edgar hatte ansprechen wollen. Das war ihm bislang nur durch die Lappen gegangen, weil er den Hausmeister so lange nicht gesehen hatte.
Walther betrachtete seine Frau. Ihre Füße waren knallrot und nass von dem Schnee draußen. Selbst beim Nachthemd zog sich die Feuchtigkeit nach oben. Jetzt ein heißes Bad? Oh nein, nicht doch mitten in der Nacht. Er hätte dafür keinesfalls die nötigen Kräfte aufgebracht. Dann wenigstens mit einem Frotteetuch trocken rubbeln.
Er führte Martha ins Bad und zog ihr das Nachthemd über den Kopf. Zum Vorschein kam ein ausgemergelter, abgemagerter Körper, bei dem die Knochen hervorstanden. Was hättest du früher dafür gegeben, so wenig Kilos auf die Waage zu bringen?, bohrte sich eine Frage in Walthers Gehirn. Hast immer gehadert mit deinem Gewicht. So ein Blödsinn. Jedes Gramm an dir habe ich geliebt. Jetzt wirst du immer weniger …
Resolut zog sich Walther das große Badetuch vom Haken und fing an, Martha vom Kopf bis zu den Füßen abzurubbeln. Ganz behutsam. Schließlich war auch ihre Haut über die Jahre äußerst empfindlich geworden, und er wusste, was in dem Alter und diesem Zustand eventuelle Verletzungen bedeuten konnten. Offene Stellen heilten mitunter nie wieder.
„So, mein Schatz.“ Walther führte seine Frau an der Hand wieder ins Schlafzimmer. „Dann suche ich dir noch ein schönes warmes Flanellnachthemd heraus. Und eins, zwei, drei schläfst du wieder den Schlaf der Gerechten. Wir haben ja bis zum Aufstehen noch alle Zeit der Welt.“
Sie schaute zu ihm hoch, und es wirkte fast liebevoll. Wenn der Großvater sagte, dass sie ins Bett sollte, dann gab es keine Widerrede. Martha legte sich gehorsam hin und ließ sich von Walther bis ans Kinn zudecken. Die Augen hielt sie geschlossen. Morgen, dachte sie, morgen werde ich ganz bestimmt die Liebesperlen essen, die der Opa in seinem Nachtschränkchen verstaut hat. Sehr weit hinten zwar, sodass sie nicht auf Anhieb ins Auge fielen. Aber sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er sie in den Händen hielt. Bestimmt sollte das eine Überraschung für sie sein. Und er würde garantiert nicht böse sein, wenn sie die Liebesperlen schon naschen würde …
3. Kapitel
Nur Fassade
Als Swenja die Post ihrer Schwester durchging, hörte sie dumpfe Geräusche aus der Wohnung darüber. Sie zuckte zusammen. Hatte Sybilla nicht mal davon berichtet, dass sie der festen Überzeugung sei, das Pärchen würde sich gegenseitig verprügeln?! Nur nach außen hin würden sie die Fassade wahren und immer wie aus dem Ei gepellt und nach dem neuesten Trend gekleidet das Haus verlassen. Wenn man mal von der Sonnenbrille absah, die der Mann gelegentlich auch im Winter trug. Wobei ja irgendwelche Hämatome meist größer waren als die Abdeckung …
Swenja hatte noch Sybillas höhnisches Lachen im Ohr und die Bemerkung: „Geschieht diesem Schwachmaten recht. Der hat einfach Prügel verdient, so wie der aussieht!“
Dazu hatte Swenja eine beschwichtigende Bemerkung auf den Lippen gelegen, aber sie hatte sie sich verkniffen. So redete man nicht über andere Menschen. Das war jedenfalls ihre feste Überzeugung.
Eben war die Bratpfanne schwungvoll in Jens’ Gesicht gelandet. Er hatte noch versucht, ihr auszuweichen, aber ein Teil des Bodens hatte ihn doch getroffen, und er war mit dem Stuhl umgekippt. Der Mann spürte das schmerzhafte Brennen auf der Haut, an unterschiedlichsten Stellen, weil das Fett durch die Gegend geschossen war. Grit hatte gerade Öl erhitzt, um Bratkartoffeln zu machen. Eigentlich sein Leib-und-Magen-Gericht. Doch seit Langem hatte er keine Präferenzen mehr, was kulinarische Spezialitäten anging.
Wieder hatten sich beide im Streit hochgeschaukelt. Und er, er wollte diese üblen Verdächtigungen nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte nichts vom Wirtschaftsgeld für sich abgezweigt, nicht einen einzigen Cent, er hatte nicht mit der Verkäuferin geliebäugelt … Jens wehrte sich mit hilflosen Worten.
„Du deutest das völlig falsch“, hatte er gesagt. „Das war alles ganz harmlos. Ich wollte einfach nur freundlich sein. Und die Verkäuferin muss doch nett dreinschauen, gehört zu ihrem Job dazu.“
„Ach was, der feine Herr turtelt mit allem rum, was nicht bei drei auf dem Baum ist, und ich, ich soll dabei kommentarlos zusehen. So weit kommen wir noch. Das wüsste ich aber. Nicht mit mir.“
„Ich würde nur gern in Ruhe etwas Leckeres essen“, hatte daraufhin Jens noch eingelenkt. Seine Stimme klang dabei schwach.
Grit redete sich in Rage. Und dann kam irgendwann die Pfanne angeschossen.
Auf dem Küchentisch stand ein Ein-Liter-Karton mit fettarmer H-Milch, aus dem er sich zuvor noch für seinen Kaffee bedient hatte. „Zu Hause nicht sicher?“ hatte sich Jens die Frage ins Gehirn gebrannt, die auf einer Seite mit ziemlich großen Buchstaben stand. „Sind Sie akut von Gewalt zu Hause betroffen oder kennen Sie jemanden, der von Gewalt betroffen ist?“, stand dort zu lesen. JA, JA, hätte Jens am liebsten geschrien, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, während er wimmernd auf dem Boden lag.
War das aber nicht doch ein Hoffnungsschimmer? Wenn so ein Hinweis sogar schon auf einem Alltagsgut wie einem Milchkarton stand. Er konnte schließlich unter der angegebenen Website alle wichtigen Informationen dazu finden, was zu tun wäre und wo man Hilfe bekommen könnte. Stärker als Gewalt, nannte sich die Internetseite, und das Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend war in diesem Fall der Initiator. Hallo, sei mal realistisch, das betrifft dich doch gar nicht, von Männern war keine Rede, funkte ein störender Gedanke durch seinen Kopf. Außerdem würde Grit herausfinden, wo er sich im World Wide Web getummelt hatte.
„Jämmerlicher Schlappschwanz“, zischte seine Frau am Herd und hatte in der Zwischenzeit die vorbereiteten Kartoffelscheiben in das neuerlich eingefüllte und erhitzte Öl gleiten lassen.
„Das räumst du mir aber alles nachher auf. Und wehe, ich sehe noch irgendwo einen Dreckkrümel oder Spritzer!“
Am liebsten wäre er liegen geblieben, mit geschlossenen Augen. Er rappelte sich langsam auf, mit der Rechten auf der schmerzenden Gesichtshälfte. Kaltes Wasser, dachte Jens, da muss sofort kaltes Wasser drauf … Grit schaute nur kurz zu ihrem Mann.
„Denk dran, dass heute Sonnabend ist“, säuselte sie ihm noch hinterher, als er aus der Küche lief. Plötzlich war ihre Stimme ausgewechselt, hatte einen völlig anderen Klang.
Zwischen den Gedanken an das kalte, lindernde Wasser schaltete sich die energische Aufforderung aus dem Hintergrund, am Abend seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Er drehte im Bad den Wasserhahn am Waschbecken voll auf und beugte sein Gesicht unter den Strahl. So lange er es aushielt, blieb er in dieser Position. Dann fing er plötzlich an zu frieren, zitterte am gesamten Körper, erhob sich und drehte den Hahn zu. Er griff nach seinem Handtuch, mit dem er vorsichtig über Gesicht und Kopf tupfte. Beim Blick in den Spiegel schrak er nicht einmal zurück. Er hatte das erwartet: knallrote Brandblasen auf den Wangen und an der Stirn, die ihn entstellten. Sie würden aufgehen, sich vielleicht entzünden.
Jens sah sich nur in die Augen und blendete alles andere aus. Wie um alles in der Welt war er nur in dieser scheinbar ausweglosen Situation gelandet? Warum fand er nicht die Kraft, alles hinter sich zu lassen? Wie lange wollte er dieses Hamsterrad noch im Kreis drehen? Dabei waren sie doch einst ein richtiges Traumpaar gewesen, schon in der Schulzeit. Alle hatten sie um ihre große Liebe beneidet. Sie war seine erste und einzige Freundin.
Du hättest damals schon die Anzeichen wahrnehmen können, nervte sein Inneres. Du wolltest es nur nicht sehen, du Tölpel! Aber es gab doch immer wieder diese tollen Versöhnungen, nach jedem kleinen Streit, schlug die zweite innere Stimme vor. Allerdings verschlimmerte es sich von Mal zu Mal, das musstest du doch erkennen, fing die erste Stimme wieder bohrend an. Und was ist mit den Ruhephasen, die gab es doch auch dazwischen. Wenn alles mit einem Mal ganz harmonisch erschien, war wieder der zweite Ratgeber versöhnlich dran. Das hast du völlig falsch gedeutet und sofort alles entschuldigt, lautete das bissige Echo.
Jens schüttelte sich und fasste sich an den Kopf, der zu zerspringen drohte, so heftig waren die Schmerzen. Migräne hatte sein Hausarzt schon bescheinigt und seine Frau ihn daraufhin als Weichei bezeichnet. Dem Mediziner waren auch Jens’ Verletzungen nicht verborgen geblieben. Aber der entschuldigte das immer mit seiner Tollpatschigkeit.
„Sie können sich gar nicht vorstellen, was mir daheim alles passiert, Herr Doktor“, hatte Jens einmal erklärt, als der Arzt ihn direkt ansprach, ob er etwa Probleme hätte, über die er – natürlich ganz im Vertrauen – reden wolle.
„Wenn irgendwas im Wege steht, dann stolpere ich garantiert darüber. Und meine Haut ist eben sehr empfindlich, nicht nur bei Sonnenstrahlen, die mich sofort verbrennen. Da gibt es schon nach einem leichten Stoß Spuren. Vielleicht hätte ich ein Mädchen und kein Junge werden sollen …“
Der Doktor hatte nur den Kopf geschüttelt und sich seinen Teil gedacht. Auch Jens’ hochwertige Garderobe täuschte ihn nicht über den Sachverhalt hinweg. Die sollte bestimmt nur ablenken vom wirklichen Geschehen, weil sich schick angezogene Leute so etwas gegenseitig nicht antaten. Brutalität war eher in ärmeren Verhältnissen angesiedelt, so die öffentliche Meinung.
Aber wenn einer Hilfe brauchte, dann musste er diese auch wollen. Er hatte etliche ähnliche Fälle in seinem Berufsleben kennengelernt. Manche schafften es, andere gingen dabei drauf. Dem Doktor blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken um seinen Patienten zu machen. Der war schon aus der Tür des Sprechzimmers hinaus, und auf dem Computerbildschirm standen die Daten des Nächsten, der, dessen eine Niere zu versagen drohte. Da war dringend eine Dialyse angesagt, aber in der nahe gelegenen Klinik waren schon alle Plätze belegt.
Und jetzt, grübelte Jens, nach unzähligen körperlichen Übergriffen und psychischer Gewalt, die oft weitaus mehr Wunden erzeugte? Nach seiner totalen Isolation? Keinen einzigen Freund hatte er mehr, alle hatten sich über die Jahre verabschiedet, auch weil er keinen Augenblick mit ihnen allein verbringen durfte. Seine Frau hatte ihn unter totaler Kontrolle, jeder Moment seines Lebens war überwacht.
Neulich hatte er in der Tageszeitung von familiären Gewalttaten gelesen. Der umfangreiche Beitrag zog sich über eine halbe Seite hin. Eigentlich hatte Grit das Blatt schon zum Altpapier gelegt. Er kam sowieso selten dazu, mal hineinzuschauen, auch konnte er sich nicht mehr wirklich konzentrieren, wenn er etwas las. Da aber hatte er nach aussortiertem Papier gesucht, um seine nassen Schuhe auszustopfen, damit es die Feuchtigkeit aufsaugte. Und so war ihm die Überschrift ins Auge gesprungen. Von einem speziellen, unauffälligen Hilferuf las er dort, der entwickelt worden war, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Wenn man gerade am Computer saß und im Internet war, aber nicht wollte, dass der Partner etwas mitbekam. Erst die Innenseite der flachen Hand zeigen, dann den Daumen in die Handinnenfläche beugen und schließlich die restlichen vier Finger über den Daumen legen. Jens machte das bei seiner Lektüre wieder und wieder. Es war ganz einfach.
Aber wen wollte er denn damit benachrichtigen, auf sich und seine vertrackte Lage hinweisen? Ihm fiel niemand mehr ein. Schwachsinn, tat er den Ratschlag in der Zeitung ab. Grit würde doch so etwas mitbekommen und dann würde sich alles für ihn noch verschlimmern. Er las dennoch weiter. Natürlich ging es wieder nur um Frauen, und die Bundesfamilienministerin wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Dann musste er seine Auffassung revidieren. Ganz am Ende war auch eine spezielle Nummer für betroffene Männer angegeben. Ein kleines Anhängsel nur.
Er hatte sich dann diese Nummer in einem Kochbuch notiert, das sie nie zur Hand nahm. Und so unverfänglich gesplittet, dass sie nicht als Telefonnummer auffiel. In einer Notsituation sollte man dort rund um die Uhr anrufen können. Später wollte er die von dieser Helpline auf dem Milchkarton dort ergänzen. Eigentlich war er immer in Not, und wie sollte er diese Nummern betätigen, ohne dass es auffiel? Da müsste er sich ja ein separates Telefon zulegen. Es war einfach ausweglos. Ob sie ihn wohl eines Tages totschlagen würde? Dann hätte er endlich seine Ruhe.
Jens seufzte tief auf. Er lief in die Küche und setzte sich an den Tisch. Grit ließ eine Portion Bratkartoffeln auf seinen Teller gleiten. Dann nahm sie sich den Rest und stellte die Pfanne in die Spüle.
„Kannst du nachher machen. Jetzt lassen wir es uns erst einmal schmecken. Guten Appetit.“
„Danke, dir auch“, hauchte Jens und schob mit der Gabel eine aufgespießte Kartoffelscheibe über den Teller.
„Schmeckt dir wohl nicht oder hast du etwa keinen Hunger?“, kam die drohende Frage seiner Frau.
„Doch, doch“, beeilte sich Jens mit der Antwort und schob mehrere Bissen in seinen Mund.
„Nun schling nicht so, das sieht ja unappetitlich aus. Essen muss man genießen! Mach es einfach so wie ich“, sagte Grit und kaute überaus gründlich an einer kleinen Gabelportion, die sie anschließend herunterschluckte, bevor sie zu einem Glas mit Mineralwasser griff.
„Und nimm ein paar von den sauren Gürkchen. Ich habe das Glas extra für dich aufgemacht.“ Die Frau wies auf einen kleinen Teller in der Tischmitte. Sie war noch nicht am Ende ihrer Ausführungen angelangt, als Jens schon ein Stück ergriff und in den Mund steckte.
Grit zog sich nach dem Essen in ihren Bereich zurück, um sich mit ihren allerbesten Freundinnen per WhatsApp auszutauschen. Meist reichte ja ein witziges Foto oder ein originelles Video aus, das man weiterleitete. Viel an Kommentaren war gar nicht gefragt. Und eventuelle Fragen wurden eher selten beantwortet. Sie wischte auf ihrem Smartphone herum und kicherte zwischendurch.
Jens hatte sich daran gemacht, die Unordnung in der Küche zu beseitigen. Er wusste genau, dass Grit ihn hinterher überprüfen würde. Manchmal sogar mit Taschenlampe und einem weißen Stofftaschentuch, auf dem man garantiert jede Dreckspur erkannte. Gern nahm sie Fotos von den Stellen auf, die er übersehen hatte, um sie ihm hinterher zu präsentieren, meist mit Maulschellen ergänzt.
Ob ich mich vielleicht doch mal Till anvertraue?, überlegte Jens, während er das Geschirr abspülte. Sein Kollege hatte so eine positive, offene Ausstrahlung. Und zwischendurch hatte Till ihn schon kritisch angeschaut, als er mit immer wieder neue Verletzungen auf der Arbeit erschien.
„Alles in Ordnung bei dir?“, hatte er sich erst am Tag zuvor erkundigt. „Wenn du Sorgen hast, dann rede einfach mal drüber. Mitunter hilft das allein schon. Erleichtert auf jeden Fall. Wir könnten ja nach dem Dienst ein Bier zusammen trinken. Was hältst du davon?“
Jens hatte jetzt ein bitteres Lächeln im Gesicht, während er die Pfanne säuberte. Mit einem sanften Kratzschwamm, der auch für Gläser geeignet war. Nur nicht die Beschichtung des hochwertigen Teils beschädigen. Das wäre nur ein weiterer Auslöser für unberechenbare Gewaltattacken.
Ein Bier nach der Arbeit trinken, mit einem Kollegen! Selbst wenn sich das zeitlich einrichten ließ, weil Grit in Schichten arbeitete, blieb immer noch die hartnäckige Alkoholfahne. Er konnte ja schlecht plötzlich behaupten, abstinent zu sein, nachdem er schon öfter mal von einem Glas Bier oder Wein erzählt hatte, wenn im Kollegenkreis die Sprache auf Feiern kam. Und vielleicht würde Grit sogar die Erleichterung spüren, die ihm danach anzumerken wäre. Also keine gute Idee. Aber möglicherweise könnte er Till gegenüber doch mal etwas andeuten. Jens behielt diese Option im Hinterkopf.
Er suchte jetzt gründlich die Wände rund um den Herd ab, ob dort Spritzer zu entfernen waren. Da und dort schrubbte er und wischte trocken nach. Zuletzt kroch er auf dem Boden herum, um dort für Sauberkeit zu sorgen. Das Fett war wirklich an allen möglichen Stellen zu finden. Sogar an den Tischbeinen. Jens verzweifelte fast. Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, die Spuren des vorherigen Ausrasters seiner Frau restlos zu beseitigen. Er saß auf dem Boden und hielt die Schultern gesenkt.
Schließlich erhob sich Jens und holte die Flasche Raumspray aus einem Küchenschrank. Er setzte einen feinen Sprühnebel in alle Richtungen. Die Essensgerüche wurden übertönt durch eine zitronige Anmutung. Jens schnüffelte mit seiner Nase. Immerhin besser als der Geruch nach dem erhitzten Fett und dem Gebratenen. Grit jedenfalls hatte für jeden Raum einen anderen Duft parat. Manche davon steckten in der Steckdose und entfalteten sich stoßweise in regelmäßigen Abständen. Auch die Polstermöbel musste er regelmäßig übersprühen, weil sie „nach altem Mann“ rochen, wie Grit abfällig bemerkte. „Wir brauchen etwas, das den Gestank neutralisiert!“
Bevor beide nach dem abendlichen Bad ins Bett gingen, präsentierte Grit eine Tablette und ein Glas mit Leitungswasser für Jens.
„Hier, nimm die mal. Ist eine Viagra. Ich bin extra zur Apotheke am anderen Ende der Stadt gefahren, wo mich keiner kennt. Offensichtlich bist du ja ohne die Dinger zu nichts mehr in der Lage, du Versager.“
Widerwillig griff Jens zu der Tablette und dem Glas, schob erst die Pille in den Mund und nahm dann einen großen Schluck hinterher. Er hasste Medikamente, die man schlucken musste, vor allem wenn sie so großformatig waren. Es blieb ihm immer ein bitterer Nachgeschmack im Mund und so ein Würgen, als wolle alles wieder hochkommen.
„Ich mach mich dann schon mal fertig“, sagte Grit noch und verschwand schon im Schlafzimmer.
Jens wusste, dass sie nun die schwarze Reizwäsche hervorholen würde, um sich darin zu verpacken. In der festen Überzeugung, das würde ihn antörnen. Inklusive Strumpfhalter und feiner Netzstrümpfe. Der Anblick würde ihm lediglich Angst einjagen. Jens fröstelte und rieb sich die Oberarme. Aber zugleich spürte er langsam die Wirkung der Pille. Ob er wollte oder nicht.
Mach einfach nachher die Augen zu und denke daran, was du in der nächsten Zeit erledigen willst, riet ihm seine innere Stimme. Blödsinn, meinte der gedankliche Gegenspieler, das ist doch wohl ein Ratschlag für Weiber. Denk an eine richtig geile Tussi, die scharf auf dich ist und dir jeden Wunsch von den Augen abliest. Dich von Kopf bis Fuß verwöhnt. Jens stöhnte leicht auf und öffnete die Schlafzimmertür. Grit lag entsprechend ausstaffiert und breitbeinig auf dem Bett. Eine Duftwolke von schwerem Parfüm quoll ihm entgegen.
4. Kapitel
Rente
Elizabeth hatte gerade eine weitere Tüte mit Müll in der Tonne entsorgt. Für ihre Wohnung im Hochparterre war ohnehin kein eigener Müllschlucker vorgesehen. Jeder Mieter dieser Etage musste seinen Abfall hinausbringen. Sie schob das etwas längliche, relativ großformatige Teil unter ein paar andere Säcke. Es war in einer blauen Plastiktüte verpackt und mit braunem Klebeband umhüllt. Die Hausmeisterin trug Handschuhe, wie meist bei der Arbeit.




