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Doch das Schicksal hatte es nicht anders für ihn bestimmt. Seine Anspruchslosigkeit, die er mit der Muttermilch aufgesogen hatte, ließ ihn sein Geschick annehmen und nicht sonders unzufrieden werden.
Für Frederico hatte er große Hoffnungen gehabt, die Hoffnung, dass er der Beschwerlichkeit des Lebens an diesem einsamen Ort entfliehen und in das Geschehen der weiten Welt Einzug halten konnte, etwa als in leichte und helle Stoffe gekleideter Kaufmann in Cadiz oder als Kapitän einer jenen unzählig vielen Handelsschiffe, die gen Amerika segelten, dem Glück des Goldes und des Geldes immer auf der Spur.
Früher hatte er manchmal, wenn er auf dem Wasser gewesen war, diesen Schiffen nachgesehen und sich dann in seinen wenigen, immer wiederkehrenden Träumen verloren.
Als Frederico groß wurde, träumte Pablo diese Träume für ihn.
Frederico war ein so ein wunderbarer Junge gewesen, ein Geschenk des Himmels – und Gabriel war es auch.
Ein Geschenk mit einem unerklärbaren innewohnenden Reichtum, den er nicht der Auszehrung des Alltags opfern durfte.
»Auch er wird gehen!«
Diese leise zu sich selbst gesprochenen Worte, diese Empfindung legte Pablo über all die Jahre nicht ab.
Und so entwickelte sich zwischen ihnen ein starkes Band, aber nicht ein als unvergänglich empfundenes wie zwischen Vater und Sohn. Gabriel gehörte ihm nicht, er gehörte Gott und den Mächten des Himmels.
Auch Margarita, Pablos Weib, sah Gott im Spiel. Anders als Pablo jedoch schaute sie Gabriel als ihr eigenes Kind an.
»Der Himmel lässt Wunder geschehen und bahnt ihnen den Weg in die Welt.«
Gott hatte ihnen Frederico genommen, warum er dies getan hatte, war ihr nie zu Verstand gekommen, und eben dieser Gott hatte ihnen nun, da er seinen Fehler eingesehen haben mochte und sie zu alt geworden war, um eigene Kinder zu bekommen, Gabriel als Findelkind geschenkt.
Der Junge gehörte ihnen, dies ihre unumstößliche Gewissheit, wie sie sich sonst nur einer Mutter bemächtigen konnte. – Wem auch sonst, da nie sich irgendjemand nach ihm erkundigt hatte, hätte das Kind gehören sollen? Genauso wie Pablo, nur leiser, hatte sie sich gefragt, wer die leiblichen Eltern des Kindes waren, ob sie überhaupt noch lebten, aber sie fragte sich nicht, warum sie das Kind vor die Tür gelegt hatten oder hatten legen lassen, und fragte sich auch nicht, ob sie jemals noch einmal Anspruch auf es erheben würden.
Nein, Gabriel war ihr Kind, ihr Kind allein, und sie würde es nie aus ihren Händen geben.
Pablos Geist war forschender gewesen. Margarita hingegen sah es zu ihrer großen Überzeugung als gottgegeben an, dass Gabriel an die Stelle von Frederico gerückt war. Sie würden ihn behalten, bis sich aus ihm ein stattlicher junger Mann entwickelt hatte.
Und wenn er ein gutes Wesen haben würde, und davon war Margarita überzeugt, dann würde er, so ihr mütterlich gefärbtes Denken, nie weit von ihnen gehen und sich bis zum Ende ihrer Tage um sie kümmern.
*
»Es passt alles zusammen. Nichts war für meine Augen und Ohren bestimmt.
Und dennoch kann ich alle Teile zu einem Ganzen zusammenführen.«
Sion de Albanez, der neue Herr, nachdem der alte Marqués vor Jahren alt und unruhig gestorben war, hegte dunkle Gedanken. - Gabriels Existenz wühlte ihn auf. Eine passende Erklärung war ihm möglich, aber er wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen.
Zum Vorteil für sein Befinden passierte es nur selten, dass er an den Jungen denken musste, am ehesten noch, wenn er Pablo zu Gesicht bekam. Und diese Seltenheit in der Verwirrung seiner Seele, gepaart mit einer seltsamen Schwäche, verleitete ihn nicht zu grausamen Plänen und ihrer Ausführung.
Die Unruhe, die Sion de Albanez erfasste, wenn er sich der Gegenwart des Jungen bewusst wurde, grenzte an eine unbestimmte Angst. Angst, sie war sonst im Alltag, der keine Geheimnisse barg, und in der Begegnung mit den untertänigen Menschen kein Begleiter seines Lebens.
Umso mehr beschwerte ihn diese unliebsame Empfindung.
So überraschend, wie Gabriel in das dörfliche Leben gekommen war, so überraschend sollte er auch wieder gehen.
Diesen Wunsch, der an Naivität grenzte, hegte Sion de Albanez – wie zuvor sein Vater schon, was sein Geheimnis geblieben war – meist unbewusst, manchmal jedoch heiß in seiner unfreien Seele, auch wenn er nichts für seine Verwirklichung tat. Er, der Herr, der gebieterische und Respekt einflößende, von Kindheit an auf diese Wirkung hin streng erzogene, verspürte eine eigenartige Machtlosigkeit, wenn sich dieses aus dem Reich des Unbewussten aufsteigende Gefühl seiner bemächtigte. Einen Anflug von wissender Verantwortlichkeit gegenüber Pablo und seiner Frau konnte er dabei nicht unterdrücken.
Eine Regung freilich, die immer nur von kurzer Dauer war und keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. Ein kaltes Herz hinter regungsloser Miene.
Wenn sein Herz auch bei Gabriel nur kalt geblieben wäre.
Aber es reagierte mit Abwehr, schlug höher und besorgte ihn. – Fatal! Eine Schwermut an Gedanken, die ihn belastete. Ablenkung zwar durch die täglichen Anforderungen, doch der Nachhall der Schicksalsglocke verstummte nicht.
*
So ging die Zeit dahin, über die Küste des Lichts und die dahinter liegende Landschaft und die Menschen hinweg, und formte sie, das Land unmerklich, die anderen aber mehr oder weniger deutlich. Vor dem Ablauf der Naturkreisläufe, vor dem ewigen Wechsel von Tag und Nacht, vor dem immer währenden Zug der Sterne über den immer gleich anmutenden Nachthimmel, vor dem nie enden wollenden Rhythmus der Gezeiten und vor dem immer gleichen Ablauf des Alltags der Menschen schien deren Entwicklung, ihr Erwachsenwerden und ihr Dahingehen die einzige Veränderung in diesem von Gott nur wenig besuchten Zipfel der großen Welt zu sein.
Und doch hatte sich schon eine Veränderung eingenistet, die mit wachem Blicke längst zu bemerken gewesen wäre und die nach ihrer Offenbarung für ein Entflammen nie gekannter und nie gelebter Empfindungen sorgen sollte.
Gabriel war eben um die acht Jahre alt, als sein kleines Leben, die Winzigkeit seiner Welt, jäh von einem Augenblick zum anderen eine tiefe Wandlung erfuhr und er die vorgezeichnete Bahn seines Daseins endlich betrat.
Ein Aufschrei auf dem sonnenüberfluteten Marktplatz, auf dem sich zu der späten Vormittagszeit viel Volk aufhielt, beendete alle Beschaulichkeit und seine Kindheit.
»Mutter, schau! Gabriel hat keinen Schatten!«
»Was redest du da, Junge?«
»Doch schau, es ist wahr!«
Ein Blick, der Aufschrei der Mutter, das Herumfahren der Menschen und die Feststellung von Gabriel, dass er betroffen war, das alles dauerte nur wenige Momente. Er schaute die Frau mit ihren verschreckten Augen an, dann Ramon, den Jungen, der sein Geheimnis, um das er selbst nicht wusste, entlarvt hatte, sah vor sich auf den Boden, blickte zu den Seiten, schaute hinter sich, aber er konnte keinen Schatten von sich ausmachen. Erst Verwunderung, dann schon der Anfang von Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Der Abgrund einer Hölle begann sich in Sekundenschnelle aufzutun. Ein Abgrund, der ihn in die Tiefe reißen würde, sich anschickte, ihn zu verschlingen, ohne dass er aus der Welt verschwand. – Wie konnte das sein?
Die Frage stellten sich ebenso alle, die in befremdender Neugier herbei eilten.
Behäbiges Dorfleben unter südlich heißer Sonne, das von einem Moment zum nächsten einem Aufruhr gewichen war.
Um Gabriel herum bildete sich ein Kreis, türmte sich eine unüberwindbare Mauer aus Leibern, die immer bedrohlicher wurde, weil die Hinzukommenden die vor ihnen Eingetroffenen nach vorne drängten.
Die magische Linie, gut drei Schritte zu Gabriel mochte sie betragen, wurde aber unter heftiger Gegenwehr der von hinten Bedrängten, die all ihre Körperkraft zum Abstand halten aufwenden mussten, nicht überschritten.
Nur nicht von dem Jungen berührt werden. Nur nicht zu nahe kommen.
All das, was ihnen in ihrer Lebenszeit über den Satan und die dämonischen Mächte beigebracht worden war, dem sie sich in dem sicheren Glauben, dass sie wohl nicht heimgesucht würden, so gerne schaudernd überlassen hatten, war jetzt präsent, so unglaublich, zum tiefsten Fürchten nah.
Schau, er hat tatsächlich keinen Schatten! Welche Ungeheuerlichkeit! Er steckt sicher mit dem Teufel im Bunde!
Das Seelenheil war in Gefahr. Diese Befürchtung gesellte sich instinktiv zu ihrer Neugier. Alles Fremde, alles nicht Erklärbare wurzelte in Satans Reich.
Gabriel, dieser so weiche, so empfindsame Junge mit seinen mädchenhaften Zügen, er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte Angst vor der Menge, die ihn mit ihren augenblicklich finsteren und gereizten Blicken ausgrenzte. Und er hatte Angst vor sich selbst. – Er war anders als die anderen.
Tiefe Scham überkam ihn, heißes Blut durchströmte ihn, sein Herz hämmerte, so als würde es zerspringen wollen.
Würde es das doch tun, dachte er flehentlich. Er hatte kein Recht zu sein. Eine schmerzliche, rasch sich einstellende Empfindung.
Sekunden, Augenblicke, in die sich die Ewigkeit eingrub. Die Zeit hörte auf zu fließen, war in diesen Augenblick gemündet und schien ihn nicht überwinden zu können.
Erste Feindseligkeiten waren zu vernehmen.
»Ich hab es mir immer schon gedacht. Der Junge ist mit der Finsternis im Bunde. In unsere Mitte gebracht, um uns alle zu verderben!«
Cisco, der Metzger des Dorfes, war schnell seine Meinung losgeworden.
Die Alten schwiegen. Niemand ergriff das Wort für Gabriel. Die Kinder des Dorfes, seine Freunde, die bis eben noch ein Teil seiner kindlichen Seele gewesen waren und jetzt aus ihr heraus stürzten, blickten ihn ängstlich an, als fürchteten sie, auch von dieser Krankheit ergriffen zu werden. Einige, darunter auch Ramos, der Gabriels Makel entdeckt hatte, sahen nach, ob sie selbst noch einen Schatten warfen.
Die Situation wird unerträglich für Gabriel. Er will nur noch fort, fort von diesem Platz, fort von allem Vertrauten, was zu verschwimmen begonnen hat, fort in die ewige Fremde.
»Was habe ich euch getan? Lasst mich gehen!«
Leise formen sich diese Worte einer plötzlich einschießenden Gegenwehr auf seinen Lippen, ohne dass sie eine Reaktion bedingen.
Erst als er höchst unsicher zwei Schritte nach vorne geht, bricht der Kreis der Menschen auf. Furchtvolles Zurückweichen unter dem Aufraunen der Menge, welches Gabriel einen Weg ebnet, pure Angst, die ihm eine Gasse schlägt.
Selbst nie von derartig großen Ängsten heimgesucht, setzt er einen Fuß vor den anderen. Wenn er strauchelt und Schwäche zeigt, werden sie über ihn herfallen, werden sie ihn töten. Er spürt es und umso konzentrierter werden seine Schritte, obschon sich auch sein Geist mit der neu eingetretenen Situation auseinander setzt.
Welch eine Schande, ohne Schatten da zu stehen, welch ein schmerzhafter Stich, welch eine unheilvolle Ahnung, all die Menschen jäh verloren zu haben, die ihm so sicher gewesen waren und ihm – auch wenn er um seine Besonderheit weiß – eine tiefe Geborgenheit für das Leben geschenkt hatten.
Seine Schritte werden schneller, ohne dass er fortzukommen scheint, sie gehen ins Laufen über, ohne dass er das Gefühl hat, entfliehen zu können. Er beginnt, vor sich selbst fortzulaufen, den Halt seiner Seele zu verlieren, der einsamste Junge der Welt zu werden.
Zuhause – hat er überhaupt noch eines? –, nahezu unwissentlich haben ihn seine Schritte dorthin geführt, verkriecht er sich in den kleinen fensterlosen Ziegenstall, der an das Haus angebaut ist, aber die älteren Jungen, die ihm mutig mit Abstand gefolgt sind, gönnen ihm keine Zuflucht und verraten der nachkommenden Menge den Verbleib.
Immer lauter werden die Stimmen der auflaufenden Menge, sie dringen in Pablos Gehör, in seine Siesta, die er vor seinem Hause abhält, und endlich in sein Bewusstsein. Er öffnet die Augen. Auch sein schweigsamer Mund öffnet sich.
Ehe er einen Gedanken formen kann, ehe er etwas zu sagen in der Lage ist, sieht er die Leute des Dorfes, die entschlossen heranmarschieren, darunter viele Freunde, diese bedrohlich näher rückende Menschenmenge, aus der auch schon Forderungen an ihn gerichtet werden.
»Sag ihm, dass er aus dem Stall kommen soll!«
»Ja, treib den kleinen Teufel aus seinem Versteck!«
Das größte Befremden, das seine Seele heimsucht.
*
Am Abend war eine gefährliche Stille eingekehrt.
»Sie werden wiederkommen …«
»Ich begreife das alles nicht.«
»Sie werden wiederkommen und sich hinter dem Rücken von unserem Herrn, von Sion de Albanez, postieren.«
»Warum haben wir nicht …?«
»Ihr müsst ihm und der Menge zuvorkommen!«
»Es hätte uns doch …«
»Unmöglich, bis morgen zu warten!«
»Er ist uns doch geschenkt worden!«
»Hört ihr mir eigentlich zu?«
»Aber von Gott, wie ich immer dachte, oder vom Teufel …?«
Sie schauten mit Sorge auf Gabriel, der sich in unruhigem Schlafe hin und her wälzte.
»Pack seine Sachen, Margarita, und dann weck ihn! Ich nehme ihn mit. Hier ist er in großer Gefahr!«
Die Worte stammten von Luis, dem äußerlich nur ausgezehrt wirkenden, innerlich aber noch so vehementen Freund. Er war der Menge am Nachmittag gefolgt und kurz von ihr aufgesogen worden. Dann aber war er aus ihr herausgetreten und hatte sich von ihr entfernt … auch mit seinem Verhalten. Er hatte sich schützend vor Pablo gestellt und den bedrohlichen Blicken und den hasserfüllten Wortattacken standgehalten.
»Lasst sie in Ruhe«, hatte er gebrüllt, »und schert euch fort!«
Nach einigen Momenten gefahrvollen Schweigens hatte er weitere Gegenwehr folgen lassen.
»Es gibt hier für euch nichts zu tun. Also verschwindet!«
Eine am gestrigen Tage noch undenkbare Situation war eingetreten. Luis stellte sich gegen die Gemeinschaft des Dorfes.
Gegen die Gemeinschaft, die einzige, in die er je in seinem eintönigen und armseligen Leben hinein gewachsen war, die viel mehr noch als die vertraute Landschaft, die Nähe der Felder, die Nähe der Küste, die Nähe des Meeres und die Nähe des Himmels Heimat für ihn verkörperte. Ein Vorfall, ein einziger, der auch ihn beunruhigt hatte, war ausreichend gewesen, die festgezurrten Bande aufzulösen. Diese Gemeinschaft, war sie nicht mehr als ein Trugbild, eine vermeintliche Antwort auf die Schwäche der einzelnen, ein Schutzschild, das, wenn es darauf ankam, keines war? Stand in Wahrheit nicht jeder, der sie nicht genau spiegelte, alleine da?
Schmerzliche Fragen, von schmerzlicher Erkenntnis geformt.
Die Welt war so einfach zu erklären gewesen. Jeder hatte seinen angestammten Platz im großen Gefüge.
Alles war bestimmt – jeder Tag und jedes Kommen und Gehen.
Dies alles in dem ein Leben lang ungetrübten Bewusstsein der Gleichheit mit all den Menschen, die sich hier unter der heißen südlichen Sonne mühsam ihr Überleben verdienen mussten. Von heute an war diese so vertraut gewordene Welt zerstört und nicht mehr herzustellen.
Die Schattenlosigkeit des kleinen Gabriel schon, derer er selbst nicht ansichtig geworden war, ließ die Sonne eines einfachen Glaubens untergehen. Und das sich anbahnende Zerwürfnis mit dem Dorf schleuderte seine schlichte Welt endgültig in das Dunkel der Nacht.
Dennoch musste dieses Wagnis, dessen Luis sich sofort bewusst gewesen war, für etwas Größeres als die Gemeinschaft mit den Menschen des Dorfes, für die unzerstörbare Freundschaft mit Pablo eingegangen werden, eine Aufgabe, von der es aus Luis tiefster Überzeugung keine Befreiung geben konnte.
Die Menge hatte auf seine Worte hin unschlüssig reagiert. Niemand wollte weichen, aber keiner ging auch nur einen Schritt mehr vorwärts. Nach einer Zeitspanne endlich, die Luis und auch den anderen wie eine Ewigkeit vorgekommen war, murrten die Ersten und gingen ins Dorf zurück. Gehässige Kommentare, da und dort aus der Menge kommend, von Cisco, dem Metzger geschürt, begleiteten sie.
Nach und nach setzte Schweigen ein. Die davongingen, immer mehr an der Zahl, redeten nichts, und die noch verharrten und ihre Augen auf sie richteten, schwiegen auch, um dann gleich wieder mit ebensolchem Schweigen ihr Augenmerk auf Luis zu richten und den Ziegenstall, worin Gabriel sich aufhielt und der insoweit nur vor Übergriffen geschützt war, als dass nicht wenige zu glauben geneigt waren, dass gleich der leibhaftige Teufel aus ihm herausfahren und sie alle ins Verderben stürzen würde.
Luis registrierte den Erfolg seiner Aufforderung mit gespannter Empfindung.
Noch war ein Umschlagen der Situation möglich. Ein erklecklicher Haufen Männer, Cisco allen voran, stand weiter vor dem Haus. Doch auch wenn sie Tag für Tag enorme körperliche Leistungen vollbrachten, unermüdlich rackerten und schufteten, wohnte ihnen doch keine eigentliche Tatkraft aus einem freien eigenen Willen heraus inne.
So blieben sie unentschlossen und zerstreuten sich schließlich in alle Richtungen, was freilich eine gute Stunde an Zeit in Anspruch nahm.
Luis fühlte keinen Triumph in seiner Brust sitzen. Nein, es war nur das vorübergehende Weichen einer ungeheuren Anspannung.
Die Lage würde sich wieder zuspitzen. Er wusste es, und dies ließ ihm keine große Erleichterung zufließen.
Und Pablos und Margaritas Unschlüssigkeit machte ihn noch besorgter.
Schließlich nahm er die Dinge selbst in die Hand und den noch schlafenden Gabriel an sich. Vorsichtig wickelte er eine auf dem Lager von Pablo und Margarita ausgemachte Wolldecke um ihn.
Der Junge schlief weiter. Luis richtete seine Schritte zur Türe. Doch Pablo versperrte ihm den Weg. Es war kein Gefahr heraufbeschwörendes Dazwischentreten, sondern nur ein ängstliches.
»Wo gehst du hin, Freund?«
»Zu einem für den Jungen sicheren Ort. Mehr müsst ihr zunächst nicht wissen.
– Wissen zu haben, bedeutet Gefahr. Also fragt nicht weiter!«
Sagte es und schob sich mit dem Jungen auf dem Arm an Pablo vorbei. Doch die Absicht reifte nicht zur Tat. Gerade da Luis die Tür öffnen wollte, wurde sie mit einem heftigen Tritt aufgestoßen. Vor ihm stand Juan, die rechte verhasste Hand von Sion de Albanez, so nah, dass Luis seinen Schweiß und seinen schlechten Atem riechen konnte. Hinter ihm hatten sich einige Männer postiert. Ein Moment des Erschreckens, ein Moment des Überraschtseins.
»Aha, sind gerade rechtzeitig noch erschienen, wie mir scheint.«
Juan zeigte sich wissend. Ein Blick nur, der ihm alles sagte.
»Wo wolltest du mit dem Jungen hin?«
Luis schwieg und blickte unter sich.
»Los, her mit ihm!«
Juans Stimme klang unerbittlich. Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Margarita schrie auf und wollte Gabriel an sich bringen. Juan aber griff eher zu und zerrte an dem Jungen. Luis hielt dagegen, Gabriel fing an zu wimmern und unruhig zu werden und als er aufwachte, schrie auch er.
Dann plötzlich peitschte ein Schuss durch die nachtkühle Luft. Einer der mitgekommenen Männer hatte ihn vor der Tür in den Nachthimmel abgegeben. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Augenblicklich hörten das Schreien und alle Gegenwehr auf.
Luis, Pablo, Margarita, auch der kleine Gabriel, alle waren sie wie gelähmt und erstarrten, so als hätte der Schuss jeden einzelnen von ihnen tödlich getroffen.
Juan hatte den Einsatz des Gewehres für den Fall des Widerstandes angeordnet und nutzte den Augenblick der Entschlusslosigkeit.
»Her jetzt mit dem Jungen!«
Er riss Gabriel an sich und trug ihn eilig aus dem Haus. So schnell wie die Männer in Erscheinung getreten waren, so schnell waren sie auch wieder außer Sicht. Mit Gesichtern, welche Verzweiflung spiegelten, starrten Pablo und Luis durch die offen stehende Tür in die Nacht, während Margarita vor Schmerzen zusammengekrümmt nach Luft rang.
»Nehmen sie ihn wie verabredet, Padre, und bringen sie ihn so schnell wie möglich zur Kongregation nach Cadiz! Sollen die sich mit dieser Ausgeburt der Hölle befassen und das Geständnis aus ihr rauspressen!«
Sion de Albanez, er übte zwar die Gerichtsbarkeit aus, aber bei Fällen wie solchen, zwischen Himmel und Hölle angesiedelt, überließ er der Kirche gerne das Feld. Anflüge von Angst vor dem unberechenbaren und nicht zu fassenden Bösen, das in diesem Kinde angesiedelt war, hatten zudem Einzug in seine Seele gehalten. Anflüge von Angst, die ihn Abstand halten ließen.
Überhaupt waren Kurie und Inquisition noch immer die heimlichen Herrscher des Landes. In der Zeit nach Philipp V., der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anfänglich mit königlicher Macht ihren Einfluss eindämmen wollte, dann aber unrühmlich dem Werben seiner starken zweiten Frau für die alten Konstellationen erlegen gewesen war, hatten sie allen neuerlichen Strömungen zum Trotz weiter ihre Macht behauptet.
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Gabriel hätte schon die größten Ängste um sein Leben ausstehen können und war auch nicht in jedem Augenblick von Tapferkeit und Hoffnung durchdrungen, doch hatte er sich angesichts der sich überschlagenden Ereignisse einigermaßen in seine Lage eingefunden.
Der erste Schrecken war tief in seine kindliche Seele eingefahren, nun jedoch harrte er ruhig und gefasst, wenn auch mit fühlbarem Schlagen seines Herzens, der Geschehnisse, die auf ihn warteten.
Welcher übermächtige Schatten nur hatte sich auf ihn gelegt? Noch gestern war die Welt, wie sie ihm nun begegnete, nicht denkbar für ihn gewesen.
Die Leute, seine Freunde auch, waren ihm nie feindselig begegnet, jetzt hatte er ihre dunkle Seite, ihren Hass und ihre Zerstörungswut, kennengelernt. Und dennoch ließ ihm die Stille des kargen Raumes in dem Haus des Padre ein wenig Zuversicht zuströmen.
Weg von zu Hause, aber auch weg von den aufgerissenen Mündern und Augen der Menschen, weg von jeder Begierde, ihn in seiner Misslichkeit anzustarren oder ihn gar anzugreifen.
Er wusste nicht, was hier mit ihm geschehen sollte. Aber er hatte die Kirche als einen Ort der Gerechtigkeit und der Milde und des Vergebens von Sünde in Erinnerung – zumindest nach ihrer eigenen fortwährenden Bekundung.
Hier konnte ihm doch nichts Übles widerfahren. Ein Glaube, der seine kindliche Seele zunächst noch stärkte.
Gabriel aber ahnte nicht um den Unterschied zwischen Predigen und Tun, zwischen Gerechtigkeit verlangen und Gerechtigkeit selbst walten lassen, zwischen Vergebung ankündigen und Vergebung praktizieren.
Der Padre, kleinwüchsig, bucklig, ein sich einsilbig gebender, durchtriebener Geselle, den es aus städtischer Ferne wegen eines vorwerfbaren Vorkommnisses in diese Landschaft verschlagen hatte, sprach kaum ein Wort mit ihm.
In der Nacht zur Schlafenszeit, als er in das Haus des Kirchenmannes gebracht worden war, hatte Gabriel es noch verstehen können. Doch auch über den Tag änderte sich daran nichts. Der Padre erschien bisweilen an der Tür, übersah kurz mit weit aufgerissenen Augen, in denen Anspannung sich spiegelte, die Situation, stellte zwischendurch etwas zu essen hin, ein wenig Obst, vorgestriges Brot und bisschen Speck, und war jedes Mal schnell wieder verschwunden.
Dennoch fühlte Gabriel sich zusehends von ihm beobachtet, ohne dass seine Augen den Beweis dafür lieferten. In der Tat hatte der Padre die Möglichkeit, einen versteckten Blick in einen Teil des Zimmers zu werfen. Durch ein Loch in der Wand, abgedeckt von einem Bild, das zufällig über dieser Öffnung in der Wand ebenfalls ein kaum zu bemerkendes Loch aufwies, konnte der Kirchenmann in den Raum spähen, um festzustellen, ob Gabriel heimlich die Gestalt des Teufels annahm oder Vorbereitungen für einen Ausbruch oder für einen feigen Überfall traf.
Und immer, wenn dem Padre die Stille in dem Raum zu schaffen machte und er aus seinem Versteck heraus Gabriel nicht beobachten konnte, erschien er an der Tür, um den Jungen und sein Treiben kritisch zu mustern.
Für den Padre bedurfte es von Beginn an schon keiner aufwändigen Klärung mehr. Der Junge steckte mit dem Satan im Bunde. Die Berichte, die er vernommen hatte, waren Beweis genug.
Einzig Gabriel noch bei der Gelegenheit zu überführen, wie er die Teufelsgestalt annahm, seine Gestalt aus inner Urkraft anschwoll, wie ihm Hörner aus der aufplatzenden Haut auf die Stirn traten, Haare auf dem ganzen Körper sprossen, sich zu einem Fell verdichteten, sein Gesicht zu einer Fratze verkam und ein klumpiger Fuß sich formte, danach dürstete ihn trotz allem Schrecken bei der bloßen Vorstellung seine Gier.