SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten

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Doch der Junge tat ihm nicht den Gefallen, sich zu verwandeln und weiter zu entlarven. Der Priester sah darin nur die Verschlagenheit des bösen Engels, dass Gabriel ruhig sein Geschick erwartete.
»Na, warte, du kleiner Teufel! Bald schon wird Gott, unser aller Herr und Gebieter, ja auch deiner, dich richten … sehr bald sogar!«
Die gütliche Befragung, die Territion, die Schreckung, das Zeigen der Foltergeräte, die noch die Blutspuren der sündhaften Seelen trugen, und die peinliche Befragung, wenn alles andere nicht gefruchtet hatte, würden die Wahrheit enthüllen und das, was dann zu tun war, vorbereiten.
*
»Wir müssen den Jungen befreien, so lange er sich hier vielleicht noch aufhält, und uns auch selbst in Sicherheit bringen!«
Luis hatte sich als erster von dem nächtlichen Überfall erholt und wieder die Fähigkeit erlangt, klar zu denken. Pablo jedoch schien nicht ansprechbar zu sein. Mit teilnahmslosem Blick hielt er Margarita, die noch immer ohne Fassung war, in seinen Armen.
Ihr Kind, was war mit ihm geschehen? Gestern noch war Gabriel all ihre Aussicht und Hoffnung gewesen.
Und jetzt, einen Tag von so vielen nur weiter, war alles, seine Unbeflecktheit, ja, sein ganzes Leben, in den Schmutz getreten worden.
Wie sollte er je wieder ein normaler Junge sein können? Wie nur sollte sie selbst ihn je wieder als normal ansehen können?
Ein tiefer Schrecken war in sie eingefahren, als sie gesehen hatte, dass Gabriel keinen Schatten warf. Ja, sie hatte gesehen, wie der Teufel sie im Schein der Kerze anlachte, welche sie vor dem schlafenden Jungen kreisen ließ.
Nichts, rein nichts … nicht die Spur eines Schattens.
*
»Nicht die Spur eines Schattens!«
Sion de Albanez nahm die Kerze zurück. Des Priesters Furcht, die sich auf seinem abgemagerten Gesicht ausmalte, spiegelte sein eigenes Entsetzen, das freilich nur seine Seele heimgesucht hatte. Äußerlich wirkte Sion de Albanez ruhig.
Eigentlich hatte er nicht geplant, des Jungens ansichtig zu werden. Doch innere Aufgewühltheit hatte ihn nicht zu Schlaf kommen lassen.
Ich muss ihn sehen. Dieser Wunsch hatte sich schließlich auf seinen Lippen geformt und zu einem finsteren Verlangen verdichtet.
Und jetzt, nachdem er Gabriel gesehen hatte, spürte er die Gefahr.
Ein Schatten, nicht irgendeiner, ein bestimmter, ein aus der tiefen Vergangenheit herkommender Schatten, legte sich auf sein Leben. Er fing an, ihm die Luft zum Leben zu nehmen, und er wusste, dass das Schicksal ihn einzuholen begann.
Frederico, der Tod von ihm war nicht vergessen. Er hatte ihn verdrängen wollen, aber der Tag der Abrechnung war von einer Macht bestimmt worden, von welcher, wusste er zu ahnen.
Dieser schmächtige Junge hier vor ihm, dessen Anblick ihn jeher beschwert hatte, und das, was ihm widerfahren war, standen im Zusammenhang mit den damaligen Ereignissen.
Der Stein war ins Rollen gekommen, die Mühlen des Schicksals hatten zu mahlen begonnen. Es waren die Mühlen des Allmächtigen. Diese Ahnung reifte in ihm zur Gewissheit.
Er aber musste es dem Teufel zuschieben, konnte nichts anderes in die Welt entlassen und hatte die Wahrheit im Verborgenen zu halten.
»Das Weitere geschieht wie besprochen!«
Der Padre nickte, schlug das Kreuz und wusste wieder nicht zu verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief.
Als Sion de Albanez weg war, näherte er sich noch einmal mit der Kerze dem Antlitz des Jungens. Er leuchtete ihm furchtvoll in die Augen, um den Teufel in den Pupillen von Gabriel zu erblicken, die unüberwindbare Neugier und die gleichzeitige Bereitschaft zur Flucht trieben ein böses Wechselspiel in ihm.
Draußen vor dem Haus standen zwei von Sion de Albanez Männer, die sein Schreien nach Hilfe, so er sie benötigen würde, vernehmen und sofort reagieren würden. Doch der Teufel musste doch auch vor dem Kreuz, das er in seiner rechten Hand trug, zurückweichen. Sicher aber war der Padre sich nicht.
*
In der Nacht, da kein Geräusch an sein Ohr drang, träumte er von einem hellen Licht, das ihn geleitete und wärmende Sicherheit schenkte. Alle Finsternis, in die er sich vorgetastet hatte, verschwand und ermöglichte ihm einen sicheren Gang.
Aus dem Licht drang eine warme Stimme, offenbarte ihm den Sinn, den höheren, der in dem Geschehnis des Tages steckte.
»Sei ohne Angst!«
Die Erfüllung seines Geschicks stand bevor, wenn auch noch große Prüfungen auf ihn warteten. Das Licht aber überwand jedes Hindernis, und er, er folgte ihm in die Welt hinaus.
Zwischen Bewusstlosigkeit und Halbschlaf träumte Gabriel den Traum weiter.
Die Wirklichkeit schien die Phantasie immer mehr an sich zu ziehen. Und sie zog auch an Gabriel. Der Traum wurde immer eindringlicher.
Dieses Licht, es war dabei, ihn von diesem Ort wegzuführen.
Endlich schlug Gabriel die Augen auf und sah das Licht. Und hinter diesem Licht stand nicht wie Stunden zuvor der Padre, sondern Joaquin, der Sohn von Luis. Zeichen des Lebens und der Veränderung.
Was war geschehen? Was würde geschehen? Zeit für zu fragen schien keine da zu sein.
Was war mit dem Padre passiert?
»Schnell, Junge! Komm mit!«
Gabriel wusste nichts und wusste alles, wusste um seinen Traum und seine Bestimmung. Und die führte ihn fort von hier wie es auch das Licht getan hatte, fort von der Heimat seiner ersten Jahre, fort von der alten Vertrautheit hinein in eine unbestimmt neue Vertrautheit, die hinter einem dünnen Schleier an Fremdheit schon fühlbar war.
Er sah die beiden Soldaten, die bewusstlos vor dem Haus des Priesters lagen, blickte sich unsicher auch nach dem Padre selbst um, diesem unheimlich gewordenen Mann der Kirche, vermochte ihn aber nicht zu entdecken und beeilte sich, um Schritt mit seinem Befreier zu halten, der kraftvoll und schnell voranging.
*
Sion de Albanez drehte unablässig den aus dem Erbe seines Vaters stammenden Goldring an seiner linken Hand. Er hatte, so sich nicht die Tür öffnete, keine Teilhabe an der Gesellschaft, die ihn umgab.
Wenn es ein Wunschring gewesen wäre, dieser Ring, den er da fortwährend über das Fleisch seines Fingers rieb, dann wäre nichts mehr mit Schwierigkeit verbunden gewesen, dann hätte niemand mehr nach diesem Jungen gefragt, so wie man es jetzt tat, ob in offener Unterhaltung oder hinter vorgehaltener Hand.
Er ahnte um die Zeit der ungeheuren inneren und der nachfolgenden äußerlichen Veränderung. Das gemeine Volk war nur einer ersten äußerlichen Veränderung ansichtig geworden, von der es sich in Unruhe hatte bringen lassen, die ihm aber durch das Anführen und das verkündete Bezwingen des Teufels wieder auszutreiben sein würde. Der tiefe Wandel, der anstand, würde es bald schon aber erfassen und in eine nicht mehr stillbare Unruhe und in einen bedingungslosen Aufstand gegen das alte Gefüge drängen.
Dieser Tag, der gestrige, war der erste in einer langen Reihe von Tagen, an deren Ende nur ein Wandel stehen konnte, dem auch er sich – mehr als alle anderen es tun mussten – zu stellen haben würde.
Festungen würden geschliffen, Mauern, solche aus Stein wie jene aller Gedankenwelten, zum Einsturz gebracht, eine neue Welt mit eigener Ordnung offenbarend und die alte unter sich begrabend und der Vergessenheit zuführend.
Er hatte von der Revolution in Frankreich gehört, von den umstürzlerischen Kräften, von der Erhebung des gemeinen Volkes, von dem Geschwür, das sich durch Europa zu fressen begann.
Wo sollte sein Platz in dieser neuen Welt nur sein? Es gab ihn nicht in seinem engen stolzen Denken, das in der bloßen Fortführung alter Traditionen verwurzelt war. Deshalb musste er, wie aussichtslos es vielleicht auch war, sich gegen diese neue Welt stemmen und ihrem Anbeginn kämpferisch gegenüber treten.
Und der Schlüssel zu dieser neuen Welt war dieser Junge.
Verdammt, wo steckte er nur?
Sion de Albanez drehte weiter den schmalen Ring an seiner linken Hand und wartete auf die Kundschafter, die er ausgesandt hatte.
Aus allen Richtungen strömten sie, teilweise erschöpft, bis tief in die Nacht herbei. Keiner aber trug die erlösende Nachricht auf seiner Zunge. Der Junge war wie vom Erdboden verschwunden. Für Sion de Albanez das untrügerische Zeichen, dass hier Mächte zugange waren, gegen die er vergeblich zu Felde zog.
Wenn der Junge in spätestens zwei Tagen nicht zu finden war, würde er sich vielleicht schon an einem Ort aufhalten, bis wohin sein langer Arm nicht mehr reichte. Jede Stunde, in der die Suche nicht erfolgreich war, führte ihm die Notwendigkeit klarer vor Augen, dass es vorrangiges Tun der heiligen Kirche mit ihrem weiten Netz an Spitzeln und Informanten werden musste, die Rolle des Jägers zu übernehmen.
In die Rolle des Handlangers hatte sie sich trotz des Wissens um ihre Gewichtigkeit schon längst eingefunden.
Die Wege waren geebnet. Missliebige Personen verschwanden, sie wurden urteilslos der ihnen gebührenden Gerechtigkeit zugeführt und verdient für alle Zeiten aus ihrem gewöhnlichen Leben gerissen … an einen Platz, an dem sie nur noch auf den Himmel hoffen durften.
Hinter schweren unüberwindbaren Klostermauern hatte die Kirche sich schon mancher armen Seele angenommen und ihr den Weltenbezug genommen.
Auch Gabriels Spur hätte sich nach der Vorstellung von Sion de Albanez in einem weit entfernten Kloster unter der Obhut schweigsamer Mönche, von einem milden Segen der Weltlichkeit in ihrer Überzeugung gestärkt, bis in die Ewigkeit hinein verlieren sollen.
*
Eine Stimme aus der Ferne drang durch das stickige Dunkel zu ihm vor.
Eine Stimme, die ihm vertraut war.
Eine Stimme aber, die hier an diesem Ort nicht wenig ihre Vertrautheit eingebüßt hatte.
Eine Stimme, die sich gegen die bedrohliche Lage stemmte.
Eine Stimme, aus welcher er den ungebrochenen Willen heraushörte.
Eine Stimme aber auch, die an Kraft eingebüßt hatte.
»Sag, wie sich alles zugetragen hat!«
»Es war das Letzte, was ich für ihn tun konnte.«
Die Antwort fiel leise aus; ungehört erstarb sie fast auf den Lippen. Sie musste auch nicht laut sein, denn der, der sie verlangte, hatte sie so oft schon abverlangt.
Bilder, abgespeicherte, stiegen ins Bewusstsein auf.
Bilder, neue, ohne das Fundament des Geschehens, kamen hinzu, überlagerten die anderen und halfen, die Furcht zu unterdrücken.
Dieser Ort hier war einer der einsamsten in ganz Spanien. Wem er zuteil wurde, der sah kein Licht und keine Welt. Umso dringlicher, das Licht einer hohen Vorstellung den traurigen Ereignissen entgegenzustellen. Gewandet in Weiß, von gleißendem Licht umhüllt, die Welt all ihre Schatten verlierend und dann auch ihn durch seinen Ritt zum Himmel hin.
Diese Geburt an Phantasie, tiefen Frieden verströmend, war sie des Glaubens nicht wert? Oder sollten ihn weiter die Bilder von Blut und Gewalt heimsuchen und ihn in einen noch tieferen Abgrund stoßen?
Das Dahinvegetieren in diesem dreckigen, von Ratten behausten Loch war die Hölle. Und diese Bilder stammten auch aus ihr.
Und das nagende Gewissen, die Hoffnungen nicht erfüllt und versagt zu haben, war mehr noch die Hölle.
*
Auch ein anderer Ort war fern des Lichts und aller Welt.
Auch er war ein Gefängnis, ein Gefängnis der besonderen Art. Ein Gefängnis, aus dem es keine Rückkehr geben sollte. Ein Grab zu Lebzeiten schon.
Chorgesang aus der Hölle angestimmt, reinster Stimmen sich bedienend, drang aus der Ferne schwach in das Dunkel ein.
Doch aller Feindlichkeit der ihn umgebenden und seine Freiheit beschränkenden Welt zum Trotz gingen ihm immer und immer wieder warme Bilder voller Einbildungskraft und Glück durch den Kopf.
Nicht in Worte zu fassen, was er dort sah.
Helle Farben, lichtdurchflutet, öffneten sich tief in einem Abgrund, überwanden ihn in großer Eile, strömten einem Himmel von fliehenden dunklen Wolken entgegen und zerbarsten, um im selben Augenblick das Firmament und alles Land in einen gleißenden Schein zu tauchen, durch den von einem nahen Gipfel ein noch viel helleres Licht durchzustechen vermochte.
Und er fühlte sich von diesem Lichte angezogen und überwand alles an irdischen Kräften und schwebte ihm, einem Engel gleich, schwerelos zu.
*
Pablo atmete bedrückt die gefährliche Stille und den schweren Duft des Raumes ein, den er noch nie zuvor betreten hatte.
Eine Welt nah der seinen und dennoch so viele Welten entfernt. Da schienen selbst die Inbegriffe aller Fremdheit für ihn, die menschenüberlaufenen Viertel der Altstadt von Cadiz, El Pópula, La Vina und Santa Maria, mit ihren schmalen dunklen Gassen vertraute Orte zu sein. Nah dem Erwachsensein hatte er sie ein einziges Mal besucht, nach der für ihn weitesten Reise seines Lebens zu den religiösen Festen in der heiligen Woche vor Ostern, zu den Dutzenden von Prozessionen, die von den Nazarenos mit ihren schwarzen, unheimlichen Spitzkapuzen angeführt worden waren.
Pablo saß mit unheilvoller Empfindung im Privatgemach von Sion de Albanez.
Es war ein Ort, den er sich nie im Leben vorzustellen bemüht und den zu betreten er niemals sich gewünscht hatte.
Diesen seinen Herren, den von ihm geachteten aber nicht geliebten, den so hoch über ihm stehenden und herzlosen, hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte ihn allerdings hören können, mit seiner unverwechselbaren Stimme, so laut sogar, dass es ihm durch Mark und Bein gegangen war.
Draußen vor der mächtigen zweiflügeligen Türe war er mit seiner Dienerschaft, die in livrierten Uniformen einherging und durch demonstrierte Gleichgültigkeit Pablo gegenüber die Geringschätzung seiner Person mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, hart ins Gericht gegangen. Dies machte Pablo für sein Verhör, was anderes konnte auf ihn nicht warten, noch unsicherer.
Was Sion de Albanez da laut schimpfend äußerte, überhörte er, wie wenn in seiner Furcht alle seine Kanäle zur Welt verstopften. Der wachsende Druck in ihm war das einzige, was ihm bewusst wurde. Das Geschrei seines Herrn ging ihn einfach nichts an. Werk einer einsilbigen Erziehung. Und so nahm er auch nicht auf, dass es um ihn ging, um ihn, den bedeutungslosen, alten Fischer in seinen Lumpenkleidern.
Pablos Blick irrte unsicher durch den weiten, mit fein geschliffenem Palisanderholz getäfelten Raum, der mit Bodenfliesen aus weißem Marmor von Ronda ausgelegt war, streifte die wertvollen Tapeserien, die Perlenstickerei, die unter das Glas des vor ihm stehenden Rundtisches eingelassen worden war, vermochte ob aller Fremdheit an nichts festzumachen und heftete sich dann an das kleine Stück Meer, an die große Vertrautheit, die er beim Blick aus dem Fenster auszumachen in der Lage war.
Dort draußen war die Freiheit. Immerwährende Verbundenheit, die ihn wärmte, auch wenn das ihn zeitlebens ernährende Wasser sich ein einziges Mal zum schlimmsten Feind aufgeschwungen und er ihm lange, lange Zeit mit stillem Vorwurf und großer Bitternis in der Seele gegenüber gestanden hatte. Und doch hatte seine Seele aus dem Hass herausgefunden und Liebe und Vertrauen zurückerhalten.
Das Meer war wie das Leben … es musste ihm alles im ewig harten Kampfe abgetrotzt werden. Doch ohne das Meer gab es für ihn kein Leben und kein Überleben.
Unvorstellbar, an einem anderen Ort weit weg von ihm und dieser Küste, der Küste des Lichts, das Dasein sichern zu müssen, unvorstellbar, es nicht mehr in seinem Blick und in seinem Gehör zu haben und seine raue, salzhaltige Luft nicht mehr in seinem Gesicht zu spüren. Das Meer hatte Macht. Es hatte auch Macht über ihn und bestimmte ihn tagein, tagaus, von früher Kindheit an bis gewiss zu seinem letzten Tag. Trotz seiner Mächtigkeit aber stand es für ihn fühlbar in der Macht einer noch viel größeren Gewalt.
Nein, die See hatte ihm nicht Frederico genommen. Dahinter steckte eine größere Macht, ein anderer Wille.
So seine mühsam mit der Zeit gefundene Erklärung, die es ihm gestattete, an ihrer kargen Küste weiterzuleben.
Endlich hatte Sion de Albanez den abgekühlten Raum betreten. Hatte schon sein Erscheinen die Bedrückung, die Pablo verspürte, noch einmal gesteigert, so ließ der Herr durch sein weiteres Verhalten die Anspannung nahezu unerträglich werden.
Er ging, ohne von ihm Notiz zu nehmen, zum Fenster, nahm ihm Sicht und Licht und schaute eine Ewigkeit schweigend nach draußen. Pablo fühlte sich so unwohl wie selten in seinem Leben zuvor.
Warum redete sein Herr nicht mit ihm? Er wusste doch um seine Anwesenheit in dem Raum.
Wieso musste dieser hochgeborene Mensch sich überhaupt mit ihm einlassen? Pablo suchte nach einer Erklärung und fand den Mangel, warum keine Worte an ihn gerichtet wurden, allein bei sich.
Er war ein Nichts, ein Niemand. Mit solchen Leuten verkehrten die Edlen nicht. Die Erfahrungen in seinem Leben bestätigten das.
Noch nie hatte Sion de Albanez persönlich mit ihm gesprochen. Wenige Befehle nur, aus der Distanz an ihn und andere gleichsam gerichtet, mehr war für ihn nicht in all den Jahren über die Lippen seines Herren gekommen.
Der geringe Wert seiner Person, den herauszustellen Sion de Albanez eindrucksvoll verstand, ließ Pablos Kopf nach unten sinken.
»Warum hat er seinen Herrn nicht längst unterrichtet? Soll er nicht sagen, er hätte nichts gewusst und geahnt!«
Nach langen Minuten des Schweigens waren endlich die ersten Worte gefallen.
Die harte Stimme von Sion de Albanez schnitt ihm ins Fleisch. Pablo spürte, dass keine Antwort von ihm verlangt war, und wartete auf die Anklage.
»Hat sein Herr nicht immer Geduld mit ihm geübt? Haben er und sein Vater ihm über all die Jahre hinweg nicht die Gnade erwiesen, sein Nichts von Leben ihrem Schutz anheim zu stellen? Sag, ist er sich nicht darüber bewusst, sein Dasein durch diesen ungeheuren Vertrauensbruch verwirkt zu haben?«
Fragen auf Fragen ohne die Not der Erwiderung, jene Not aber schürend, dass sein Leben in Gefahr geraten war. Pablo hatte seinen Kopf gehoben, vermochte aber nicht dem Blick von Sion de Albanez standzuhalten.
»Wer steckt mit im Bunde? Auch diese räudige Kreatur, die dein Freund sein soll … dieser Luis?«
Sion de Albanez zeigte sich darüber unterrichtet, wer zu den Menschen gehörte, die Pablo nahe standen. Endlich regte sich in ihm der Wille, das Wort zu ergreifen, doch Sion de Albanez erstickte schon das erste auf seinen Lippen.
»Du musst mir keine Lügen verkaufen! Also schweig! Ich weiß, wer dein schändliches Tun unterstützt hat.«
Sion de Albanez wandte sich von Pablo ab, nur den Geruch von süßem Parfum, das seinen Körper umgab, ihm hinterlassend, durchschritt den Raum und postierte sich wieder am Fenster, den Blick nach draußen gerichtet. Es war an der Zeit, dass er seinen Plan in die Welt entließ. Noch einmal durchdachte er ihn.
»Weißt du, wo Luis steckt? Und hüte dich, mir Unwahres zu berichten!«
Pablo wusste nichts über den Verbleib seines alten Freundes zu sagen. Seit sechs Tagen hatte er ihn nicht mehr gesehen. Er sei auf der Suche nach seinem Sohn, hatte man ihm hinter vorgehaltener Hand gesagt. Pablo konnte das nicht glauben. Sein alter Freund wäre nie auf diese Suche gegangen, ohne ihn in diese mit einzubinden. Große Sorge erfüllte ihn aufgrund seines Ausbleibens.
Das Drohende, zwei ihm so nah stehende Menschen zu verlieren, und noch dazu in so kurzer Zeit, war das Erlebnis der Hölle in irdischer Zeit. Und was war mit Luis Sohn, mit Joaquin?
Genau diese Frage hatten sich die von ihm bestellten Häscher und hatte sich dann auch Sion de Albanez im Zuge seiner Suche nach dem Kind gestellt. Er hatte Luis, diesen gemeinen Hund, bespitzeln lassen, damit dieser ihn womöglich zu dem Versteck von Gabriel führte.
Luis war alt, aber noch voller Kraft. Und ein Unruhegeist dazu. Und der Freund von Pablo. Sofort hatte Sion de Albanez den Verdacht gehegt, dass er was mit der gewaltsamen Befreiung von dieser schattenlosen Ausgeburt des Teufels zu tun haben könnte.
Luis gleichwohl hatte sich unauffällig verhalten, war seiner Arbeit nachgegangen und nicht auf ungewohnten Wegen unterwegs gewesen. Auch hatte er zur Vermeidung jeglichen Argwohns für sich entschieden, in der ersten Zeit nicht zu Pablo zu gehen und mit ihm zu reden, obwohl er ihm so viel zu sagen gehabt hätte und den Freund wissen lassen wollte, dass er ihm beistand.
Seine mit der Überwachung beauftragten Leute hatten aber Luis Sohn Joaquin ein, zwei Tage nicht zu Gesicht bekommen und ihren Herrn entsprechend informiert.
Jetzt war der junge Mann noch immer nicht zurückgekehrt und dazu waren Luis, sein Vater, und auch der Junge nicht mehr da.
Sion de Albanez war nicht länger mehr rastlos und suchend. Er verspürte grimmige Genugtuung. Die Geschehnisse der vergangenen Tage hatten sich ganz in seinem Sinn vollzogen. Doch wegen der verräterischen Umtriebe saß ihm noch tiefer Groll in der Brust.
Pablo hatte er nicht zur Aufklärung, sondern zum bloßen Schein einbestellt.
Was den Verbleib der Vermissten anbelangte, wollte er ihn über seine Ratlosigkeit nicht im Unklaren zu lassen. Sollte ihn in den Reihen dieser Gemeinen ja keiner bezichtigen können, etwas mit dem Verschwinden dieses unliebsamen Gesindels zu tun zu haben. Alle Mutmaßungen gehörten im Keim erstickt.
So fragte er mit beschwörender Mimik, wo der Junge, den er als den leibhaftigen Teufel bezeichnete, und seine Verbündeten abgeblieben waren, genau wissend, dass nur er die Antwort kannte.
Pablos Andeutung eines Achselzuckens und sein weitergehendes Schweigen waren der Auslöser von neuerlichen Wutausbrüchen seines Herrn.
»Glaub er mir ja nicht, dass er so davon kommt!«
Sion de Albanez erging sich in wüsten Drohungen, die den endgültigen Zusammenbruch von Pablos Welt ankündigten, in weiteren in den Raum geschleuderten Fragen, auf die keine Antwort erwartet wurde, und schließlich in gereizten langatmigen Ausführungen ob der von Herrschern wie ihm so oft schon geübten Gnade und der nicht auslöschbaren Undankbarkeit aller Generationen von Untergebenen. Es war eine rigorose Abrechnung mit dem niederen Stand, mit Pablo insbesondere, ein Schuldspruch, dem allein die Verhängung tödlicher Strafe entsprechen konnte.
Endlich hatte sich Sion de Albanez sichtlich verausgabt, war er an die Stelle gelangt, wo eigentlich alles zum Erreichen des Zieles gesagt war, wo nur noch das weitere Vorgehen zu skizzieren war, um seinen Triumph, seinen Sieg über Verrat und Niedertracht, vor der nachfolgenden Tat schon zu vollenden. Pablo spürte, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Sein Zerreißen schien unausweichlich.
Wenn er jetzt nichts unternahm und seinen Herrn die weiteren Worte, die zu erwarten waren, formen ließ, würde es zu spät sein.
Eine einzige Karte hatte er noch. Aber er zweifelte, ob sie zum Vorteil gereichen konnte. Es würde der Versuch sein, der Rätselhaftigkeit, die Gabriel umgab, den Mantel einer göttlichen Bestimmung umzuhängen.
Pablo kramte in ungewohnt schneller Abfolge seiner Bewegungen aus dem Umschlag seiner Kutte den abgegriffenen Lederbeutel mit den Oliven und dem Papierfetzen, den er so oft schon hervorgeholt hatte, ohne die darauf vermerkte Botschaft jemals in sein Verständnis aufnehmen zu können.
Ein kleines inzwischen vergilbtes Paperstück mit einer Schrift darauf, die, so geschwungen und flüssig sie war, von einem geübten Schreiber stammen musste. In das kleine Bastkörbchen, in dem sie Gabriel aufgefunden hatten, als Beigabe gelegt.
Er hielt das Stück Papier seinem Herren entgegen.
»Diese Worte hatte er bei sich.«
Wer damit gemeint war, bedurfte keiner Erklärung.
Die Miene von Sion de Albanez drückte Befremden aus. Einen Moment lang wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Dann riss er den Fetzen Papier an sich. Pablo hatte den Blick wieder gesenkt und wünschte sich ein Wunder herbei.
Augenblicke der Stille. Die Zeit schien stillzustehen.
Endlich schaute Pablo auf. Was er sah, machte ihn in dem einen Moment noch stutzig und jagte ihm in dem nächsten einen tiefen Schrecken ein. Die Bestürzung im Gesicht seines Herrn, das Unvermögen, die Herrschaft über sich zu behalten und die Anklage fortzusetzen oder das Urteil zu sprechen, das Zittern seiner noch weißer gewordenen Hände bis dass noch nicht einmal das Papierstück von ihm zu halten war und dieses zu Boden fiel, nein, damit hatte er nicht gerechnet.





