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»Woher …?«
Sion de Albanez fand nicht zu weiteren Worten. Mühsam stützte er sich mit einem Arm auf den Schreibtisch und langte nach dem Glöckchen, welches alle Worte ersetzte.
Ein mächtiger Hieb musste ihn getroffen haben. Pablo hatte keine Erklärung dafür.
In einem Augenblick noch der Allgewaltige, der Herr über Leben und Tod, und im nächsten schon von dem ersten weltenweit entfernt.
Selbst das kraftlose Läuten wusste die Dienerschaft von Sion de Albanez zu befleißigen. Sofort tauchten mit gespreizten Gesten zwei seiner Männer auf, um jeden Befehl ihres Herrn entgegenzunehmen und aus seinem Wollen Wirklichkeit werden zu lassen.
Mit einer Handbewegung deutete Sion de Albanez an, dass er Pablo nicht mehr in seiner Gegenwart duldete. Seine Männer fassten den alten Mann stumm an, bereit, ihn fortzubringen. Doch Pablo setzte sich zur Wehr und befreite sich aus ihren Griffen. Er beugte sich zum Boden hinunter, nahm den Zettel auf und packte ihn wieder in den Lederbeutel. Dann stand er seinem Herrn gegenüber. Er wagte es nicht, ihn anzusehen, und nahm Demut an.
Sion de Albanez gab seinen Männern ein weiteres Mal das Zeichen, Pablo wegzubringen. Dann sah er ohnmächtig zu, wie seine Anweisung erfüllt wurde.
Die Männer hatten keine augenblickliche Order erhalten, was sie im Weiteren mit Pablo tun sollten. Als er nach draußen vor die Eingangspforte gebracht worden war und die Tür sich hinter ihm schloss, hätte er sich denken können, dass dies vorher schon bestimmt sein musste. Pablo aber war verwirrt und hatte tausend Gedanken und hatte keinen. Auch wusste er im Moment nichts mit seiner wieder gewonnenen Freiheit anzufangen. Er ging ein paar Schritte von der Eingangspforte weg, blieb stehen und drehte sich um, Ratlosigkeit in seinem Blick.
Er hatte nicht die geringste Erklärung für das Vorgefallene.
Sion de Albanez saß gebückt mit kaltem Schweiß auf seiner Stirn an seinem Schreibtisch. Der Schock, der ihm eingefahren war, hatte ihn nahezu bewegungslos gemacht. Seine Körperhaltung war gebrochen.
Die neue Zeit hatte schon angefangen, etwas Ungeheuerliches steuerte unaufhaltsam auf ihn zu.
Der Schlund der Hölle hatte sich zu öffnen begonnen, um ihm das Los des Untergangs zuteilwerden zu lassen, und er, er wusste nicht, wie seinem Schicksal zu entkommen war.
Die Worte auf diesem Papierfetzen, wer konnte sie nur verfasst haben?
Diese eine Frage, immer wieder formulierte sie sich auf seinen Lippen.
Wer hatte diese Worte geschrieben? In wessen Sinn nur war dieser geheimnisvolle Satz eingedrungen.
Woher stammte das Papier? Wie nur hatte es in diese Welt finden können? Wie hatte dieser ärmliche alte Mann es in seine Hände bekommen?
Diese Worte hatte er bei sich.
Sion de Albanez dachte an Pablos Äußerung. Wie aber konnte es sich zugetragen haben, dass dieses schattenlose Teufelskind zusammen mit diesem Papierfetzen in das Haus des Fischers gekommen war?
Die Worte, die auf ihm standen, waren Jahre vorher gesprochen worden.
Worte, die nur er vernommen und an niemand weitergegeben hatte.
Worte, die ein einziges Rätsel waren, welches zu lösen er sich nicht im Stande sah.
Worte, die nicht zu seinem Vater passten.
Worte, die nicht im Angesicht des Todes zu sprechen waren.
Und doch war es geschehen. Und doch hatte sein Vater sie gesprochen. Und auch waren es die letzten Worte, die er vor seinem Tode sprach.
Leise, aber klar verständliche Worte … wie ein schleierhaftes Vermächtnis ihm mit auf den Weg gegeben, während er noch darauf harrte, dass ihm eine ehrenvolle Aufgabe aufgetragen wurde.
Seinem Nachfragen, Unverständnis darüber ausdrückend, was das Gesagte betraf, war nur noch Schweigen gefolgt.
Nein, diese Worte würde er nie vergessen.
Und jetzt hatte er sie gelesen, in einer Handschrift, die er nicht kannte, Wort für Wort in der Reihenfolge, wie sein Vater sie auf dem Totenbett gesprochen hatte. Gelesen auf einem zerfransten, aus einem Brief heraus gerissenen Papier, welches ein alter bedeutungsloser Mann mit sich herumtrug.
Es gab sie also doch – konnte es einen Zweifel nur geben? –, diese Verbindung, um die er lang schon ahnte, die er aber nicht wahrhaben wollte und die nie in das Wissen aller reifen durfte.
Der Teufel musste seine Hand im Spiel haben.
Allmählich dämmerte es Sion de Albanez, dass er Pablo nicht hätte gehen lassen dürfen.
Was würde sein, wenn er überstürzt aufgebrochen war, um sein Heil in der Flucht zu finden? Wenn seine Männer ihn nicht wieder einfingen, würde er nie etwas über die Herkunft dieses Papiers erfahren.
Eigentlich hatte er Pablo nur schärfste Strafe androhen und ihn dann laufen lassen wollen. Die Menschen sollten zu hören bekommen, dass er, der Herr von Albanez, nicht mehr als sie über den Verbleib der Verschwundenen zu berichten wusste.
Kraft seiner Geburt war er ihnen keine Antwort schuldig. Aber er wollte es auch vermeiden, dass im Volk Gerede aufkam. Über die ganze Geschichte würde, wenn niemand der Verschleppten mehr auftauchte, und dafür wollte er sorgen, nach bestimmter Zeit Gras wachsen.
Jetzt aber bekamen sie vielleicht zu hören, dass ein einziger Satz auf einem vergilbten Papier ausgereicht hatte, ihn, den hohen Herren, der Schwäche und der Furcht auszuliefern.
Er musste Ordnung schaffen, musste zeigen, wer oben und wer unten stand.
Ein sich einstellender Sinneswandel, dem die entsprechenden Taten folgten.
Noch am Nachmittag wurde Pablo auf den Marktplatz geschleift, dort an einem Strafgerüst festgebunden und ausgepeitscht.
Erklärungen hierzu gab es nicht. Eine Tat der Einschüchterung auch.
Pablo würde niemand mehr erzählen wollen, dass er im Herrenhaus gewesen war und wie sein Besuch dort verlaufen war. Er hatte seine Lektion gelernt und wusste, dass sein Leben einzig von der Gnade des Herrn abhing. Er hätte ihn auch totschlagen lassen können und wäre doch für sein Tun nicht zur Rechenschaft gezogen worden.
Also würde kein Wort über seine Lippen kommen.
Und niemand von denen, die Pablo nahestanden, würde an ihn herantreten, um die Hintergründe zu erfahren, weil die Gefahr, sein Schicksal zu teilen, spürbar war.
Sion de Albanez lag nicht verkehrt in seiner Einschätzung.
Pablo schleppte sich aus eigener, wenn auch gebrochener Kraft mühsam nach Hause. Mit jedem Peitschenhieb hatte sich das Gebot des schweigen müssen in ihm eingebrannt.
Die Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten und die der erbärmliche Zustand des alten Fischers nicht kalt ließ, äußerlich aber kalt lassen musste, wichen ihm aus und nur Margarita, die zu Hause mit größter, kaum auszuhaltender Sorge zugewartet hatte, lief ihm stumm und mit Tränen in den Augen aus dem Haus heraus entgegen und legte den seinen linken Arm über ihre Schulter, um ihm behilflich zu sein, den Rest der Strecke zu bewältigen.
Nur eine Denkpause hatte Pablo eingeräumt bekommen.
»Morgen erzählst du uns alles, was du weißt!«, rief der verhasste Juan ihm nach.
*
Die Schläge spürte auch er in seiner Seele. Er spürte sie so deutlich, dass sie ihm körperliche Schmerzen bereiteten. Auch die Leiden aller sonst mit ihm verbundenen Menschen hatten ihren Weg zu ihm gefunden, über alle Entfernung und über hohe, undurchdringbare Mauern hinweg.
Er stand mit der Welt, mit seiner Welt, in Verbindung und ihre jetzige Not war seine und aus seiner ersten, so unvermittelt hereingebrochenen, war die ihre erst heraus geboren worden.
Leben, welches auf allen Wegen und an allen Plätzen dem Untergang entgegen zu gehen schien, das Leben in dem kargen Raum, der seine erste Heimat war, das Leben in den dunklen Löchern des Gefängnisses unweit von ihm und das Leben, seines, hier in diesem Gemäuer, welches zwei Tagesreisen entfernt von seiner Heimat lag.
Er hörte in die Dunkelheit hinein, in dieses zeitlose Nichts, schaute auf den blinden Spiegel seiner Seele und vernahm nicht einmal seine eigene innere Stimme. Seine Sinne, so weit sie auf diese aufgelöste Gegenwart gerichtet waren, betäubten sich an seiner Ohnmacht. Augen, in die ein spärlicher Rest an Licht floss, die an seelenlosen Konturen festmachten, ohne bewusstes Erleben.
Allein die Schmerzen, die ihm aus der Ferne her zuteil wurden, erlebte er bewusst und sie steigerten sich in seiner Ohnmacht.
Jedes Tun wäre ein Schritt zur rettenden Gegenwehr gewesen, hätte Hoffnung geschaffen und dem Mut das Tor geöffnet, zu dem auch aller Schmerz hätte hinaus eilen können. Doch die Verurteilung zum nicht enden wollenden Ausharren, das Anketten seiner kindlichen Seele an die Trostlosigkeit des Nichtstunkönnens, riss ihm nur noch größere Wunden. Selbst der standhafteste Mann, auch ein alter Greis ohne einen Anspruch noch an die Welt, wären in dieser Lage ihrer Verzweiflung entgegengeeilt.
Und wie nur sollte ein Kind hier eine lediglich begrenzte Zeit allein seinem Schicksal trotzen können? Minute um Minute, wie Stunden zu empfinden, Stunde um Stunde, wie Tage sich ziehend, und Tag auf Tag einer unerträglichen Ewigkeit zugleich verging die Zeit, dem Stillstand nah.
Aber die Zeit war fern von jeglichem Stillstand, sie hatte sich erhoben, um die Geschehnisse aneinander gereiht in den großen Fluss des Schicksals zu bringen. Und der Lenker des großen Flusses arbeitete ihm, diesem scheuen, aber angstlosen Knaben, zu und nicht gegen ihn. Die Bestimmung, die er für ihn erwählt hatte, sollte sich auf das Schicksal der Menschen auswirken. Begegnungen nah und zugleich fern aller Schattenwelt, Begegnungen im Lichte einer höheren Wahrheit, die sich gerade auch den Ärmsten erschließen sollte.
Die Geschicke hatten es eingerichtet, dass im Nachbarlande Spaniens, auf einer Insel, die den Namen Korsika trug, einige Jahre vor Gabriel ein Junge geboren worden war, von dem die Welt früh schon zu hören bekommen sollte, und der die alten Konstellationen mit ihren großen Ungerechtigkeiten angehen und überwinden und dabei doch nur andere Ungerechtigkeiten in die neu von ihm geformte Welt setzen würde, die einen Flammensturm an Gegenwehr entfesseln sollte, der sich endlich zu seinem eigenen Schicksal auswachsen würde.
Und Gabriel, er wuchs dafür heran, in seinem Lande, an den Küsten des Mittelmeeres und des großen Ozeans, in den heißen Landschaften im Inneren, in den großen und kleinen Städten und in den viel tausenden Dörfern des Reiches seiner stolzen Väter dem Licht und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
In den frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte die Welt nichts geahnt von dem großen Blutvergießen, welches auf sie wartete, nichts geahnt von Revolutionen und Schlachten und Befreiungskriegen, die die Menschen, egal welchen Standes, heimsuchen sollten und ihrem armseligen oder feudalen Leben vielfach ein Ende setzen würden, alle Ordnung über den Haufen werfend und ein niemals so da gewesenes Verlangen nach Freiheit gebärend. Nun schwärte in Frankreich die Revolution, das große Räderwerk hatte zu laufen begonnen. Aber in Spanien herrschte weiter die alte Zeit.
Gabriel, er würde erst seine eigene Knechtschaft überwinden müssen, ehe er mit dafür einstehen konnte, sein Vaterland aus der Knechtschaft zu entlassen.
Prüfungen, die für drei Leben ausgereicht hätten, standen an.
Erst musste er sie bestehen, um sich für die letzte große Prüfung wappnen zu können.
Ein von einem fernen Licht geleiteter abenteuerlicher Ritt auf schmalem Grat, von tiefen Abgründen umgeben.
*
Hier am Ende dieses dunklen Ganges würde er ihn finden.
»Bringt ihn nicht in die Nähe der anderen«, hatte der stets misstrauische Prior besorgt geäußert.
Es hatte selbst bei der Größe des Kartäuserklosters nicht lange gedauert, bis er den Verbleib des Jungen herausgefunden hatte.
Vor kurzem noch war der Zugang zu dem Ort nur ein dunkles, durch Spinnweben verhangenes Loch gewesen, jetzt waren die Spinnweben weg und im vorderen und hinteren Bereich des schmales Ganges, über den man zu den Zellen des früheren Gefängnisses, des Klosterkarzers, gelangte, brannten Fackeln, sichtbares Zeichen dafür, dass der Gang ständig aufgesucht wurde.
Eine Sichtbarkeit der anderen Art war, dass der Schein der Fackeln nicht den kleinsten Schatten auf der Wand, an der sie hingen, abmalte. Ein Licht der Reinheit. Ein heiliges Zeugnis, zu wem dieses Licht den Weg doch bahnte.
Doch die Schergen in ihrem weißen Habit mit dem ebenso weißen, die Schultern bedeckenden Skapulier, gingen achtlos vorbei, wie wohl die Menschen an tausenden von Wundern in ihrem Leben achtlos vorbeigehen.
Die Zellen waren weit abgelegen, und jeder Schrei in ihnen erstickte ungehört.
Früher hatte man die Zellen neben der Bestrafung auch dafür benutzt, sich der Präsenz der Brüder, die im Geiste arm geworden waren, zu entledigen. Gottes Herrlichkeit duldete im Verständnis seiner so unvollkommenen Diener keinen offenkundigen Fehler in seiner Saat. Die letzte Inanspruchnahme eine dieser Zellen lag aber einige Zeit zurück, so dass viele Novizen noch nie von ihrer Existenz gehört hatten.
Selbst jetzt wurde es fast niemandem bekannt, dass ein neuer Insasse, ein in der Heimlichkeit der Nacht dahergebrachtes Kind sich dort aufhielt. Gottes Wahrheit wurde in hohen Gesängen gepriesen, aber selbst in diesen heiligen Mauern beherrschte ein kaltes Schweigen die Menschen. An wenigen Menschen aber, die mit der Sorge für das Kind betraut waren, konnte die Wahrheit nicht vorbeigehen und von einem von ihnen hatte auch er sie erfahren.
Doch auch noch andere Diener Gottes, die dem Kloster nicht angehörten, verhaftet in ihrer blinden Suche nach allem Frevel der Gotteslästerung, waren informiert und hatten sich auf den Weg gemacht, um dem fortwährenden Treiben des Teufels in dieser Welt ansichtig zu werden und ihm grausam Einhalt zu gebieten.
Er musste handeln, wissend um die Stunde ihrer Ankunft. Gott ließ kein Wunder geschehen, damit es an diesem Platze christlicher Einöde verdorrte und endlich gar unter Folter und Bestrafung ausgemerzt wurde.
Sein ganzes Leben hatte er Befremden darüber verspürt, dass unter dem Deckmantel der Gottesliebe und unter Unterdrückung aller Liebe zu den Menschen in ihren Herzen durch die eigentlichen Antichristen, die sich in feine Gewänder hüllten, um der Reinheit ihres Tuns Ausdruck zu verleihen, unschuldiges Blut vergossen wurde.
Blut in solcher Menge, dass es endlos aus den Himmeln hätte regnen und in wahren Sturzbächen hätte daherströmen können.
Sein Glaube hatte lange Zeit darunter gelitten, welch eine Ohnmacht seines Herrn, doch dann eines Tages, den er bis in die Gegenwart pries, war es ihm bewusst geworden, dass Gott ihm die Augen geöffnet und ihn dazu erkoren hatte, gegen die gottlose Aggression im Zeichen des Kreuzes vorzugehen.
Zwölf Jahre waren seit seinem ersten Tun vergangen. Und er war in der ganzen Zeit noch nicht von den Mächten des Bösen in seinen eigenen Reihen ergriffen worden. Gott hielt schützend seine Hand über ihn und über all die, denen er hatte helfen können.
Und in dem Glauben, dass er und Gott ein festes Bündnis miteinander eingegangen waren, würde er um das Heil aller armen Seelen willen und auch um das Heil seiner eigenen Seele willen den eingeschlagenen Weg fortsetzen und im Stillen Rettung bringen, wo immer es ihm möglich war. Und vielleicht bediente Gott sich auch vieler anderer Helfer, um diesem groß und hinterhältig angelegten Werk des Teufels, nichts anderes war es in seinen Augen, entgegenzuwirken.
Und wenn er vielleicht schon lange nicht mehr war, konnte eine neue Zeit anbrechen, die dem dämonischen Treiben ein Ende setzte und endlich Vernunft in die Welt einströmen ließ. Licht für eine Welt, in welcher der Glaube eines jeden, und war er noch so gering von seinem Ansehen her, geachtet sein würde und in der einem Wunder wahre Göttlichkeit innewohnte und in ihm nicht ein Zeichen Satans gesehen wurde. Nieder mit der Herrschaft dieser grausamen Tyrannen, die von Gott berufen zu sein nur vorgaben und aus ihren vergifteten Herzen heraus für ein gutes Denken zum Wohle der Menschen kein Fundament besaßen.
Bruder Manuel hatte lange schon überlegt, wie und wann sein Werk zu verrichten war.
Es galt, sich unter einem Vorwand Zutritt zu der Zelle zu verschaffen, in welcher man den Jungen untergebracht hatte, um herauszufinden, in welcher Verfassung er war und ob er, falls seine kindliche Seele nach Freiheit verlangte, überhaupt körperlich in der Lage sein würde, einen Schritt vor den anderen zu setzen und das nicht nur so lange, bis er das Kloster, dieses weltabgewandte Bollwerk des Bösen, überwunden und hinter sich gelassen hatte, sondern für lange Zeit weiter, bis er endlich, vielleicht erst nach Jahren, eine sichere Zuflucht erreicht hatte.
Oft schon, das war seine Erfahrung gewesen, waren die Bedingungen allein, unter denen die in Verdacht Geratenen bis zu ihrer peinlichen Befragung festgehalten wurden, so lebensfeindlich, dass sie schon dauerhaft an ihrer Gesundheit Schaden genommen hatten, und alles Weitere mehr eine Erlösung als ein Richten und Vollstrecken war.
An einem Abend endlich schien die Zeit gekommen zu sein. Bruder Benicio, für die Gesundheit der Mitbrüder an diesem Ort in die Mission berufen, weilte, was für einen Brudermönch der Kartäuser höchst ungewöhnlich war, in einem aussichtslosen Unterfangen für zumindest eine Nacht außerhalb der Mauern, um einem im Sterben liegenden Grundherren mit seinem Wissen zwar keine heilende Hilfe mehr, aber doch christlichen Beistand und eine letzte Linderung der Schmerzen zu gewähren.
Und er, der Gehilfe von Bruder Benicio, in all den Jahren seiner Zugehörigkeit zu diesem Kloster über seine mitgebrachten Kenntnisse hinaus noch weiter unterrichtet über die Misslichkeiten, denen der Körper und der Geist eines Menschen anheim fallen konnten, und wie ihnen zu begegnen war, genoss als Vertreter das begrenzte Vertrauen seiner Mitbrüder.
Eine geraume Zeit, nachdem das aus einem Stück schwarzen Brot, einer kaltwässrigen Gemüsesuppe und etwas Wein bestehende karge Abendmahl an alle Brüder zum gemeinschaftslosen Verzehr, so auch an den Jungen in seiner Zelle, ausgegeben worden war, setzte er ein besorgtes Gesicht auf und seine Planung in die Tat um.
Die ihm inne sitzende Aufregung nicht in seine Bewegungen und seinen Ausdruck münden lassend erschien er bei der Wache, die in dem dunklen Winkel des Klosters eher gelangweilt auf ihre Ablösung wartete.
»Bruder, es ist mir zugetragen worden, dass die Gesundheit des Kindes, welches ihr hier beaufsichtigt, Schaden genommen hat.«
»Wie, was? – Wer hat euch das gesagt?«
Die Frage war weniger darauf gerichtet, wer davon erzählt hatte, dass der Junge krank geworden sei, sondern mehr darauf, wer sich überhaupt über seine Existenz ausgelassen hatte.
Bruder Manuel bemerkte den Argwohn und musste, damit seine Absichten nicht durchkreuzt wurden, ihm rasch entgegenwirken.
»Zur Unterstützung des Werks von Bruder Benicio ist es meine heilige Aufgabe, in Demut und Gewissenhaftigkeit die Gesundheit und den Geist aller hier befindlichen Kreatur in Beobachtung zu halten. Und eben, da ich im Vorbeigehen an der Küche vernahm, dass das hier befindliche Kind, das eurer Aufsicht untersteht, einer Krankheit, vielleicht auch nur einem bald wieder endenden Unwohlsein anheim gefallen sei, richtete ich meine Schritte gen diesen Ort, um meiner Verantwortung gerecht zu werden.«
Die Wache seufzte auf, bedeutete Bruder Manuel mit einem Handzeichen zu warten, schloss die Tür zur Zelle auf, hielt noch einmal inne, um die Sache zu bedenken, warf einen Blick hin zu dem Kind, zwei Schritte noch näher gehend, um sich über seinen Zustand ein Bild zu machen.
Die Stille in dem Raum, der Umstand, dass der Junge sich ruhig verhielt und nicht den Kopf erhob, um sich Gewissheit über den Besucher zu verschaffen, sondern unablässig die Decke anstarrte, wie er es in dem Halbdunkel schwach bemerken konnte, ließ den Mönch Unheil erahnen. Vielleicht würde der Prior, wenn mit dem Jungen tatsächlich etwas nicht stimmte, ihm eine mangelnde Aufsicht vorwerfen und ihn zur Rechenschaft ziehen.
Die Angst ob der Gerüchte, dass das Kind dem Teufel verfallen sei, die ihn weitestgehend von der Tür zur Zelle weg gehalten hatte, sie konnte er unmöglich eingestehen. Auch würde sie ihn nicht von Schuld befreien.
»Bruder, schau selbst, aber rasch!«
Bruder Manuel ging entschlossen in die Zelle hinein, beugte sich über das faulig werdende Strohlager, auf dem das Kind lag, fasste es in den Blick und signalisierte ihm mit dem Ausdruck seiner Augen, dass Hilfe zu erwarten war.
Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand fuhr er Gabriel über die Lippen, um ihm zu bedeuten, sie geschlossen zu halten und kein Wort an ihn zu richten.
Die Handbewegung, die einem kritischen Blick der Wache ausgesetzt war, ließ sich mit der Prüfung des Zustandes des Kindes erklären, diente aber entscheidend der Verwirklichung seines Plans.
»Der Junge ist fast ausgetrocknet. Seine Lippen sind spröde und hart. Schnell, holt frisches Wasser herbei!«
Die Wache war unsicher, aber nur einen Moment lang. Der Gedanke, Bruder Manuel nach draußen zu bitten und die Zelle während seiner Abwesenheit verschlossen zu halten, war rasch verworfen.
»Wartet hier, Bruder Manuel! Ich bin sofort zurück!«
Die Schritte, die sich rasch entfernten, waren bald nicht mehr zu hören.
»Hör mir jetzt zu, mein Junge! Wir haben kaum Zeit.«
Gabriel öffnete die Augen und sah die Anspannung von Bruder Manuel.
»Ich bin gekommen, um dir zu helfen! Wirst du in der Lage sein, dich von diesem Ort zu entfernen und mit Geduld all das auf dich zu nehmen, was der Weg, der für dich bestimmt ist, an Entbehrung bietet?«
Gabriel nickte schwach. Bruder Manuel schlug die klamme Decke zurück, unter der Gabriel lag, und prüfte mit wachen Augen den körperlichen Zustand des Kindes. Keine Misshandlung und keine Auszehrung feststellbar.
»Hör zu, Junge! Wir dürfen keine Zeit verlieren! Du musst schnellstens an einen sicheren Ort gebracht werden! Du wirst jetzt keine Nahrung mehr zu dir nehmen und nur noch Schmerzen haben. Wir müssen es schaffen, dass man dich in die Krankenstation verlegt. Alles Weitere findet sich dann.«
Gabriel begegnete Bruder Manuel mit wachem Blick und verschlossenen Lippen. Es waren keine Fragen nötig. Er wusste, dass ihm an diesem Ort Unrecht angetan wurde, und ahnte, dass die Ungerechtigkeit sich mehren würde, wenn er hier blieb.
Da er aber Gott vertraute und auf seine Gerechtigkeit baute, war es absehbar gewesen, dass Hilfe, auf welche Art auch immer, kommen würde.
Und jetzt war der Mensch da, durch den Gott ihm zur Seite stand. Was sollte er noch fragen? Er wusste um das, was er zu erwarten und zu tun hatte.
Die Wache hatte sich trotz aller Beleibtheit beeilt zurückzukommen. Schon waren Schritte zu hören. Eine kurze Weile noch, in der sich der Junge und Bruder Manuel schweigend im Blick behielten, dann waren sie nicht mehr allein. Bruder Manuel ging auf die Wache zu.
»Gebt mir bitte das Wasser, Bruder!«
Er ließ sich nichts anmerken, nahm den Krug an sich, setzte sich auf den Rand des Lagers und flösste dem Jungen etwas Wasser ein.
»Der Junge muss trinken! Werdet ihr künftig darauf achten wollen?«
Die Wache verspürte Unbehagen.
»Und wenn er einfach nichts zu sich nimmt? – Die ganze Zeit, nur eben gerade nicht, steht ein Krug voller Wasser hier neben der Tür auf der Erde. Es ist seine Sache, die Notwendigkeiten für sein Leben zu erfüllen!«
»Wenn ich euch darauf aufmerksam machen dürfte, Bruder: es ist auch unabdingbar eure Verpflichtung, die Notwendigkeiten zu erfüllen, um das Weiterleben des Kindes gewährleistet zu sehen.«
Kein Widerspruch. Die Wache konnte sich ihre Verantwortung ausrechnen.
Den Zusatz, den Bruder Manuel machte, hätte er sich sparen können.
Dieses Kind, das ein Werk des Teufels war und Zeugnis für seine Existenz abgab, war für die wichtigsten Menschen der Kirche von enormer Bedeutung, sehr wohl auch für die Vertreter der Inquisition, die er hier schon manches Mal zu seinem eigenen Erschrecken ihr Werk verrichten hatte gesehen und um deren Kommen er auch dieses Mal ahnte. So durfte ihm also zu seiner Verantwortung nichts geschehen und durfte es nicht vor der Zeit, ehe alle Wahrheit aus ihm herausgepresst war, vom Leben zum Tode hin scheiden.