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Und so es doch geschehen würde, konnte es ihm zum Vorwurf gereichen, mit ihm im teuflischen Bunde gestanden zu haben.
Nein, er brauchte wirklich keine Belehrung. Dass sie dennoch ergangen war, machte ihn noch unruhiger.
Bruder, du hast dich teuflischen Vergehens schuldig gemacht und die göttliche Offenbarung ob der Existenz Satans zu durchkreuzen versucht. Darauf steht die gleiche Strafe wie sie die Kreatur zu erwarten hatte, deren Natur du zu verschleiern gedachtest.
Derart konnte der Richtspruch der Heiligen Inquisition über ihn ergehen, wenn ihr verwehrt blieb, über das Kind zu richten, und sie nur noch seinen Leichnam in Augenschein nehmen konnte. Bruder Manuel blieb die Befindlichkeit der Wache nicht verborgen.
»Ich rate an, sollte der Zustand des Kindes sich nicht bessern, den Prior darum zu bitten, es auf die Krankenstation zu verlegen!«
Mehr sprach er nicht, um keinen neuerlichen Argwohn zu wecken. Ein Kreuz mit den Händen noch über dem Jungen schlagend erhob er sich und verließ die Zelle, das Kind sicher und die Wache unsicher zurücklassend.
*
Ein Missgeschick, ein gebrochenes Rad an dem von ihm benutzten Wagen, durch die immense Last der hölzernen Aufbauten zumindest mit bedingt, hatte sie zurückgeworfen. Die Reparatur ging nicht so schnell vonstatten, wie es sein Anliegen verlangte. Zwei der Soldaten, die ihn begleiteten, hatten erst Hilfe aus dem Dorf herbeischaffen müssen, das auf dem Wege vor ihnen lag. Stunden an wertvoller Zeit waren schon vergangen.
Die Sonne schien durch das Geäst der Steineiche, an deren Stamm er sich niedergelassen hatte, und brannte wie Feuer.
Aber schlimmer noch brannte die Glut der Ungeduld. Unablässig schoss ihm der Vortrag des Boten, von dem er vor Wochenfrist aufgesucht worden war, durch den Kopf. Der Teufel leibhaftig erschienen in der Gestalt eines Kindes, das keinen Schatten warf.
Konnte es einen besseren Beweis als diesen geben, dass überall dämonische Kräfte die von Gott gegebene Ordnung beseitigen und dem seelenlosen Fürsten der Dunkelheit den Weg zur immerwährenden Herrschaft auf Erden bahnen wollten?
Die Diener des wahren Herrn, zu denen auch er gehörte, sie mussten alle Tage, alle Stunden wachsam sein und durften weder ruhen noch sich blenden lassen und keinen Kampf scheuen, und sei es um das Opfer des eigenen Lebens. Es ging um das Heil der ganzen Christenheit, so auch um das seine, um das Heil seiner Seele und um das Seelenheil aller Aufrechten, es ging um den Einzug in die Seligkeit des Ewigen, um das Höchste, das ein Menschenleben erreichen konnte.
In diesen Dienst der heiligen Sache hatte er sich voller Überzeugung gestellt, vom frühesten Mannestum an bis eben jetzt zu dieser Zeit, die ihn als mächtigen und gefürchteten Diener für den wahren und rechten Glauben kannte.
Landauf, landab eilte ihm sein Ruf voraus, warfen sich die Gläubigen bei seinem Erscheinen in den Schmutz der Straße oder versuchten die Brüder und Schwestern des satanischen Bundes, diese elendigen Kreaturen, die wie Pilze aus der Erde sprossen, ihr Leben in der Flucht zu retten, um selbiges dennoch durch seine Entschlossenheit um aller Gerechtigkeit willen in den reinigenden, zum Himmel hin züngelnden Flammen einzubüßen.
In seinen glühenden Visionen sah er ein Feuer, das die ganze Welt überkam und sie von allem Unrat befreite. Nur wer den rechten Glauben in sich trug, der musste keine Angst in sich reifen lassen.
Ich, Alfonso de Torquemada, werde durch die Flammen gehen, aufrecht und sicher, und noch nicht einmal die Spitze meines Mantels wird versengt sein.
Alle anderen jedoch, dieses faulig eitrige Geschwür der Menschheit, diese Ketzer gegen den Herrn und seine einzig wahre Lehre, würden ausgebrannt und ausgemerzt werden.
O ja, es musste solch ein Feuer kommen, ein verheerender Sturm, der allem Unwerten das unverdiente Leben nahm.
Bis Gott diesen Feuersturm sandte, war seine Aufgabe aber noch nicht erfüllt und hatte er den Glauben, wie die Väter ihn seit Anbeginn lehrten, zu verteidigen und Härte gegen sich einzufordern, um alle ihm sich offenbarende Sünde auszulöschen und gleichsam auch die, die sie hervorbrachten.
Ein vom Mittelalter an schon über Jahrhunderte gehender Kampf der Kirche war zwar siegreich beendet worden.
Die Conversos, die Bekehrten, die nur zum Schein vom Judentum oder vom Islam zum Christentum übergetreten waren und im Verborgenen weiter ihre zersetzenden Kräfte einzusetzen gedachten, waren niedergeworfen worden oder hatten ihr unwürdiges Leben durch Flucht gerettet. Doch unverändert war das Böse ein Feind mit hundert Köpfen, hinterhältig sich verbergend und gierig sich vermehrend, eine gefährliche Wurzel, unaufhörlich aus der Erde sprießend und von der schwarzen Lust getrieben, das Gute an seinem Stamme zu packen und zu ersticken.
Überall trieb es sich um und lauerte es. Ein endlos langer Kampf weiterhin, der sich abzeichnete. Die Welt, sie war schlecht, noch immer fest in Satans Hand.
Er musste kämpfen und stürmen, musste für die heilige Sache ganze Städte und Landschaften in Blut tauchen und je mehr Schuldige er bekam, desto mehr wuchs die Gewissheit um den Beistand des göttlichen Herrn. Auch dieses Kind gehörte gerichtet um der Reinheit der Erde willen, die Gott den Menschen anvertraut hatte.
Aufgegangene Satansfrucht, ich werde Deine Fäulnis kenntlich machen und Dich zertreten.
Hass stieg in ihm auf. Hass gegen ein Menschenleben, das er erst in ein, zwei Tagen kennenlernen würde. Hass ohne Unterschied … selbst gegen ein Kind.
Hass in ihm geboren, ihm in ständiger Begleitung zusetzend und ihn und seine Sinne allmählich zersetzend.
»Beeil er sich«, rief er ungeduldig dem mit seinem Knecht an dem geborstenen Rad arbeitenden Wagner zu, »wenn er nicht auch noch brennen will!«
Das Ende der grausamen Despotie nahte, aber es nahte unmerklich und noch verrichtete der Inquisitor ungestört trotz fehlender päpstlicher Billigung seine Blutarbeit.
Doch neue Zeiten würden über das Land kommen, fremde Besatzer bringen und Altes in den Abgrund der Vergangenheit stoßen.
Seine heilige Arbeit, sie würde bald schon der Verdammnis ausgeliefert und unter Strafe gestellt sein. Das Schicksal würde es jedoch zum einen so gut noch mit ihm meinen, dass er den Anbruch der neuen unseligen Zeit nicht miterleben musste und sich nicht um sein Lebenswerk gebracht sehen würde. Zum anderen wartete es geduldig auf ihn, um seinem Leben mit besonderer Grausamkeit zu begegnen. Das, was er auszumerzen gedachte, würde sich aus dem Staub erheben und über ihn und über die fremde Macht gleichermaßen triumphieren und dem Volk die wahre Freiheit bringen.
Dafür aber musste jetzt und fortan das kleine Leben aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz ob der riesigen Mächte, die ihm gegenüberstanden, unversehrt bleiben. Ein Atemstoß des Schicksals nur, ein einziger, und das Licht dieses Lebens war erloschen und eine immerwährende Dunkelheit die Folge.
*
Gabriel wälzte sich in schweren Träumen. Auch wenn er nicht um sein Leben fürchtete, wie es fraglos hätte sein müssen, wenn er alles nach seinem Dasein Trachtende zu bedenken in der Lage gewesen wäre, so nahm doch die Veränderung, die neue Zeit, seine kindliche Seele, die Schöpferin seiner Traumwelt, gefangen.
Tagein, tagaus, auf Wochen schon von der Welt, von seinem gewohnten unbeschwerten Leben getrennt, um das Rätsel seiner Schattenlosigkeit weiter nicht wissend, das Gefühl des Bewachtwerdens bleiern auf ihm liegend, konnte er trotz seines ungebrochenen Willens und trotz der Hilfe, die so nahe war und der er sich sicher sein durfte, nicht unbelastet sein.
Was war aus Mutter und Vater geworden? Würde er sie noch einmal wiedersehen? Würde er sein Dorf noch einmal wiedersehen? Hier, wo er jeden Busch und jeden Winkel kannte, wo seine Kindheitsjahre trotz aller Armut und Entbehrung so verlaufen waren, dass er mit keinem anderen Jungen, und wäre sein Vater selbst ein König gewesen, hätte tauschen wollen.
Würde er je wieder mit seinen Freunden zusammen sein? Würden sie ihn wieder in ihren Kreis einlassen, mit ihm spielen und ihm ihre Freundschaft zurückschenken? Und wer hütete jetzt die Ziegen, mit denen er Tag für Tag über Stunden so gerne unterwegs gewesen war? Und ob ihr Nachwuchs schon da war?
In den Stunden und Tagen und Wochen seines Aufenthalts hier an diesem dunklen Ort sehnte er sich, obwohl er keine Zweifel hatte, dass alles sich zum Guten wendete, zunehmend nach der Freiheit.
Freiheit, wie sie ein an dieser Küste geborenes Kind verstand, der Welt an jedem Tag, in jeder Minute gar, neu begegnen zu dürfen, neu erworbenes Wissen, neue Erfahrungen und Empfindungen in seine so offene Seele einzuspeichern und sie mit dem gleißenden Licht, das während des Tages aus dem weit gespannten Himmel unaufhörlich floss, dem unduldsamen Brausen des Meeres und den rauen Winden zu einem unvergesslichen Augenblick seines Lebens zu verschweißen, geborgen sich wissend unter dem Schutz der hohen Mächte, auch wenn sein Wesen so besonders war und kein Schatten den Boden, den er beschritt, bedecken konnte.
Hatte er nicht doch vielleicht etwas falsch gemacht, dass Gott ihn so anders gemacht hatte?
Gabriel dachte nach, ließ die Zeit, die sein Geist festgehalten hatte, in die Erinnerung fließen, holte ein Ereignis nach dem anderen aus dem Schattenreich der Vergangenheit, aber es drängte sich ihm keine Antwort auf. So verharrte er in der Empfindung, dass ihm hier keine Gerechtigkeit widerfuhr, aber eine letzte Unsicherheit blieb.
*
Ich muss los. Keine Minute mehr darf ich warten. – Alles schmerzte.
Es war keine Flucht, obwohl sein Aufbruch so ausgelegt werden würde. Die Pflicht, aus der Liebe und ihrer Verwurzelung geboren, sie allein rief, und das von Stunde zu Stunde lauter. Viel zu lange schon hatte er unschlüssig abgewartet.
Aber an diesem frühen Morgen, nachdem er mühsam eine knappe Erklärung für seinen Plan aufgebracht hatte, brach er aus seinem Leben aus. Alles an bisheriger Veränderung in seinem Dasein, Verlust und Zugang, war von außen hereingebracht worden, nun erfuhr sein Leben eine Veränderung, die von innen heraus, aus eigenem Willen und Streben erfolgte.
Nie hätte er sich vorstellen können, seine Heimat zu verlassen, nun aber musste es sein für die Suche nach einer größeren Heimat, die in der Seele dieses Kindes wurzelte, das Gott ihnen geschenkt hatte.
»Du und Gott, ihr werdet mich begleiten. Ich fürchte mich nicht.«
Müde alte Augen, die seinen Aufbruch verfolgten. Das Gesicht, das zu ihnen gehörte, blieb reglos, der Mund geschlossen. Aber flammende Liebe, aus tiefstem Herzen geboren und in all den Jahrzehnten dort aufbewahrt, strömte ihm zu und begleitete ihn.
Es war ein Abschied für immer. In diesem Moment wussten sie es nicht. Nie wieder aber würden sie sich sehen.
Ein letzter Blick zurück, auf das Dorf, seine Heimat, aber eine andere Heimat, die des Meeres, sie blieb ihm.
Sein Weg führte ihn an der sonnengebleichten Küste entlang. Es war der einzige Weg, der ihm richtig erschien. Wohin hätten die anderen Wege ihn bringen sollen? Er wusste nicht, wo anzufangen war mit seiner Suche.
Die Hand, seine rechte, glitt unentwegt in die Tasche, die Finger berührten wie so unzählige Male zuvor den kleinen abgegriffenen Lederbeutel.
Überall war nur die Fremde spürbar, jeder Schritt hätte sie verstärkt.
Allein das Meer mit seiner Gegenwart, das Rauschen der Brandung, das Spiegeln der Sonne in der weiten Wasserfläche bis hin zum Horizont, die Unendlichkeit des Raumes, das Verschweißen von Himmel und Wasser, das Verschweißen der Ewigkeit mit der Wirklichkeit des Augenblicks, schenkten ihm ein Stück Geborgenheit und Zuversicht für den nächsten Tag.
*
»Wenn du mit Pepa nicht sprechen willst, dann spricht sie auch nicht mit dir!«
Die Worte drangen an Gabriels Ohr, ohne dass sie eine Reaktion auslösten.
Mit offenen Augen lag er in einem Bett der Krankenstation des Klosters. Wie er hierhin gekommen war, er konnte es nicht sagen. Genauso wenig wusste er, wie lange er jetzt schon so da lag … mit offenen Augen und dennoch nicht wach.
»Pepa wird noch böse!«
Wer war Pepa?
Gabriel versuchte den Kopf zu heben, wollte schauen, zu wem die Stimme gehörte. Der erste Versuch aber schlug fehl. Eine große Kraftlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er wartete ab, ließ die Bilder, die seine Augen aufnahmen, bewusst in sein Inneres fließen.
Das Mädchen, bei dieser Stimme musste es ein Mädchen sein, war nicht zu sehen. Aber er spürte, dass es da war.
Pepa notierte, dass in dem Jungen eine Veränderung vor sich ging. Sie ging um das Bett herum, schaute ohne Unterlass nach ihm, nahm ihre Katze, die um ihre Beine herumstrich, auf und setzte sich direkt vor ihn auf den Rand des Bettes. Ihre Blicke begegneten sich. Gabriel schaute in warme braune Augen, in ein leuchtendes, gebräuntes Gesicht, in dem die Sonne sich mit der Erde vermählte. Es gehörte einem Mädchen, das vielleicht ein, zwei Jahre älter sein mochte als er. Der Blick des Mädchens wollte gar nicht zu dem von ihm Gesagten passen.
»Wo bin ich?«
Gabriel musterte seine Umgebung, bemerkte den grau getigerten Kater auf dem Schoß des Mädchens. Dann schaute er es wieder an. Ein Lächeln ließ ihm Geborgenheit zuströmen. Von dem Mädchen durfte er sich eine Antwort erhoffen.
Pepa war ein Wesen, das eigentlich nicht existierte … zumindest nicht nach den strengen Regeln des Ordens, der innerhalb dieser mächtigen Mauern seit langer Zeit sein gottgefälliges Werk verrichtete.
Pepa war hier zur Welt gekommen, die Mutter, jung zwar, aber ausgezehrt, war im Wochenbett gestorben. Eigentlich hätte sie sich nie hier aufhalten dürfen.
Aber sie befand sich schon dem Tode näher als dem Leben, als sie vor der Pforte der Kartause gefunden wurde, wahrscheinlich von irgend einer gerührten Seele dort abgelegt, und fand Einlass, von den Padres, den Priestermönchen durch eisiges Schweigen missbilligt. Der Prior forderte die schnelle Entfernung des Kindes aus dem heiligen Bezirk. Barmherzigkeit war fehl am Platze, wo das christliche Heil in Gefahr geriet, noch dazu die Kartäuser kontemplativ und nicht der Welt zugewandt waren.
Pepas Leben hing aber auch schon so am seidenen Faden. Zu früh war sie wegen der maßlosen Überanstrengung der Mutter, die bis zuletzt von niederer Arbeit zum Erhalt des erbärmlichen Daseins nicht ablassen konnte, geboren worden.
Pepa atmete schwach, ihr Körpergewicht war viel zu gering, die Überlebensreife kaum erreicht.
Die herbeigerufene Hebamme aus dem am Fuße des Klosterbergs gelegenen Flecken weigerte sich, das Kind mitzunehmen.
Auch fand sich keine Amme. Schnell war das Gerücht im Umlauf gewesen, der Teufel sei schon im Besitze der Seele des Kindes. Deshalb wäre es nicht verwunderlich, dass es schon dem Tode näher als dem Leben sei.
Wäre Bruder Manuel nicht für sie aufgestanden, wäre Pepa zum Tode verurteilt gewesen.
Er vermochte das Interesse seines Meisters an dem Erhalt des winzigen Lebens zu wecken, päppelte Pepa mit Milch und geschmolzener Butter auf, schaffte es, so gut es ging, die Existenz des Kindes außerhalb des Augenmerks des Priors zu halten, wozu auch die nachhaltige Beteuerung gehörte, einen neuen Aufenthaltsort für Pepa finden zu wollen. Und doch wunderte er sich nach all seinen Erfahrungen, dass ihm das Kind nicht mit Gewalt genommen wurde, noch nicht einmal anlässlich der alle zwei Jahre stattfindenden Überprüfungen der Kartause durch jeweils zwei andere Prioren.
Oft hätte er in der Folge Gelegenheit gehabt, seine Worte in die Tat umzusetzen. Es gab genügend reisendes Volk, das ein Kind mitzunehmen bereit gewesen wäre, sei es zur Gewinnung seiner Arbeitskraft, sei es zu einem Zwecke schlimmer Art.
Bruder Manuel aber wollte Pepa, nachdem sie schon so unglücklich in die Welt gekommen war, jeden Schutz, den zu leisten er im Stande war, zukommen lassen. Vielleicht vermochte er sich auch nicht von ihr zu trennen, weil er für das Leben eines Mönches in tiefster Seele nicht geboren war, weil er nicht über das viele Unrecht, das im Namen Gottes von der Kirche verübt wurde, hinwegsehen konnte. Das wirtschaftliche Auspressen der Menschen, das Erpressen von ihnen im herrischen Glauben, alles an Seelenheil sei nur über die Kirche zu erlangen, das Zerpressen aller Kreatur, die diesem Glauben nicht blindlings zu folgen bereit war, weil sie andere Erkenntnisse und Wahrheiten gefunden hatte.
Die Existenz Pepas in diesem Kloster war ein stiller Protest gegen all die im Namen Gottes praktizierte und geduldete Ungerechtigkeit, ein Vorführen der selbst sich erhebenden Macht, welche das Volk unablässig in den Schmutz drängte und selbst doch über und über besudelt war.
Pepa hatte sich der Eintönigkeit und der Unmöglichkeit der räumlichen Entfaltung zum Trotz zu einem bemerkenswert fröhlichen und aufgeweckten Kind entwickelt. Sie litt nicht darunter, den Kranken- und Küchenbereich des Klosters nicht verlassen zu können, half entschlossen bei der Krankenpflege mit, holte das Essen ab, kümmerte sich um die Wäsche, die Reinigung der ärztlichen Utensilien und der Verbände, brachte die Notdurft weg, fegte und putzte den Boden und war, was sie mit der größten Freude erfüllte, da sie die helle Sonne und Luft zu spüren bekam, bei der Bewirtschaftung des Klostergartens behilflich.
Dazu war Bruder Manuel ihr ein guter Lehrer und Erzieher und obendrein ein väterlicher Freund. Pepa musste viel entbehren, fraglos, aber es hätte schlechter, viel schlechter um sie stehen können … bis hin zum Verlust ihres für die Welt so unbedeutenden Lebens.
Bruder Manuel musste ebenso viel entbehren, aber in der Obhut, die er dem Mädchen von Geburt an angedeihen ließ, fand er Glück und Lebenssinn.
Ein Glück freilich, das vergehen würde. Pepa bewegte sich mit großen Schritten auf die Zeit zu, in welcher sie nicht mehr als Kind, sondern als junge Frau wahrgenommen würde. Dann spätestens musste sie das Kloster verlassen, selbst der so schwächliche und zaudernde Prior würde keinen Tag mehr ruhen, egal was aus dem Mädchen werden sollte.
Vielleicht würde auch er das Kloster zu dieser Zeit verlassen. Diese Möglichkeit hatte sich seit längerem in Bruder Manuels Überlegungen als ein in Betracht zu ziehendes Tun festgesetzt. Und das obwohl er sich durch sein Gelübde auf ewig an den Orden gebunden hatte. Aber die innere Begeisterung der früheren Jahre war dahin.
Je näher die Zeit der Entscheidung rückte, desto stärker verspürte er den Wunsch, Pepa, den Lichtquell seines bescheidenen Lebens, bei sich behalten zu wollen, sie in die Ferne zu begleiten.
Die Kirche gab ihnen ein fragliches Obdach. Das würden sie beide auch ganz sicher anderweitig erlangen können. Sie würden keine Ansprüche stellen und irgendwo unterkommen. Ein unausgesprochener Hoffnungsschimmer.
Dass alles ganz anders kommen sollte, und dies unter dramatischen Geschehnissen, davon ahnte Bruder Manuel an diesem Tage noch nichts, da er vergnügt und mit Ernst zugleich zusah, wie Pepa und Gabriel sich miteinander bekannt machten.
»Einen Jungen hatten wir hier noch nie!«
»Wo bin ich?«
Gabriel wiederholte seine Frage, sah sich wieder um, erblickte Bruder Manuel im Hintergrund und schien eine Idee zu bekommen.
»Ich mache dich gesund!«
Bruder Manuel kam hinzu.
»Seit dem vorgestrigen Tage, mein Junge, bist du hier, damit wir dir besser helfen können!«
Gabriel entging nicht der Doppelsinn des Gesagten. Er dachte an die Worte, die Bruder Manuel in der Zelle zu ihm gesprochen hatte.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du musst schnellstens an einen sicheren Ort gebracht werden!«
»Danke!«
Gabriel schaute ihn, aber auch Pepa an. Sein Dank galt beiden.
Zwei gute Menschen an seiner Seite, inmitten des großen düsteren Schweigens, das von diesem unheimlichen, gottlosen Ort und seinen übrigen Bewohnern ausging.
Bald darauf war Gabriel wieder eingeschlafen. Er kam den ganzen Tag nicht mehr zu sich, und auch die Nacht schenkte ihm weiter den so dringend benötigten Schlaf.
Andere Menschen, die zu seiner Welt gehörten, in freundschaftlicher, in feindlicher Gesinnung, fanden nicht in den Schlaf.
Ein rastloser Diener Gottes, getrieben von dem hohen Fieber, den Teufel in der Gestalt eines Kindes zu stellen und zu richten, ein unruhiger Gutsherr, der seine Leute nach diesem finsteren Richter ausgesandt hatte und ihn gleichermaßen auch wie eine böse Heimsuchung erwartete, ein Prior, der ob der Beheimatung des Dämons in seinem Hause kaum noch ein Auge zubekam, ein alter Fischer, der seine Gebrechen vergaß und sich auf die Suche seines Lebens begeben hatte, um nicht wieder einen Sohn zu verlieren, ein Herz, das ihn begleitete und schließlich ein der wahren Lehre Gottes verschworener, der Nächstenliebe anbefohlener Mönch im einfachen Habit, der wusste, dass die Zeit gegen diesen Jungen arbeitete, der hier bei ihm auf der Krankenstation lag und nur mühsam wieder zu Kräften kam.
Als er, nachdem er dieses Mal zu ihm gerufen worden war, ihn neuerlich gesehen hatte, war er vom Schrecken getroffen worden.
Gabriels Zustand hatte sich verschlechtert, ob mit seinem Zutun, dass er nichts mehr aß und trank, oder ohne dieses, wusste Bruder Manuel nicht zu sagen. So konnte der Junge unmöglich auf die gefährliche Reise gehen. Ein Wunder bald musste geschehen, sonst war er verloren. Die Küche hatte schon die Order erhalten, nahrhafte Brühen zu kochen. Auch die streng rationierten Kartoffeln, die unter der Obhut des an sich geizigen Cellerars, des Verwalters des Klosterguts, standen, würden dem Jungen gereicht werden. Von den Schinken, die er für die Flucht des Kindes unerlaubt zu horten angefangen hatte, von mit Eicheln von Steineichen voll gefütterten iberischen Schweinen stammend, wollte Bruder Manuel dicke Scheiben abschneiden. Es waren wohl die ersten Schinken, die es hierhin ins Kloster geschafft hatten. Die Kartäuser nämlich waren strenge Vegetarier. Ein Bruch der Ernährungsregel war ein Verbrechen an der Heiligkeit.
Um Himmels Willen, was würde mit Pepa geschehen?
Bruder Manuel fasste sich mit einer fahrigen Bewegung an den Kopf, das Blut durchströmte ihn heiß.
Mochte ihn die Eintönigkeit des Klosterlebens, die ewige Betrachtung, das ewige Beten, so einfältig gemacht haben, dass er ihr Schicksal angesichts des nahenden Inquisitors nicht bedacht hatte und nur das des Jungens?
Der Priester der Finsternis würde herausfinden, dass Pepa hier lebte. Er wie seine vielen Brüder im rachsüchtigen Geiste hatte tausend Augen. Und natürlich auch tausend Ohren. Man würde ihm die Schafe, die schwarzen, nennen, die die Herde störten. – Befleißigung, viel tausendfache, um das eigene Licht zu erhellen und den Einsatz für den rechten Glauben zu bekunden.
Er würde zu den Denunzierten gehören. Bruder Manuel spürte und wusste es.
Um Pepas Dasein an diesem tristen Ort würde trotz ihrer Nützlichkeit Aufhebens und Geschrei gemacht.
Und wenn der Inquisitor seiner Beute nicht habhaft wurde und er von der Flucht des Jungen erfuhr, würde er andere Opfer suchen.
Pepa und auch er würden keine Möglichkeit mehr haben, mit heiler Haut davon zu kommen.
Warum hatte er dies bislang nicht so deutlich gesehen? Er hätte sich dafür ohrfeigen mögen, doch noch resultierte aus seiner Gedankenlosigkeit kein Schaden, war noch keine wertvolle Zeit vertan worden.
Die Rettung des Jungen, sie stand zuerst an. Danach erst konnte er an Pepa und sich denken und wie geboten handeln.
Über den Tag hinweg musste er herausfinden, wann genau mit dem Erscheinen des Inquisitors zu rechnen war. Vielleicht gab es irgendeine Neuigkeit. Die ihm bislang vorliegenden Meldungen waren allesamt nur vage gewesen.
Es hatte sich, obwohl der Prior um Geheimhaltung bemüht gewesen war, herumgesprochen, dass die Inquisition wegen des Kindes benachrichtigt worden war.
Wenn es vielleicht auch neue Nachrichten gab, Bruder Manuel wurde sie nicht gewahr.
Die Angst, die alle Mitbrüder wegen des anstehenden äußerst unangenehmen Besuchs in Beschlag genommen hatte, lähmte ihre ohnehin nicht ausgeprägte Gesprächigkeit zusehends.
»Memento mori.« Sei eingedenk, dass Du sterben musst.