- -
- 100%
- +
Muslime, aber auch Juden hatten viel zu lange über die Provinzen geherrscht, nun durften sie nicht mehr aus der Hand gegeben werden. Der Heilige Krieg war noch lange nicht gewonnen, die Inquisition, die Santa Casa, hatte noch lange nicht ihr Ziel erreicht. Es musste noch viel Blut fließen und noch viel verdorbenes Fleisch den Flammen geopfert werden.
*
»Du bist spät dran!«
Auf Bruder Manuels Gesicht spiegelte sich bei diesen Worten ein Anflug von Verärgerung. Er hatte sich jedoch so gut unter Kontrolle, dass kein Wort des Vorwurfs über seine Lippen kam. Einen prüfenden Blick aber konnte er sich nicht ersparen. Zu viel stand auf dem Spiel.
»Vergeben sie mir, Bruder! Albertos störrischer Muli hat seinen Plan zerstört.«
Alberto mühte sich zu einer Demutsgeste, aber Bruder Manuel wandte sich ab und richtete schleunig seine Schritte zu dem Ort, wo die Bruderschaft sich Erleichterung verschaffte. Alberto fuhr mit seinem Gespann hinterher und nahm von den ihn passierenden Mönchen wie immer keine Notiz. Sie lebten, auch wenn er von ihnen profitierte, in einer anderen Welt. Eine Welt, zu der er nur von Geschäfts wegen, sonst aber keinen Zugang hatte.
»Hast du auch daran gedacht, drei saubere Fässer mitzubringen?«
Bruder Manuel hielt es nicht für ausgeschlossen, dass auch weitere Dinge nicht nach Plan verliefen.
Alberto schien seine Verspätung schon vergessen zu haben.
»Sie wissen doch, Bruder: auf Alberto ist Verlass! Er hat sie von allem befreit, das die Sinne beleidigt! Sie stehen ganz hinten!«
»Gut, an die Arbeit!«
Bruder Manuel bekreuzigte sich und ließ Alberto allein.
Für gewöhnlich war die Arbeit in weniger als zwei Stunden verrichtet. Heute aber sollte Alberto sich Zeit lassen. Die Abfahrt würde erst im Dunkeln stattfinden.
Vor dem Komplet wurde zwar das Tor für die Nacht geschlossen, doch Bruder Manuel hatte vorgesorgt. Der Ort, wo Alberto seine Arbeit erledigte, war nur wenig frequentiert. Darum sorgte sein Aufenthalt im Kloster bei Anbruch der Dunkelheit auch für kein Aufsehen.
Bruder Manuel nahm am Komplet und am Abendgesang teil. Dann ging er in die Krankenstation, wo Pepa und Gabriel warteten. Pepa war dabei, sich von Pepe, ihrem Kater, zu verabschieden. Dies war mit Wehmut verbunden. Bruder Manuel gab den Kindern ein Zeichen, dass sie sich noch gedulden sollten.
Erst musste Bruder Benicio sich für die erste Schlafenszeit vor Mitternacht zurückgezogen haben. Pünktlich war er darin nicht immer. Zu groß war oft sein Wissensdurst.
Sich um einen Kranken noch kümmern zu müssen, war ein Vorwand, den er leicht hätte gebrauchen können, um sein längeres Wachsein zu begründen.
Heute aber war alle Arbeit auf der Station getan und kein Heilmittel zur Verstärkung des Blutflusses oder zur Senkung eines Fiebers noch zusammenzubrauen. Zeitig zog Bruder Benicio sich in seiner leisen Art in seine Zelle zur Nachtruhe zurück.
Bruder Manuel atmete auf. Er sah ein letztes Mal nach den Kranken. Für kurze Zeit wurde ihm schwer ums Herz. Dann ging er zu den Kindern. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, bereit, jede Order, die Bruder Manuel erteilen würde, zu erfüllen.
Kurzes Innehalten noch einmal. – Machte er wirklich alles richtig? Abrufen aller Antworten, die er sich schon hundertmal auf diese und ähnliche Fragen gegeben hatte.
»Kommt!«
Gabriel zog die Decke vom Körper weg. Wie von ihm verlangt, war er bereits angezogen. Sogar das alte schäbige Schuhwerk hatte er schon an den Füßen.
Ein folgsamer Junge, der wusste, dass es jetzt auf jede Kleinigkeit ankam.
*
»Halt!«
Er fuhr, obwohl er im Bilde war, in seiner Zelle zusammen. Die scharfe Stimme des Wachmannes der Inquisition erschreckte sein furchtsames Gemüt. Es entstand Stimmengewirr. Eine verzerrte Stimme, die eine Anweisung gab.
Dumpfe Geräusche wie von einem Kampfe herrührend drangen an das Ohr des Priors.
Er hörte ein Knarren, das ihm vertraut war, ihn in diesem Augenblick aber befremdete. Das Tor! Jemand hatte das Tor in dem großen, der Stadt zugewandten Portal geöffnet. Dies sollte auf keinen Fall geschehen!
Das Gespann von diesem verdammten Bauern, dem er noch nie über den Weg getraut hatte, polterte über das Pflaster des Innenhofes und rollte zum Tor hinaus. Jäh aber wurde der Lärm unterbrochen. Das Gespann schien zum Stillstand gekommen zu sein. Der Prior hastete an das Fenster, von wo er die Situation überschauen konnte.
Er konnte sehen, dass zwei mit Hellebarden bewaffnete Männer, es mussten die des Inquisitors sein, sich vor dem Gespann aufgebaut hatten, entschlossen – falls notwendig –, das schnaubende Muli dieses gemeinen Verräters im nächsten Moment abzustechen. Auf dem Gespann stand Bruder Manuel in einer Haltung, die äußerste Spannung verriet. Sehr wohl war er aus einem der Fässer geklettert, die zum Abtransport der Notdurft bestimmt waren. Er konnte jetzt den Inquisitor erblicken. Dieser kam mit herrischem Schritt aus dem Innenhof heraus, den Bruder, der das Tor geöffnet hatte, mit einem vernichtenden Blick bedenkend. Auch über ihn würde gerichtet werden. Keiner dieser Verbrecher würde seinem Urteil und der gerechten Strafe entgehen.
Der Inquisitor nahm eine Fackel, die einer seiner Männer entzündet hatte, an sich und hielt sie in die Höhe, um die Personen auf dem Gespann besser ausmachen zu können. Alberto vergrub seinen Kopf noch mehr unter seinen fleischigen Händen, presste das Kinn noch fester auf seine Brust und zitterte am ganzen Körper.
»Bauer, du! Bei der Allmacht des Herrn befehle ich dir: steig ab von deinem Wagen!«
Alberto zögerte einen Moment. Im nächsten bereits bemerkte er die Kälte des Metalls der Hellebarde, die einer der Männer des Inquisitors auf ihn richtete.
Alles war verloren. – Er war ein einfacher Mann. Aber was jetzt kam, dafür musste man nicht rechnen können.
Er stieg von seinem Bock herunter und legte die Hand an die Flanke seines Mulis, die Unruhe des Tieres verspürend.
»Guter, du! Unsere Wege müssen sich jetzt trennen. Danke für alles!«
Ein letzter Blick, dann ließ er sich mit inne sitzender Verzweiflung abführen.
»Und jetzt zu dir, Bruder! Steig auch du herunter und leiste keinen Widerstand gegen die Diener Gottes! Deine unchristliche Absicht hat sich zerschlagen.
Gottes Urteil wartet auf dich!«
In Bruder Manuels Augen stieg das Feuer der Leidenschaft empor. Gottes Urteil! Was weißt du, du reißender Wolf der Hölle, vom Richten unseres Herrn?
Nein, ihm leiste ich keinen Widerstand, wohl aber dir!
Von tausend Ängsten übermannt hockten Pepa und Gabriel in ihren engen Verstecken, die keine mehr waren. Sie ahnten es. – Gleich würden sie entdeckt werden!
Es gab kein Entkommen!
Bruder Manuel bemerkte, wie nah sich das Gefährt am Abhang des Klosterhügels befand. Einen Augenblick überlegte er noch. Dann packte er das erste Fass, in dem Pepa steckte, und warf es den Abhang hinunter.
Im nächsten Moment bohrte sich eine Hellebarde durch den schwarzen Chorrock und seine übrige Kleidung in seine Seite. Bruder Manuel stöhnte auf vor Schmerz. Doch noch hatte er die Kontrolle über seinen Willen und seinen Körper. Er riss die Hellebarde aus seinem Körper, packte entschlossen das nächste Fass, in dem Gabriel hockte, und warf es ebenso den Hang hinunter.
Gott musste darüber wachen, dass die Kinder unverletzt blieben. Wieder spürte er, wie die Hellebarde sich ihn bohrte.
»Du Hund!«
Der Inquisitor schritt hastig um den Wagen herum. Seine gierigen Augen funkelten in die Dunkelheit, konnten aber nichts erspähen. Die mondlose Zeit gebar eine totale Finsternis. Nur das Poltern der Fässer war zu hören.
»Hinterher!«
Einer der Wachleute, den der Inquisitor in den Blick gefasst hatte, beeilte sich, den Abhang hinunter zu laufen.
»Schneller! Oder du brennst auch!«
Der Inquisitor war außer sich. Er sah nach Bruder Manuel, der zusammengebrochen war und gekrümmt vor Schmerz auf dem Wagen lag. Sein Habit begann sich mit Blut zu tränken.
»Kümmert euch um ihn! Er darf nicht sterben! Er soll Gottes Richtspruch erfahren … durch mich!«
Nein, Herr! Nimm mich jetzt zu dir! Ich hab alles an Aufgabe getan!
*
Der Höllenritt den Abhang hinunter dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Gabriel wurde in dem Fass umhergeschleudert, unfähig etwas zu seinem Schutze zu verrichten. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war, und war der Ohnmacht nahe.
An einem Felsbrocken kam das Fass zum abrupten Stillstand und zersplitterte.
Gabriel lag wie tot im Gras, die Schatten der Nacht umhüllten ihn und auch seine Seele. Unzählige Prellungen, die er sich zugezogen hatte.
Nicht lange dauerte es, da drang von fern eine Stimme durch seine Benommenheit. Es war die Stimme des Soldaten, den der Inquisitor auf die Suche geschickt hatte.
Ungeduldig sprang Alfonso de Torquemada unterdessen auf der Höhe herum und rief fortwährend in die Tiefe.
»Nein, ich habe noch nichts gefunden, Herr!«
Die Stimme war jetzt keine dreißig Schritte entfernt.
Gabriel kam zu vollem Bewusstsein.
Pepa! Was war mit Pepa?
Und Bruder Manuel, wo war er?
Gabriel versuchte sich zu erinnern.
War auch Pepa mitsamt dem Fass, in dem sie steckte, von dem Wagen geworfen worden? Gabriel konnte sich an nichts erinnern.
Er hörte keine Worte mehr, dafür aber Schritte, die genau auf ihn zukamen.
Noch schützte ihn die mondlose Dunkelheit. Aber er musste etwas tun. Entweder ohne Bruder Manuel und Pepa die Flucht antrete oder sich verstecken und sodann die beiden suchen.
Er entschied sich dafür und umschlich mit Schmerzen den Felsbrocken, um an seiner Rückseite der Entdeckung zu entgehen.
Jetzt ist der, der ihn finden will, bei ihm angelangt. Keine fünf Schritte mehr sind sie voneinander entfernt.
»Herr, hier ist eines der Fässer! Es ist zerbrochen! Ich suche die Umgebung ab!«
Die Worte kamen nicht mehr bei dem Inquisitor an. Zu groß schon war der Abstand.
Alfonso de Torquemada befehligte, da sie ihre Arbeit verrichtet und Alberto und Bruder Manuel dingfest gemacht und weggebracht hatten, noch drei der ihn begleitenden Männer den Abhang hinunter.
»Wagt es nicht, mir ohne Erfolg wieder unter die Augen zu treten!«
Ein, zwei Minuten schon hatte Gabriel keinen Laut mehr gehört.
Sein Jäger verhielt sich geräuschlos wie eine Eule.
Endlich vernahm Gabriel weitere Stimmen. – Die Sache wurde immer gefährlicher.
Leise entfernt er sich von dem Felsbrocken. Plötzlich aber wird es noch dunkler vor seinen Augen. Einen einzigen Augenblick noch, da greift eine Hand nach ihm, um ihn festzuhalten, und eine andere hält seinen Mund zu, um zu verhindern, dass er nach Hilfe schreit oder auf seine Lage aufmerksam macht.
»Hab ich dich, Bürschlein! Einem alten Kämpen machst du nichts vor! Wag nicht, dich zu wehren!«
Gabriel gerät in Panik und versucht sich aus der Umklammerung zu lösen. Er strampelt mit den Füßen in der Luft. Die Hand seines Widersachers, die seinen Mund nahezu zum Ersticken zuhält, verrutscht. Es gelingt ihm, in diese Hand zu beißen.
Ein Schmerzensschrei des Soldaten, ein gepresstes Einatmen, ein Schrei von Gabriel in die Dunkelheit, die nicht länger mehr auf seiner Seite zu sein scheint. Dann hat sein Gegner ihn wieder ganz unter seiner Kontrolle.
»Kommt hierhin! Ich habe ihn! Schnell!«
Er wartet auf die nötige Hilfe. Gabriel wehrt sich weiter mit aller Kraft. Der Griff des Soldaten jedoch bleibt unüberwindbar.
»Wo bleibt ihr denn?«
Es ist das Einzige noch, was er sagen kann. Wie von einer unsichtbaren Macht gefällt sinkt er plötzlich zu Boden. In seinem Fallen wird eine andere Gestalt sichtbar. Gabriel mag es nicht fassen.
Pepa!
Sie lässt den Stein fallen, den sie soeben dem vor ihr stehenden, scheinbar übermächtigen Gegner auf den Kopf geschlagen hat. Zu sehr ist er mit Gabriel beschäftigt und ihr gegenüber deshalb unachtsam, gar ahnungslos gewesen.
Noch nie hat sie sich zu solch einer Tat hinreißen lassen. In ihr toben die Empfindungen von Erschrecken und Staunen. Allein die Gefahr, in welcher sie Gabriel angetroffen hat, hat sie mutig und stark werden lassen. Dieser Mann durfte Gabriel nichts antun.
Nein, es war ungerecht, was er tat. Er durfte Gabriel nicht wehtun und ihn auch nicht festhalten.
Über die Wirkung ihres Hiebs konnte sie nur einen Moment lang verblüfft sein. Schon eilten die anderen Soldaten des Inquisitors herbei.
»Komm, Gabriel! Rasch!«
Wenige Augenblicke später trafen die Verfolger am Ort des Geschehens ein.
Sie fanden nur ihren bewusstlosen Kameraden vor und auch das zersplitterte Fass.
»Einer bleibt hier! Der Rest macht sich auf die Suche! Der Herr bringt uns auf den Scheiterhaufen, wenn wir den Jungen und den, der in dem anderen Fass gesteckt hat, nicht finden!«
Die Suche nach den Flüchtigen dauerte die ganze Nacht, aber sie waren nicht dingfest zu machen. Im Hellen allerdings würden sie keine Chance haben, ihrer Entdeckung zu entgehen. Darauf setzte Alfonso de Torquemada, der Gift und Galle hätte speien können, seine ganze Hoffnung.
Er war nah dran, den Prior aufs Schärfste anzugehen und ihn zur Rede zu stellen, wie es zu dieser Flucht nur hatte kommen können und ob er das Mindeste zu seiner Unschuld vortragen konnte. Doch der Inquisitor war ein durchtrieben schlauer Mensch, der längst schon wusste, dass der Prior sicher war vor seinem Zugriff. Er wusste um seine verwandtschaftlichen Bande zu seiner Obrigkeit, dem Herzog von Medina Sidonia, in dessen Diensten er selbst schon so lange stand.
Wenigstens erwartete Alfonso de Torquemada genaue Auskunft darüber, wer in dem zweiten Fass gesteckt hatte, nachdem er die vage Hoffnung, dass der Satan in Kindsgestalt doch im Kloster zurückgeblieben war, nach erfolgloser Durchsuchung aller Räume hatte begraben müssen. Dass auch in dem zweiten Fass ein Mensch gesteckt haben musste, war in dem Zeitpunkt offensichtlich, als die Soldaten des Inquisitors es leer vorgefunden hatten.
»In dem Fass wird der Novize gewesen sein«, log der Prior, »der Bruder Manuel so nahe gestanden hat.«
Hoffentlich spielte Bruder Manuel, wenn er überhaupt noch mit dem Leben davon kam, bei dieser Lüge mit. Er wollte Pepa unerwähnt lassen, um weiteren Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, und verschaffte ihr damit ungewollt einen Vorteil bei ihrer Flucht.
»Wir können auch ihn nicht auffinden!«
Die Antwort befriedigte den Inquisitor keineswegs.
»Warum hat er nicht bei Tag den Weg durchs Tor gewählt. Er hatte keinen Grund, sich bei Nacht davon zu stehlen. Oder legen schon eure Novizen die ewige Profess ab?«
Der Prior bemerkte, dass seine Erklärung wirklich nicht überzeugend war.
»Vielleicht war es die Scham vor den Mitbrüdern, die ihn zu diesem Entschluss gebracht hat. Vielleicht wusste er, dass er den hohen Anforderungen unseres Ordens nicht gerecht werden konnte und dass er sich nicht über die ewige Profess an unsere Gemeinschaft würde binden können. Vielleicht fürchtete er auch, dass die Flucht von Bruder Manuel, dem er, wie ich sagte, sehr nahe stand, ein schlechtes Licht auf ihn werfen würde.«
Vielleicht, vielleicht!
Der Inquisitor hasste den Prior für sein dünnes Gerede. Er brauchte Fakten und wenn er sie mit kurz überlegten Erklärungen selbst in die Welt bringen musste.
Bruder Benicio war voller Sorge. Geweckt durch ein heftiges Schlagen gegen die Tür seiner Zelle, hatte er schlaftrunken aus seinem Lager gefunden und geöffnet, die schlimme Mitteilung aus dem schnell sprechenden Mund eines Mitbruders hatte ihn jedoch zu eiligem Tun veranlasst.
»Kommt schnell herbei! Bruder Manuel ist schwer verletzt worden und dem Tode näher als dem Leben!«
Das waren die Worte, die ihn alarmiert hatten.
Bruder Benicio brauchte nichts zu richten, all seine Utensilien befanden sich auf der Krankenstation. Dort lag Bruder Manuel auf einer Trage, die von seinem Blut schon durchnässt war.
»Um Himmels Willen, was ist geschehen?«
Konnte er hier überhaupt noch helfen? So etwas hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen.
Knappe Sätze, weiterer Erklärung bedurfte es nicht. Geahnt hatte er es, dass Bruder Manuel eines Tages in große Schwierigkeiten kommen würde, doch Bruder Benicio hatte sich lieber um Salbei, Fenchel, Liebstöckel und Minze draußen im Garten und um seine Tinkturen und Salben und Destillate gekümmert anstatt schwierige Gespräche zu führen.
Jetzt war die Sorge da.
Er hatte sie um Bruder Manuels Leben und auch um das seinige. Würde man ihn irgendwelcher Mittäterschaft beschuldigen?
Die Inquisition stand ins Haus. Es ging um den Jungen, der bei ihm unter Bewachung auf der Station lag. Auch er hatte davon gehört.
Musste er nun vielleicht büßen für seine Gleichgültigkeit Bruder Manuel und seinem Tun gegenüber?
Alfonso de Torquemada erschien, einen langen Schatten vor sich auf den Boden werfend und immer noch damit hadernd, dass seine Pläne nicht aufgegangen waren. Dabei war alles gründlich durchdacht und vorbereitet worden.
Zwei Tage schon hatte er – sich nicht dem Lichte des Tages offen darbietendbeobachtet, wer das Kloster aufsuchte, wer es mit welchem Ziel verließ und was alles raus und rein geschafft wurde. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass in der Zeit vor seinem Erscheinen noch vieles geschah, dass gegen sein heiliges Werk gerichtet war.
Unter Todesandrohung hatte er in dieser Zeit ganz in der Nähe bei einem ausgesuchten Gutsbesitzer für sich und seinen ganzen Tross an Notaren, Schreibern und Wachleuten Quartier geordert.
Eine absonderliche Angst bemächtigte sich aller, die des Inquisitors und seines Gefolges ansichtig wurden. Wieder zeigte es sich, dass die Verbreitung von Schrecken seinen Erfolg zum Wesentlichen begünstigte. Seine Rechnung schien aufzugehen. Niemand im Kloster bekam einen Wink, noch dazu nicht feststand, gegen wen sich das Sinnen des Inquisitors richtete.
An diesem bewussten Tage hatte er lange warten müssen. Das war absehbar gewesen. Die Hinterhältigkeit suchte die Nacht.
Und auch dieser Bauer hatte sie gesucht.
Verdächtig, sehr verdächtig, zu dieser Zeit unterwegs zu sein, noch dazu hier an diesem Ort. Der ehrliche Mann saß zu dieser Zeit daheim bei den Seinen oder sprach in der stillen Kammer zu Gott.
Mit wem dieser Bauer da nahe dem Kloster redete, blieb ihm zunächst noch verborgen. Aber die Antwort ergab sich am übernächsten Tag, als der Bauer erneut zum Kloster hinauf fuhr und bis in die Dunkelheit darin verblieb.
Er war alarmiert. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Jetzt galt es.
Er hatte den Prior über einen Boten von seiner Ankunft unterrichtet, Stillschweigen darüber verlangt und die Order erteilt, das Tor auf keinen Fall mehr zu öffnen.
Die Feinde saßen in der Falle. Es konnte kein Entkommen für sie geben.
Nach Anbeginn der Dunkelheit hatte er sich über den Nebeneingang unauffällig Zutritt zu der Kartause verschafft und dort mit einem Teil seiner Wachleute die weiteren Geschehnisse abgewartet. Die anderen lauerten vor der Pforte.
Dass der Torwächter zu den Abtrünnigen zählte, war nicht vorhersehbar.
Dass es ihm möglich gewesen war, das Tor noch zu öffnen, das verzieh er sich jedoch nicht.
Er hätte früher eingreifen müssen – in dem Moment, in dem die Verräter an Gottes Sache allesamt in ihren Verstecken auf dem Wagen hockten und er noch nicht losgefahren war.
»Ich verlange von euch, das Leben dieser von Gott anderweitig zu richtenden Kreatur zu erhalten!«
Der Inquisitor fasste Bruder Benicio scharf in den Blick, nicht sonderlich überzeugt von seiner ärztlichen Kunst. Allein das Zittern seiner Hände bestärkte ihn in seinem Eindruck.
»Was schneidet er dem Kerl so tief ins Fleisch?«
Bruder Benicio nahm all seinen Mut zusammen und schwieg. Der Inquisitor witterte Verrat.
»Santo Dios! Weiß er, was er tut?«
Bruder Benicio fuhr unbeirrt fort. Es ging hier um Leben und Tod! Zwar vielleicht auch für ihn, aber diese Gefahr war jetzt nicht so drastisch einzuschätzen als diejenige, die sein ärztliches Können auf die Probe stellte.
De Torquemada war nahe daran, Bruder Benicio das Messer zu entwenden.
Dieser bemerkte die halbe Absicht aus den Augenwinkeln.
»Herr, bitte! Ich muss versuchen, die Blutung zu stillen! Und dazu muss ich mir den Weg zu den verletzten Gefäßen frei schneiden!«
Der Inquisitor richtete sich auf, sein Blick aber blieb misstrauisch und voller Verachtung.
*
»Unmöglich, dass ich dich gefunden hätte; so dunkel ist es! Zum Glück hat der Soldat dann zu rufen angefangen.«
»Bist gerade noch rechtzeitig gekommen!«
Gabriel spürte, dass er noch immer nicht wieder richtig atmen konnte, und schaute Pepa mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Bewunderung an.
»Weißt du, was mit Bruder Manuel geschehen ist? Konnte er auch noch vom Wagen runterkommen?«
Gabriel betastete die dicke Beule an seinem Kopf und versuchte sich zu erinnern.
»Ich weiß nicht, Pepa! Hat er uns den Hang hinuntergeworfen?«
»Ja, es war die einzige Möglichkeit, uns zu retten!«
Bruchstücke des Geschehenen gelangten in Gabriels Bewusstsein.
Ein Aufstöhnen vor Schmerz war da gewesen. Es stammte von Bruder Manuel. Dann das Aufheben des Fasses, in welchem er versteckt war.
Alles Weitere lag im Dunkeln.
»Wir können jetzt nicht nach ihm suchen! Gott wird ihm helfen, bestimmt tut er es. Wir müssen uns erst in Sicherheit bringen!«
Eine ganze Zeit schon hatten sie nichts mehr von ihren Verfolgern gehört.
Trügerische Sicherheit!
Da, was war das? Kam da nicht ein Geräusch von nah her?
In der Stille verharren. Tonlose Momente. Klopfende Herzen. Angst.
Jetzt kam ein Laut von der rechten Seite. Eben das Geräusch war von vorne gekommen. Merkwürdig!
»Achtung, Pepa! Sie umkreisen uns und kommen von überall her!«
Welch eine Nacht! Zerborstene Pläne. Ihrer Freiheit beraubte Menschen. Ein Medicus, der mit nicht ausreichenden Mitteln um das Leben eines Bruders kämpfte. Ein Vorsteher, der das Eintreffen der Inquisition wie den Anbeginn der Hölle wahrnahm. Zwei Kinder auf der Flucht, bemüht, die kleine Flamme ihres Lebens am Leuchten zu halten. Und ein alter Mann, der sich von der Küste entfernt und eben den Weg zu diesem Kloster eingeschlagen hatte.
Die Soldaten des Inquisitors waren erprobte, am Leben allesamt gereifte Männer. Es hätte nur wenig Sinn gemacht, leise durch die Nacht zu pirschen, um den Flüchtenden nachzuspüren. Zu groß wäre ihr Vorsprung geworden, wenn diese sich eilig hätten entfernen können.
Stattdessen teilten sich die Soldaten auf und liefen zielsicher in die Nacht hinein, einen großen Kreis dabei bildend. Zurück blieb nur der von ihnen, den sie niedergeschlagen vorgefunden hatten und der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte.
Nach einigen Minuten begannen sie, auf ihren guten Orientierungssinn vertrauen könnend, aufeinander zuzugehen.
Der Kreis wurde enger, die Falle schloss sich.
»Was sollen wir jetzt machen? Sag, Gabriel! Ich habe so große Angst!«
Gabriel legte seinen Arm um Pepa. Eine andere Antwort hatte er nicht. Ihre krausen Locken kringelten sich noch mehr.
Wortlos blieben sie unter den fleischigen Blättern einer Agave hocken und warteten die Geschehnisse ab, währenddessen die Dornen an den Blattspitzen ihnen zu schaffen machten.
Die Männer arbeiteten sich planmäßig durch das Gebiet. Zum Glück für Gabriel und Pepa waren sie nicht viele in der Anzahl, so dass der Ring viele Lücken aufwies, durch die vielleicht hindurchzuschlüpfen war. Immer näher kamen die Soldaten an ihr Versteck heran. Von überall her drangen, da die Männer nicht sonderlich um Lautlosigkeit bemüht waren, Geräusche von knackenden Zweigen und raschelnden Blättern an Pepas und Gabriels Ohren.
Jetzt sind die Männer auf ihrer Höhe angelangt.
Keine zehn Meter links von ihnen schleicht eine Gestalt vorbei.