- -
- 100%
- +
Er brauchte eine Uniform. Ja, das war der Weg zur Rettung. Ja, er brauchte eine Uniform, so wie sie hier alle trugen.
Sofort dachte Joaquin an den betrunkenen Soldaten vor seiner Zelle. Schnell zurück zu ihm!
Kaum, dass er in dem Gang zurück war, nahm er Schritte wahr. Wem gehörten sie? Er hatte die ganze Zeit niemanden bemerkt.
Joaquin lief in die entgegengesetzte Richtung, immer weiter von dem Ort weg, wo man ihn gefangen gehalten hatte. Und auch immer weiter von der Zelle seines Vaters weg.
Es war alles durchdacht. Joaquin hatte nicht den Hauch einer Chance.
Sion de Albanez war ein Mann mit einer gefährlichen Intelligenz. Die Vorkommnisse der letzten Tage hatten ihn zu einem weiteren dunklen Plan verleitet.
Alles hatte damit angefangen, dass Pablo, dieser den Teufel beherbergende Fischer, aus dem Dorf verschwunden war.
Am Tag nach der Bestrafungsaktion waren Sion de Albanez Männer erschienen, um ihn zu einem Verhör abzuholen. Doch sie fanden ihn nicht, und sein Weib war starr vor Schreck gewesen, wie sie ihrem Herrn berichtet hatten, und hatte kein Wort über ihre Lippen gebracht.
»Wir kommen morgen wieder! Wenn dein Mann dann nicht da ist, brenne ich euer Haus nieder!«
Mit dieser Drohung hatte Juan es an diesem Tag bewenden lassen.
»Was glaubt dieses Weib, wie sie mit mir umgehen kann?«
Am nächsten Tag in aller Frühe, die Sonne stand noch bleich am Himmel, waren sie wieder vor Pablos Haus erschienen, Brandfackeln mit sich führend.
Sion de Albanez selbst führte seine Männer an. Er würde Pablos Weib schon zum Sprechen bringen.
Eine seltsame Stille empfing sie. Der Wind strich leise und kaum spürbar vom Meer herbei. Juan ritt um das Haus herum. Alle Türen und Fenster waren geschlossen. Er stieg vom Pferd und ging zum Eingang, der verschlossen war.
Mit einem gezielten Tritt, der die Tür aufspringen ließ, verschaffte er sich den Zugang zum Haus.
Sion de Albanez folgte ihm.
Im ersten Moment konnten die beiden Männer nicht viel erkennen.
Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Dann aber bemerkte Juan den auf dem Boden liegenden Körper.
Es war der leblose Leib von Margarita.
»Seht, Herr!«
Juan beugte sich über den Körper, im nächsten Augenblick schon bemerkte er, dass Margarita tot war.
»Sie ist hin, Herr!«
Madre de Dios!
Sion de Albanez ahnte, dass Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden.
Dieser Pablo und sein Weib … der eine verschwunden, die andere aus dem Leben. Das würde für Unruhe sorgen, für große Unruhe möglicherweise.
Die Leute würden damit beginnen, wenn sie es nicht schon längst taten, ihn zu hassen. Sie würden ihn mit ihren Blicken anklagen.
Sie hatten das Strafgericht mit verfolgt. Manche würden es für ungerecht gehalten haben. Dies mochte ihm noch egal sein.
Aber dass jetzt Pablos Frau tot war, dafür würden sie ihm die Schuld zurechnen.
Sion de Albanez fing an, sich im Haus umzuschauen. Er brauchte einen Einfall.
Sein Blick streifte ein scharfes Messer, auf den ein Lichtstrahl fiel, eines von der Art, wie die Fischer es bei ihrer Arbeit gebrauchten. Er trat näher heran und nahm das Messer mit der Klinge in die Hand, den Griff, auf dem wenig kunstvoll ein P, das für Pablo stehen mochte, eingeritzt war, unablässig auf die andere Handfläche schlagend.
Juan kannte seinen Herrn, wusste, dass er nachdachte und Schweigen die Pflicht war.
*
Am Mittag, als die Schreckensnachricht vom Tode Margaritas von Ohr zu Ohr eilte und die Sonne am höchsten Punkte stand und selbst die Schatten sich von ihr zurückzogen, formierte sich ein langer Zug.
Wenige Worte hatten ausgereicht, dass Fischer und Bauern und ihre Familien, die Frauen, selbst viele Kinder, die Siesta, die tägliche, die heilige, vergaßen und sich in der größten Hitze aufstellten, um wortlos ihren Protest gegen den Herrn zu erheben. Ein Vorgang unerhörter Art. Noch nie hatte es dergleichen gegeben.
Als der Zug noch weit von den herrschaftlichen Besitzungen entfernt war, wurde Sion de Albanez auf ihn aufmerksam gemacht.
Es passierte nichts an Außergewöhnlichkeit, dass nicht schon vor seiner Ankunft bekannt war.
»Herr, die Leute vom Dorf! Es sind so viele …!«
Sion de Albanez, in der Seele aufgeschreckt, ließ sich mit knappen Worten berichten, was im Gange war. Dann sandte er Juan, den Mann, auf den er sich in jeder Situation verlassen konnte, mit seinen Männern los. Doch was so oft gefruchtet hatte, war dieses eine Mal vergebliche Bemühung.
»Wo wollt ihr hin, ihr verdorbenes Pack? Geht an eure Arbeit!«
Im harten Ton, den er so oft gebrauchte, ging Juan die Anführer des Zuges an.
»Wo wollt ihr hin?«
Noch einmal stellte er mit bedrohlicher Ausstrahlung dieselbe Frage. Sein Pferd, einen mächtigen schwarzen Hengst, hatte er quer auf dem Weg zum Stehen gebracht.
»Lasst uns unseres Weges ziehen!«
Worte, die Entschlossenheit zum Ausdruck brachten.
Selbst als Juan sein Gewehr in Position brachte, blieb er unbeachtet. Die Menschen liefen an ihm vorbei, die Augen nur auf den Weg, der vor ihnen lag, gerichtet.
Ich kann nichts tun. Ich habe keinen Einfluss auf sie.
Eine schmerzliche Erkenntnis.
Ein Einsatz der Waffe unmöglich. Resignierende Gedanken.
Eine geraume Zeit danach hatte die aus dem Dorf herausgelaufene Menge sich vor dem imposanten Herrenhaus aufgestellt. Manche sahen es zum ersten Mal.
Juan verschwand über einen Nebeneingang in ihm und meldete sich nervös bei seinem Herrn zurück.
Von der Übermacht der Leute, Sion de Albanez wollte nichts davon hören.
»Warum habt ihr ihnen keinen Einhalt geboten? Wofür bezahle ich euch? Und warum statte ich euch mit den besten Waffen aus?«
Er ließ seiner Verärgerung freien Lauf.
»Herr, wie sollten wir …? Es sind so viele!«
»Schweig! Es ist nur ein Haufen zerlumpter Bauern, begleitet von ihrer unbedeutenden Brut und deren Müttern, die nur ins Haus und aufs Feld gehören!
Sie alle haben nichts zu sagen und zu fragen!«
Augenblicke angespannter Stille. Sion de Albanez strich sich wieder und wieder über den dünnen schwarzen Oberlippenbart. Dünner Ausfluss inne sitzender Unruhe.
Er ging zum Fenster des Salons, mehr war es ein Herantasten, schob den Vorhang ein wenig nur zur Seite, um sich ein Bild zu machen. Der Blick auf die Menschen, die schweigend da standen und nichts weiter unternahmen, als ihre Augen auf das Haus zu richten.
Unheimlich, dies seine Empfindung.
Sie schwiegen, ja, aber in ihrem Schweigen noch sagten sie genug. Zu viel sogar!
Es war eine Belagerung, eine Belagerung durch den Pöbel.
In ihren Blicken entdeckte er Feindseligkeit und Angriffslust. Und Fragen dazu. – Fragen, auf die er allein ihnen eine Antwort geben sollte.
Wo war Pablo? Was war mit seiner Frau geschehen, dass sie nicht mehr am leben war?
»Sag ihnen augenblicklich, dass sie gehen sollen! Ich dulde das nicht länger!
Wenn mein Vater dies sehen würde. Unfassbar!«
»Ich fürchte, Herr, dass sie nicht weichen werden!«
»Befiehl es ihnen, Juan! Drohe ihnen den Einsatz eurer Waffen an. Sag ihnen, dass ich die ersten verhaften lasse, wenn sie nicht sofort gehen! Alle müssen sie gehen … jetzt und augenblicklich!«
Einschüchterung als Fundament der Macht.
Die Leute aber blieben. Nicht einmal in die Luft abgegebene Warnschüsse konnten sie vertreiben. Schweigend zeigten sie die Schwäche ihres Herrn auf.
Innerlich stand Sion de Albanez vor dem Zusammenbruch. Mit Mühe nur konnte er die Fassade des mächtigen Mannes aufrecht halten.
Nachdem, was vorgefallen war, durfte kein Blutvergießen stattfinden. Diese Einsicht wenigstens hatte er, zugleich das schmerzliche Empfinden, dass ihm die Autorität abhanden gekommen war.
Hatte je einer seines Geschlechtes eine solche Demütigung erfahren? Von den eigenen Untertanen belagert und vorgeführt. Schimpf und Schande über ihn!
Wie sollte er jenen, die heute hier waren, zukünftig begegnen? Wie sollte er ihnen je wieder gebieten? Wie sollte er je wieder seine Ansprüche gegen sie rechtfertigen?
Und wie sollte er mit ihren stummen Anklagen, die sie fortsetzen würden, umgehen? Für alle Zeit würden sie ihn beschuldigen, das Leben von Pablo und den Seinen zerstört zu haben.
Sein Vater hatte schon den Tod des Sohnes zu verantworten.
Sion de Albanez war sich sehr wohl um diese seit langem unausgesprochen im Raum stehende Anklage bewusst. Und diese Anklage kam jetzt gänzlich zum Tragen. Jetzt, da dieser kleine schattenlose Teufel und Pablo verschwunden waren und seine Frau nicht mehr lebte, lastete sie zusätzlich auf ihm.
Häufig war in diesen Tagen der Name Frederico wieder gefallen. Die Erinnerung an ihn war aufgelebt.
Wie nur konnte er sich von allen Anschuldigungen befreien, wie nur?
Sion de Albanez fand in seiner Anspannung zu keinem klaren Gedanken. Er dachte nur an die Leute da draußen. Die Empfindungen, die ihn heimsuchten, die ihn gar überfluteten, waren unerträglich.
Endlich in der größten inneren Verzweiflung bahnte sich der Ansatz eines finsteren Plans den Weg vom kalten Herz in seinen Geist.
*
Wenige Tage später konnte Joaquin aus der Ferne sein Dorf sehen. Dahinter das Meer mit seiner bekannten lauten Brandung, die noch hier oben zu hören war und ihn zu begrüßen schien.
Seine Seele, in der Einsamkeit und Finsternis des Verlieses vollkommen entleert und stumpf geworden, begann sich wieder zu füllen. Doch es fehlte die Freiheit. Er sah auf seine gefesselten Hände.
Die Überlegung, noch einmal die Flucht zu wagen, war nicht beiseite zu schieben. Doch würde er keine Chance auf ein Entkommen haben.
Mit der Schwäche seines Körpers und der Unfähigkeit, seine Arme einzusetzen, würde es ihm nicht gelingen, sich von seinen Begleitern, darunter der verhasste Juan, entscheidend abzusetzen. Warum nur hat man mich hierher gebracht?
Die Aussage, seine unmittelbare Schuld am Tode von Gabriel prüfen zu wollen und in der Örtlichkeit das Geschehene noch einmal nachzustellen, konnte mit der Wahrheit nicht viel zu tun haben. Die verstohlenen Blicke der Männer, die mit ihm ritten, sie sagten ihm etwas anderes als ihre Münder.
Er musste es noch einmal wagen! Was konnte er sich schon damit vergeben?
Seine Flucht aus dem Gefängnis war auch gescheitert und doch lebte er noch.
Für den Ausbruchversuch war ihm entgegen seiner Erwartung auch keine Gewalt zuteil geworden, ausgenommen, dass er mit rabiater Gewalt in eine andere Zelle zurückgebracht worden war.
»Da, sieh dir dein Dorf an, und dann fangen wir an, über alles zu reden!«
Joaquin vermochte sich von den Umständen nicht frei zu machen.
Der Blick hinunter auf sein Dorf und auf das im noch tiefen Licht silbrig glänzende Meer waren grandios. Doch er konnte ihn nicht so verinnerlichen wie tausendmal zuvor, wo er hier oben gestanden hatte.
Er musste weiter an die mögliche und doch auch unmögliche Flucht denken.
Was wollen sie jetzt mit mir anfangen? Mit mir reden? Wozu soll das führen?
Egal! Er würde sich anhören, was sie zu sagen hatten. Vielleicht war es auch gut, auf Zeit spielen zu können. Zudem war hier, wo er jetzt stand, nicht an Flucht zu denken.
Joaquin schaute sich um.
Nein, das Gelände war zu flach. Eben noch waren sie an einer für ihn günstigeren Stelle vorbeigekommen. Auf dem Rückweg würde er dort die Flucht versuchen.
Hier jetzt nicht! Nein, nicht hier!
Das Gelände musste steiler sein, musste so steil sein, dass ihm niemand zu Fuß folgen konnte.
Die Stelle, die er zuvor bemerkt hatte, war gut geeignet. Nur mit Rutschen würde man ihm vielleicht nachkommen können.
Die große Abschüssigkeit konnte ihm aber auch zum Verhängnis werden. Er hatte die Hände nicht frei, das Risiko, unkontrolliert abzurutschen und sich zu verletzen oder das Leben zu verlieren, war groß.
Doch er hatte keine andere Wahl.
In dem plötzlichen Wissen, etwas gegen seine Gegner ausrichten zu können, wurde er ruhiger. Er hielt den Blick weit nach draußen aufs Meer gerichtet, spürte den frischen Morgenwind, der die Klippen hinauf kam, auf seiner bleich gewordenen, unrasierten Gesichtshaut und hörte die lauten Schreie der Möwen von weit her. Die Welt war einzigartig schön und alle Entbehrung nicht im Stande, ihren Glanz zu unterbinden. Selbst diese Situation, in der er sich befand, konnte den Zauber nicht zerstören.
Wenn er diese Geschichte hier, gleich wie, überstehen würde, dann würde er an diesem Platze eine Kapelle, eine schöne weißgetünchte Kapelle zu Ehren der heiligen Jungfrau Mutter Gottes errichten. Eine große Statue von ihr würde dem Dorf den Schutz, den es brauchte, von hier oben zukommen lassen. Dieser Platz hier sollte ein Ort der Heiligkeit werden. Ein Ort, hoch über seiner Heimat, der die himmlische Heimat offenbarte.
Ein warmer Strom durchfloss Joaquin. Er spürte, wie ein helles Licht, stärker als das der Sonne seiner spanischen Heimat, seine Seele zum hellsten Strahlen brachte. Der warme Strom verstärkte sich zu einem Glühen.
Der Himmel war nah, doch noch einmal, das letzte Mal, trat das Irdische an ihn heran.
Das Glühen wurde ein heißer Schmerz. Es war der Schmerz eines starken Stiches, ausgeführt von Juan, der plötzlich hinter ihm stand.
Joaquin verstand nicht. Und es blieb ihm auch keine Zeit mehr, irgendetwas zu verstehen.
Die Sonne in seinem Innern stürzte ab.
Ein weiterer Stich, den Juan ihm versetzte, bekam er gerade noch zu spüren, aber er fühlte schon keinen Schmerz mehr. Eine tiefe Schwärze überzog seinen Horizont und trennte ihn vom Licht und vom Leben.
Er war tot, erstochen mit dem Messer von Pablo, das in seinem Leichnam stecken blieb, gestorben durch einen feigen, hinterhältigen Angriff und dafür, dass sein Herr, der edle Sion de Albanez, seine Autorität wieder herzustellen in der Lage sein würde.
Alles würde jetzt einen Sinn bekommen. Das Verschwinden von Pablo, nachdem er offenkundig Joaquin getötet hatte. Aus Rache, weil dieser Gabriels Tod zu verantworten hatte. Einer der mitgekommenen Wachleute, die völlig ungerührt den Mord an Joaquin verfolgt hatten, hatte dem Toten das von ihm unterschriebene Geständnis in die Kleidung geschoben. Es sollte weiteren Beweis liefern.
Jetzt erklärte sich auch, warum Margarita nicht mehr lebte. Die Scham und die Überforderung durch alles Geschehene hatte sie in den Tod getrieben.
Nach verrichteter Arbeit trennten sich die Wege von Juan und den Wachsoldaten.
Während diese nach Cadiz zurückritten, um Enrique Lopez, dem Kommandanten, den Vollzug der feigen Tat zu melden, tat Juan das Gleiche bei seinem Herrn.
Zurück blieb der tote Joaquin, der für sein ehrenhaftes Tun mit dem Leben büßen musste.
Es sollte so aussehen, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Von Beginn an war alles konstruiert gewesen, die offen stehende Zellentür, der betrunkene Wachsoldat.
Und der Vater sollte nichts anderes vorbringen können, als dass der Sohn geflüchtet war. Das Schloss an seiner Zellentür diente dazu, dass er nicht mit ausbrechen konnte und als Zeuge verfügbar blieb.
Dass man Joaquin nicht mehr in seine Zelle hatte zurückkehren lassen und ihn in einen entfernt liegenden Gang gedrängt hatte, diente dem Zweck, dass Luis nicht erfuhr, dass alles nur ein abgekartetes Spiel gewesen war.
Notfalls mit Gewalt würde man ihm die Zunge lösen und ihn zu der Aussage bringen, dass der Sohn sich zur Flucht entschlossen hatte.
*
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.