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»Willst du einen Kaffee?«
»Einen Kaffee?«, fragte sie verwundert. »Wieso nicht?«
»Komm rein.«
Zögerlich kam sie rein. Traute sie Birne nicht? »Eigentlich habe ich Bernd gesagt, dass ich bald wieder da bin.«
»Ein Kaffee.«
»Ja, ich wollte in der Wohnung ein bisschen aufräumen und dann zurück. Du musst wissen, Bernd ist furchtbar eifersüchtig.«
»Und nicht zimperlich.«
»Wahrlich nicht. Ich kann dir sagen, manchmal ist das nicht leicht mit dem. Aber was erzähl ich dir das – das ist bestimmt unendlich langweilig für dich.«
»Nein, nein, ich will auch hin und wieder reden.«
Sie waren in seiner Küche angekommen. Birne machte sich an einer simplen Espressomaschine zu schaffen, die man auf die Herdplatte stellen musste. Sie gab gerade genug für einen – mehr hatte er lange nicht gebraucht. Simone saß an seinem Tisch, hatte den Ellbogen auf einen Prospekt seiner Zeitung gestützt und beobachtete ihn genau.
»Dann schieß los.«
»Hin und wieder, im Moment bin ich ganz zufrieden damit, dir und mir einen Kaffee zu kochen.«
»Hast nicht oft Gäste, nicht?«
»Nein, wenn ich ehrlich bin.«
»Ich habe dich vorhin gesehen«, sagte Simone.
Birne schwieg.
Sie fuhr fort: »War es dir langweilig? Warst du allein?«
»Hat Bernd mich auch gesehen?«
»Hast du Angst, dass er die Polizei ruft? Das kann ich auch erledigen. Wieso rennst du uns hinterher?«
»Ich kannte die Frau Zulauf, ich bin ihr Nachbar gewesen. Es wurde noch nie eine Nachbarin von mir ermordet, so etwas bringt einen ein bisschen durcheinander, da macht man Dinge, die man normalerweise nicht machen würde. Kann sein, dass es am Haus liegt, an der Luft hier drin. Ich wollte gar nichts auf dieser Beerdigung, ich bin wieder gegangen, weil ich es doof fand, dort zu sein, sobald ich dort war.«
»Mir gibt das auch nichts, dieses Gebete, das muss hier halt so sein, sonst ist der Tote nicht abgehakt.«
»Besser, dass sie tot bleibt.«
»Wie meinst du das?«
»Hab ich mir in der Kirche gedacht. Wär blöd, wenn sie plötzlich wieder da wäre.«
»So als Zombie oder Vampir?«
»Genau. Lieber als Vampir, wenn es schon sein müsste.«
»Wieso?«
»Zombies haben kein Hirn. Allerdings merken sie davon auch nichts. Vampire leben ewig, ich kenne Menschen, die sagen, deswegen wollten sie kein Vampir sein. Denen ist jetzt schon langweilig, die wissen schon mit den 80 Jahren, die sie hier haben, nichts anzufangen, für die ist die Ewigkeit Horror.«
»Man teilt sich dann die Zeit anders ein.«
»Richtig. Ich wär gern Vampir, wenn ein Vampir käm, würd ich ihn reinlassen, Vampire muss man reinlassen, sonst können sie einem nichts tun.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Da komm ich nicht drauf, das stimmt ganz einfach.«
»Du hast mich eben reingelassen.«
»Jetzt bin ich aufgeregt. Ich hab schon mal eine Frau reingelassen, die hat sogar behauptet, dass sie mich beißen wird, getan hat sie es nicht.«
»Eigentlich wollte ich gar nicht rein. Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen?«
Er schenkte ihr ein und setzte sich eine zweite Ladung auf.
»Hast du Milch?«, erkundigte sie sich.
»Klar. Moment.« Er öffnete den Kühlschrank und stellte ihr den Tetrapak hin.
»Du wohnst noch nicht lange hier?«
»Eineinhalb Wochen.«
»Echt? Dafür sieht’s hier aber gemütlich aus. Richtig wohnlich.«
»Na ja, man tut, was man kann. Nein, im Ernst, ich habe die Wohnung von einer gemietet, die plötzlich ins Ausland musste und mir ihre Einrichtung da ließ. Ich soll aufpassen, und wenn sie an Weihnachten oder im August mal wieder hier reinschaut, dann entscheidet sie, was ich behalten kann und was wegkommt.«
»Hab mich schon gewundert: Poster von Surfern und Leuchttürmen, Mondkalender. Für schwul hätte ich dich eigentlich nicht gehalten.«
»Nein, obwohl der Kalender von mir ist. Ich kenn die, die den gemacht hat.«
»Deine Freundin?«
»Nein, ich bin allein zurzeit.«
»Soll ich dir das glauben oder sagst du das nur, weil du mit einer fremden Frau in deiner Wohnung bist?«
»Beweisen kann ich nichts. Obwohl ich mir auf jeden Fall überlegen würde zu lügen.«
»So?« Birnes Kaffee war nun auch in der Tasse, er saß mit ihr am gleichen Tisch und war ihr ziemlich nahe dabei.
Sie sagte: »Ich wollte dich eigentlich bitten, mir ein paar Möbel zu verrücken. Unten.«
»Schon wieder.«
»Wär supernett von dir. Ich würd mich auch revanchieren.«
Birne dachte an den Schnaps von Frau Zulauf. Mit ihr würde er sogar den saufen.
»Sollen wir es gleich packen, nicht dass dein Bernd eifersüchtig wird?«
»Ja, aber trink deinen Kaffee aus. Auf der Flucht sind wir noch nicht.«
Birne kostete seine Schlucke aus. Sie war bei ihm, und er fand sie wunderschön, die Simone.
Sie gingen runter zehn Minuten später. Simone sperrte auf und führte ihn gerade in die Küche.
»Der wär’s, der Schrank. Wenn du mir den ein wenig wegrücken könntest, hättest du mir mächtig geholfen.«
Das war ein Vorwand, das war Birne sofort klar. Dieser Küchenschrank war uralt, vielleicht 40 Jahre alt. Darauf lagen noch eine Brille und ein paar geöffnete Briefe, meist Einladungen und Spendenaufrufe für Blinde. Neben der Eckbank, die um einen Tisch mit einer Plastikblumentischdecke stand, lag ein Stapel alter gelesener Zeitschriften. Dazwischen erkannte er seine Zeitungen. Die Alte, dachte Birne.
»Hast du was?«, fragte Simone, weil er innehielt.
»Dort ist sie gelegen, nicht wahr?«, sagte Birne und zeigte auf den Boden vor der Spüle.
»Ja, das Blut war das Einzige, was die von der Polizei weggeputzt haben. Eigenartig, nicht? Ich habe mal einen Film gesehen, der ging um eine schöne junge Frau, die den Job hat, die Mordplätze von Blut zu säubern.«
»Eine schöne junge Frau wie du?«
»Die war schwarzhaarig. Ich bin blond.«
»Aber schön.«
»Danke.«
»Du bist mir schon mal im Fitnessstudio aufgefallen.«
»Echt?«
»Ja, ich bin auch öfter dort. Wohin soll der Schrank?«
»In den Gang bitte.«
Birne war wieder Möbelpacker. Er zog das Ding in den Gang und wusste nicht, wieso er das tat, wo alles nur ein Vorwand war. Er steckte in seinem Jogginganzug und schwitzte nun doch. Er schwitzte, weil er zupackte und schleppte. Simone half ihm, aber das hatte keinen Wert, sie langte nicht wirklich hin. Sie wollte nur, dass es nicht so aussah, als erledige er die Arbeit allein.
»Du, danke. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Ist mir total unangenehm, dich jetzt einfach so wegzuschicken, aber ich habe nichts, womit ich dich belohnen könnte.«
Sie hat vor allem keine Ahnung, dachte Birne. »Das letzte Mal habe ich Schnaps bekommen.«
»Von ihr?«
»Ja.«
»Den suchen wir.«
Der stand im Küchenschrank, den Birne gerade in den Gang geschoben hatte. Er hatte es klirren gehört und sich nicht getäuscht. Jetzt tranken sie Schnaps.
»Wäh.« Sie verzog das Gesicht. »Der ist ja scheußlich.«
»Finde ich auch, aber für mich schmeckt er nach Belohnung.«
»Weißt du was? Wenn du mich jetzt in Ruhe lässt und meine Arbeit machen, dann lade ich dich heut Abend auf einen Cocktail ein – zur Belohnung.«
»Ist in Ordnung. Die schöne junge Frau, die das Blut vom Boden putzt.«
Birne war glücklich, als er nach oben zu sich ging, so glücklich, dass er den Fernseher einschaltete, wo er schon mal den Jogginganzug anhatte.
Und duschen und sich sauber machen innen und außen und warten. Sie klingelte um 19.30 Uhr und holte ihn ab. Sie wusste was, wo man nett was trinken konnte, wenn er nichts Besseres wüsste. Wusste er nicht, ob das, was er wüsste, was Besseres wäre als das, was sie wusste und ließ sich auf sie ein. Sie führte ihn – sie konnten zu Fuß gehen – an den Rand der kleinen Fußgängerzone in eine Kneipe, die im Sommer eine Terrasse zum Draußensitzen hatte. Jetzt im Frühjahr, nachdem erst gestern noch Schnee gefallen war, setzten sie sich rein. Das sah ein bisschen nach alternativ aus, ein bisschen so, wie man es hier nicht erwartet hätte: Kahle Wände waren bunt angestrahlt, im großen offenen Raum standen Sitzgruppen aus verschiedenen Sesseln, Sofas und Stühlen, die nie die gleichen waren. Das Bier oder den Cocktail, zu dem sie ihn einladen wollte, musste man sich selbst holen an einer langen Theke an der Frontseite, über die man außer den Getränken stolz und aller Political Correctness trotzend Drehtabak verschiedener Arten verkaufte. »Tabaccherie« stand auf einem Neon leuchtenden Schild über der Kasse und den gespülten Gläsern. Es lief eine elektronische leichte Musik. Die Kneipe hieß Künstlerhaus, ein Schild wies eine Wendeltreppe nach oben zu einer Ausstellung. Simone führte Birne zu einem Mosaikrundtisch, ließ ihn auf einem Korbsessel Platz nehmen, ließ sich damit einen stoffbezogenen Bauernstuhl frei und fragte Birne, was er wolle. Birne wollte keine Experimente, er wollte ein Bier. Sie verschwand für einen Moment Richtung Theke zu einem schwarzhaarigen, ziemlich jungen, mageren und hübschen Mädchen. Birne schaute sich um und fand die meisten hier ziemlich jung und hübsch und fühlte sich wohl hier bei dem Sound und in Erwartung eines Biers mit Simone.
Der Mann sagte: »Servus« und »Darf ich mich da hinsetzen?«
Der Fremde war aus dem Nichts aufgetaucht. Was hätte er ihm verbieten können. Hilflos suchte er Simones Blick und Einverständnis. Sie stand da an der Theke, wurde bedient, wippte im Takt der Musik und lächelte zu ihm herüber.
»Bitte.«
Der Mann ließ sich nieder. Abgestandener Tabak- und Schweißdunst wehte zu Birne herüber. Der Mann war nicht mehr ganz jung, sah aber relativ frisch aus. Er schonte sich und seine Ressourcen, das sah man.
»Wie geht’s?«, wollte er wissen.
»Passt«, antwortete Birne kurz, weil er sich nicht mit dem unterhalten wollte, wenn Simone wieder da war.
Als sie zurückkam, fragte er sie, während sie sich auf einen Stuhl setzte, den sie von einem anderen Tisch holte: »Viele Studenten hier, oder?«
»Nein, weiß nicht, eher weniger«, antwortete sie ihm in ihrem leichten Ostakzent, der durch die Zeit, die sie hier verbracht hatte, hörbar am Schwinden war.
»Nicht?«
»Die Studenten hier sind nicht so drauf, die sind sehr zielstrebig und wollen keine Kneipen wie die hier. Die wollen einmal im Semester eine Party, bei der sie sich besinnungslos saufen können und den Rest der Zeit lernen und Praktika machen. Lass dich nicht mit denen ein, außer du willst langweilig werden.« Sie streckte ihm ihre Halbe entgegen, um anzustoßen. Birne fand es sympathisch, dass sie wie er Bier trank.
»Hast du studiert?«
»Ja, eine Zeit lang, bis ich es langweilig fand. Chemie in Greifswald. Aber die wollten uns keine Freude lassen im Leben, dann habe ich mir gedacht: Das ist doch die Zeit, die wilde im Leben, wenn man studiert, und das ist mir zu stressig; also hab ich abgebrochen und bin hierher.«
»Und was machst du hier?«
»Ich hab mich zur MTA ausbilden lassen.«
Da meldete sich der Fremde: »Es sind eine Menge Studenten, so wie du: die herausgefallen sind, aber das ist gut, ist eh ein blödes System, da ist es gescheiter zu scheitern.« Er unterdrückte seinen einheimischen Akzent, wenn er ins Philosophische abschweifte.
Simone und Birne ignorierten ihn beide, ohne sich abzusprechen, fanden es blöd, belästigt zu werden, aber auch cool, sich gemeinsam abzuschirmen, keinen mehr reinzulassen zu sich in ihre junge Gemeinschaft.
Birne konnte mit Abkürzungen nichts anfangen, er wusste, was USA bedeutet und SPD, und dass man sich einen Haufen Zeit im Leben sparen konnte, wenn man diese Wörter nie ganz aussprach, aber alle anderen Abkürzungen regten ihn auf, weil er immer überlegen musste, was die anderen damit meinten und damit die Zeit mit Überlegen wieder einbüßte, die er sich selbst mühsam gewonnen hatte durch das Verwenden von Abkürzungen. MTA.
»Was ist MTA?«
»Medizinisch-technische Assistentin.«
»Ach so. Und da arbeitest du jetzt auch?«
»Ja.«
»Klinikum? Labor und so?«
»Genau. – Und du? Was machst du so? Außer in fremden Wohnungen wühlen?« Sie lachte dabei, und das bedeutete, dass sie ihm verziehen hatte, was Birne gut fand. Er hatte sich zu etwas Albernem hinreißen lassen und hatte dafür das Rendezvous mit dieser wunderbaren Frau geerntet. Birne erzählte ungern von sich, wenn sein Leben so wenig aufregend war wie zurzeit; er ließ sich mühsam rausziehen, was er hier trieb, was er vorher in München gemacht hatte. Dass er hier war, weil ihm diese Stadt wegen einer anderen Frau zu klein geworden war, verschwieg er.
»Bist du da in einem Labor?«, wiederholte der wildfremde Mann Birnes Frage an Simone. Er hatte halb zugehört und halb nicht, wollte aber auf jeden Fall in ihr Gespräch eindringen. Warum? War er einsam? Wahrscheinlich. Birne war überfordert. Hätte ihm jetzt gerne eine reingesemmelt, um Simone zu beeindrucken. Sie sagte: »Ja.« Und der Mann darauf: »Aha.«
»Was machst du da?«, wollte Birne wissen.
»Untersuchungen.«
Der Fremde lachte, lachte, als ob er gefragt werden wollte, warum er lachte.
»Warum lachen Sie?«, fragte Birne.
»Sag du«, sagte der Mann.
»Du.«
»Was sollen sie sonst machen im Labor? Untersuchungen halt. Ich bau doch auch keine Kegelbahn, damit die Besucher dann drauf Schach spielen.« Klar. Simone lachte laut. »Entschuldigung.« Hand vor den Mund, böser Blick von Herrn Birne.
Jetzt Gelegenheit für den Mann für Lebensgeschichte: »War auch mal in einem Labor, hat mir nicht gefallen, wirklich nicht. Ich brauch was anderes, bin dann raus auf die Straße – im wörtlichen Sinn: Ich wurde Kraftfahrer. Ich weiß nicht, wie alt ihr mich schätzt – ihr seid ja noch jung – aber ich habe nun 25 Jahre auf dem Bock eines Schleppers verbracht. Dann war das auch Scheiße wegen dem Kreuz und so und immer dasselbe hirnlose Gelaber aus dem Radio, ganz egal, ob Bayern 1 oder Antenne, immer dasselbe und die Lieder, ich sag’s euch, kein Cash, immer nur Retortengruppen, vom Bohlen gecastet, von RTL über einen Sommer verheizt und du sitzt und fährst und denkst: Mit dieser Musik wirst auch du verheizt, ruinierst dich für irgendeinen Spediteur, der für einen anderen Unternehmer Vieh durch die Gegend transportierten lässt, eine auf den Deckel bekommt, wenn ihm eine Henne verreckt und dieselbe bekommst du auch auf den Deckel mit dem Ergebnis, dass du eine Nacht mehr eine Stunde weniger schläfst, dich für den Kapitalisten aufbrauchst. Nein, hab ich mir gesagt, wann soll das System denn zusammenbrechen, wenn du nicht aussteigst. An dir ist es, geh da raus aus dem System.« Jetzt zupfte er Simone am Ärmel und die sah aus, als hätte sie im Augenblick unterschrieben, hätte er ihr einen Zettel hingehalten, auf dem stand: »Ich steig aus aus dem System.« Aber wohin steigen wir aus? Wovon sollen wir dann leben? Wer bezahlt uns das Nutella aufs Brot und wer uns das Brot?
»Was machst du dann jetzt?«, fragte Birne.
»Wie, was mach ich jetzt? Ich sitz mit euch hier und red.«
Simone lachte.
»Wovon lebst du?«
»Von Luft und Liebe. Liebe. Für euch ist das immer so entscheidend: Wer du bist, ist definiert durch das, was dir das Geld bringt. Du isst kein Geld, du bist nicht dein Geld, Alter. Kapier das.«
Endlich Simone: »Aber wenn gar keiner mehr arbeitet, dann gibts auch nichts mehr, das ist doch dann auch blöd. Vielleicht müssen wir weniger arbeiten und das Leben mehr genießen, das ist richtig, aber ganz auszusteigen, können wir uns auch nicht leisten.«
»Ich rede doch auch nicht davon, nicht mehr zu arbeiten, ich meine, Arbeiten ist gut, wenn es einen Nutzen bringt – ich meine dir und jenseits vom Geldbeutel. Ich kann mit meinen Händen so viel vollbringen: Wozu soll ich in ein Arschloch-Möbelhaus fahren, wenn ich mir meinen Schrank, meine Küche selbst zimmern kann? Damit die ihrem fetten Ottfried Fischer ihre Werbung zahlen können? Damit der noch mehr fressen kann. Wozu brauch ich einen Supermarkt, wenn ich mir meine Kuh, mein Schaf, mein Huhn selbst halten kann? Burger King? McDonald’s? Kentucky Fried Chicken? Subway? Wusstest du, dass die für die schicken Markenklamotten, die ihr bei H&M kauft, in China Kinder zum Teil 18 Stunden am Tag schuften lassen ohne Feiertag, ohne Urlaub, für 1,80 Euro am Tag? Die sind glücklich. Du fragst dich, wie kann man da glücklich sein darüber, über zehn Cent in der Stunde? Aber in China sind selbst 1,80 am Tag ein Haufen Geld und die ernähren damit ihre Familien auf dem Land. Da haben sie nämlich noch viel weniger, im Prinzip gar nichts und weißt du warum: Die haben ihre Hühner schlachten müssen, ihre Hühner, von denen sie gelebt haben: Fleisch, Eier, Federn – praktisch alles haben die verarbeitet, den Kot zum Hausbau und so weiter und dann mussten sie sie schlachten. Wieso? Wegen uns. Wegen dem Westen, weil wir behauptet haben, da kommt die Vogelgrippe her, davon müssen wir alle sterben. Aber Pfeifendeckel: Die haben Angst hier, dass sie ihre Hühner nicht mehr verkaufen können und deswegen, wegen unseren deutschen Hühnern, müssen in China die Menschen verhungern oder sich ausbeuten lassen. Was ist das für eine Wahl?«
»Das ist ja entsetzlich«, meinte Simone.
Entsetzlich fand das auch Birne und bot sich an, für Simone und sich neues Bier zu besorgen. Simone hatte im Schock über die furchtbaren Zustände anderswo schier vergessen zu trinken, wollte nichts Neues, Birne dagegen hatte fast schon manisch getrunken, um einen Moment wegzukommen, an die Theke zu kommen zu anderen Menschen. Der Fremde hatte leer, bat Birne, ihm ebenfalls ein neues Helles zukommen zu lassen. Er zog eine Tabaktüte heraus, drehte sich eine extrem dünne und harte Kippe und bot Simone ebenfalls an. Die lehnte ab, weil sie erstens nicht rauche, zweitens nicht drehen könne. Der Fremde übernahm den zweiten Part für sie, sie musste nur noch rauchen. Birne rauchte auch, selbstverständlich nur innerlich.
Das dünne Mädchen mit der blassen Haut und den schwarzen Haaren am Ausschank war ungeheuer freundlich, Birne gefiel sie außerordentlich, optisch und wahrscheinlich auch seelisch das Gegenstück zu Simone. Er wollte mit ihr mehr reden als »Was kriegst du?« und »Zwei Helle, oder halt: ein Dunkles, weil heute Beerdigung war.«
Sie bückte sich, holte die Flaschen aus dem Kühlschrank, Birne dachte: Simone hat einen Freund, für den bin ich der andere Mann, ich habe gar kein Recht, eifersüchtig zu sein. In 666 von 667 Fällen wird dir eine Frau, die du einem andern ausspannst, auch wieder ausgespannt. Ich habe gar kein Recht, mich in Simone zu verlieben, schon allein, um mich zu schonen und weil ein Mensch niemals das Eigentum oder auch nur der Besitz eines anderen sein kann oder darf. Wo kämen wir denn da hin? Nach China?
»Hat euch der Künstler erwischt?«, fragte das Mädchen, das Birne Bier reichte.
»Der Künstler?«, fragte Birne und wähnte sich im Gespräch.
»Ja. Der stellt aus, oben im ersten Stock. Habt ihr euch das noch nicht angeschaut? Schaut das lieber an, ist vielleicht besser, als ihm zuzuhören.«
»Sicher.«
»Kostet auch nichts – wenn ihr nichts kauft.«
»Klar. Danke.«
»Stell dir vor: Er ist Künstler, er stellt hier aus«, teilte Simone Birne mit, als er zum Platz zurückkam, klopfte dabei auf seine Schulter, was ihr möglich war, weil sie sich neben ihn gesetzt hatte.
Der Mann nickte und sagte: »Hast du mir ein Dunkles mitgebracht? Das ist nett, das trink ich auch gern.«
»Das Dunkle ist für mich, ich hab einen Anlass, das Helle kostet 2,50. Bitte.«
»Nachher. Ich muss wechseln. Aber war mir klar, dass du als Erstes übers Geld reden würdest, wenn du zurückkommst, war mir klar.«
»Du hast mir ja nichts von deiner Kunst gesagt.«
Simone forderte mehr, als sie bat: »Oh bitte, lass uns nach oben gehen.«
Sie gingen nach oben und vergaßen dabei ihre Bierflaschen nicht.
Zwei Räume oben für die Kunst.
Da hingen Bilder und in der Mitte standen Skulpturen.
»Sind die alle von dir?«, fragte Birne, der froh war, nicht aufrichtig beeindruckt zu sein. Schwarze Strichmännchen oder -Mädchen vor verkrakelten Bäumen, an denen statt Blätter etwas hing, das getrocknete Scheiße hätte sein können.
»Das ist meine Klima-Serie.«
»Interessant.«
Simone meldete sich von einem der Bilder: »Willst du dafür wirklich 2.000 Euro?«
»Klar. Aber den Preis mach nicht ich.«
»Nicht du?«
»Nein, das macht der Faktor.«
»Der Faktor?«
»Jeder von uns Künstlern hat einen Faktor, der hängt davon ab, wo wir, wenn wir studiert haben, wo wir ausstellen, wie wir verkaufen und der wird dann multipliziert.«
»Womit?«
»Mit den Maßen des Bildes.«
»Hammer. Aber dann ist ja der der Depp, der kleine Bilder malt.«
»Das kann man so sagen, aber manchmal wirkt es auf einer Postkarte einfach besser.«
»Was?«
»Die Aussage.«
»Ach so.«
»Und das Tolle ist, dass das international anerkannt ist. Zeig mir ein Bild in einer Ausstellung in Schanghai, Beijing oder Mumbai, sag mir die Maße und den Preis und ich kann dir den Wert eines Künstlers sagen.«
»Seinen Faktor.«
»Genau.«
»Verkaufst du gut?«
»Darauf kommt es doch nicht an. Ich sag immer, wenn die Menschen das sehen und dann in ihnen was losgeht, sie versuchen, nur ein paar Minuten am Tag anders zu leben, als sie es jetzt tun, dann hab ich schon was bewirkt. Und natürlich sehen es mehr Menschen hier, als wenn die Bilder in irgendeinem Wohnzimmer hingen.«
»Wie rechnet man denn deine Skulpturen ab?«, fragte Birne dazwischen.
»Auch mit dem Faktor. Natürlich ist das etwas komplizierter oder auch einfacher: Die dritte Dimension wird nicht mitmultipliziert.«
»Dann bist du ja ein Depp, wenn du in der arbeitest.«
»Darum geht es doch gar nicht. Es geht um die Wirkung.«
»Ach so. Welche Wirkung?«
»Na, du sollst endlich anfangen, anders zu leben. Am Anfang nur fünf Minuten am Tag, dann zehn, so nach einer Woche, wenn du eingesehen hast, dass es gut für dich ist, dann immer mehr, 20 in der Woche drauf, dann 40 und so weiter.«
»Immer das Doppelte.«
»Genau.«
»Und was genau«, erkundigte sich Birne, »könnte ich anders machen, die fünf Minuten am Tag?«
Anstatt ihm gleich zu antworten, wühlte der Künstlermann in einer Herrenhandtasche, die der umhängen hatte, und zog einen etwas zerknitterten Flyer heraus. »Da!«
Birne nahm das Papier und empfing eine Einladung zu einem Vortrag nächste Woche, bei dem er und alle anderen, die möglichst zahlreich erscheinen sollten, über die Gefahren von Handystrahlen aufgeklärt werden sollten: Kopfweh, Schlaflosigkeit, Erbrechen, schrecklicher Krebs.
»Hast du ein Handy?«, fragte der Künstler.
»Hab ich«, antwortete Birne selbstbewusst.
»Schlecht.«
»Warum?
»Macht dich kaputt und noch schlimmer, weil du im Prinzip mit dir leider machen kannst, was du willst: die in deiner Umgebung auch.«
»Und jetzt soll ich es ausschalten, diese Woche fünf Minuten, nächste Woche zehn und so weiter, bis 24 Stunden voll sind.«
»Wär doch schön.«
»Nur weil ich deine Bilder gesehen habe.«
»Zum Beispiel.«
»Was aber ist, wenn ein Freund von mir in Gefahr gerät, mich erreichen will, damit ich ihn aus der Patsche ziehe und ich gerade meine fünf, respektive nächste Woche meine zehn Minuten habe? Dann ist er in dem Moment den Abgrund hinabgestürzt, in dem ich wieder erreichbar wäre.«
Jetzt begann der andere zu lachen, Birne lauthals auszulachen, so direkt, dass es Birne richtig unangenehm wurde – er wollte in diesem Augenblick weg sein.
»Woher willst du denn einen Freund haben, der hier in Gefahr gerät? So in Gefahr gerät, dass er dich braucht? Du bist hier nicht im Wilden Westen, du bist im Allgäu, und hier passiert niemandem was, außer er tut sich’s selbst an. Aber auf dich selbst musst du aufpassen können, das nimmt dir keiner ab. N’Abend!« Er flitzte auf zwei, ein junges Pärchen, das gerade die Treppe hochkam, zu. Er reichte ihnen Flyer und stellte sich ihnen für Fragen zur Verfügung. Birne war entlassen und erlöst.





