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Eine Zeitung wäre nicht schlecht.
Er musste aufhören an die blöde Zeitung zu denken, das würde ihn noch zum Kleingeist machen.
Er könnte, solange die Geschäfte offen hatten, noch einmal rausgehen und sich ein paar Halbe Biere kaufen, eventuell auch mal bei diesem Korbinian vorbeischauen, wenn es mit dem bald rum war, sollte man ihn nutzen, um ihn später gescheit bedauern zu können. Einfach mal reinschauen, und wenn es nett war nach dem ersten Bier, einfach sitzen bleiben und den Abend an sich vorbeiziehen lassen. Allerdings, wenn es zu nett würde, könnte es auch sein, dass ihm der nächste Morgen mehr zum Feind würde als der vergangene, und das konnte er nicht wollen, nicht am zweiten Tag, an dem er hier etwas zu leisten hatte. Birne grinste. Zu leisten hatte.
Er zog sich den Kittel noch mal über – es wurde kalt am Abend trotz der Versprechungen, die die Frühlingssonne tagsüber gemacht hatte – und ging aus seiner Tür in den Hausgang, wo er die Kinder wieder hörte und auch den Fernseher etwas lauter und erkannte, dass derjenige zwar schlecht hörte, das Haus aber auch großzügig mit den Geräuschen durch seine Wände umging. Im ersten Stock schepperte eine Tür, dort, wo er meinte, den einzigen deutschen Namen in der Früh entdeckt zu haben, und der Fernsehlärm wurde lauter. Er bremste seinen Schritt, blieb stehen, nichts änderte sich. Unten wartete jemand auf ihn. Das passte ihm nicht. Er wollte seine Ruhe, er konnte jetzt aber auch schlecht zurück hinter seine sichere Tür, wie hätte das denn gewirkt?
Irgendjemand hatte bemerkt, dass er noch mal raus war, und lauerte ihm jetzt auf. Er hatte keine Lust auf eine Begegnung, aber was konnte sie ihm anhaben? Er würde freundlich grüßen, den Blick fest auf den Boden richten und ins Freie abhauen. Er schuldete niemandem etwas und er wollte auch nicht, dass ihm jemand etwas schuldete.
Er ging nach unten.
»Guten Abend.« Eine alte, kleine Frau streckte ihre weißen Haare wirr in die Luft und schaute durch große, fensterglasdicke Brillenscheiben auf ihr Opfer, Birne. Sie steckte mit ihrer rosafarbenen Bluse in einer blauen Blumenschürze. Birne wusste, dass er, wenn er jetzt irgendwie reagierte, Lebkuchen fressen musste, bis er fett genug war für den Grill. Er nickte lässig.
»Neu hier?«, wollte die Alte ihn weiter zu einem Gespräch locken.
»Neu ist relativ.«
»Neu ist relativ«, wiederholte sie und lachte zahnlückig. »Noch ein bisschen an die frische Luft?«
»Ein bisschen.«
»War ein schöner Tag heute, aber wird kalt am Abend, da soll man sich nicht täuschen. Aber Sie sind ja warm eingepackt, Ihnen wird nichts passieren.«
»Hoffen wir’s.«
»Ja, hoffen wir’s. Sagen Sie, junger Mann, haben Sie schnell zwölf Minuten Zeit für eine arme, schwache Frau?«
Jetzt hatte Birne praktisch schon verloren.
»Worum geht es denn?«, wollte er wissen.
»Ich habe es doch gewusst, schon als ich Sie einziehen sah, dass Sie ein feiner Mensch sind. Ich habe es gewusst.«
Birne hatte große Lust, ihr das Gegenteil zu beweisen und sie einfach mit ihrem nackten Lob auf der Treppe stehen zu lassen.
Ein Enkel von ihr war wohl während des Tags da gewesen und sie in dieser Zeit gerade beim Einkaufen. Er hatte ihr einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, dass der Schrank, den eine unlängst verstorbene Cousine hinterlassen und ihr vermacht habe, nun von ihm gebracht und im Keller gelagert sei. Ob er, Birne, nun so freundlich sein und das Möbel zu ihr in den ersten Stock tragen könne. Sie sei alt und schwach und er jung und kräftig. Birne fragte sich, warum das nicht der blöde Enkel machen konnte, mochte aber lieber schnell hier wieder raus und willigte ein.
Die alte Frau, die sich als Frau Renate Zulauf vorstellte, führte ihn in den Keller, wo ein meterhoher absolut uninteressanter Wohnzimmerkasten stand.
»Der wär’s. Schaffen Sie den?«
»Kein Problem.«
Birne machte sich dran und hasste sich vom ersten Augenblick an. Er musste unbedingt an seiner Unhöflichkeit arbeiten. Er war zu gut zu den Menschen. Was taten sie dafür?
Umständlich und unter starkem Schwitzen schob er den Schrank die Kellertreppe hoch. Frau Zulauf äußerte sich zunächst sehr positiv über die Stärke Birnes, begann aber bald, ihn zu ermahnen, er solle doch aufpassen, nicht zu oft die Wand zu touchieren, sie habe keine Lust, neu lackieren zu lassen, so viel sei das Erbstück nun auch nicht wert.
»Ich geb schon Obacht, keine Sorge.«
»Ich meine ja nur.«
Schwer schnaufend knallte Birne den Kasten vor der Eingangstür hin.
»Was ist?«
»Nur kurz schnaufen und Jacke ausziehen.«
»Allein würde ich das nie schaffen.«
»Das ist doch kein Problem.« Birne packte wieder an. Woher kam diese ganze Höflichkeit auf einmal? Wollte er gut sein zu den Menschen? Wollte er wieder Liebe geben? Schon möglich.
Konnten sie nicht aufpassen? Die Eltern kamen ums Eck. Die wohnten hier seit Jahren und wurden doch nicht gebeten von der alten Frau, die sie jetzt übertrieben freundlich grüßte. Als ob sie Angst hätte. Birne grüßte auch, so freundlich, wie es ihm die Last erlaubte. Ein türkisches Ehepaar mit zwei wilden Kindern, nahm Birne unter Schwitzen wahr, kam aus dem Erdgeschoss geschossen und zwängte sich an ihm vorbei.
»Ausgesprochen nette Leute«, berichtete Frau Zulauf. »Ich wohne hier seit 64 Jahren. Können Sie sich das überhaupt noch vorstellen? Da war noch Krieg. So, jetzt haben wir es gleich. Mein Mann ist 1969 gestorben. Das war schlimm. Gott hab ihn selig. Und diese Familie wohnt hier seit drei Jahren. Ausgesprochen nette Leute. Auch die Kinder grüßen immer freundlich, wo man doch sonst immer meint, die Kinder von den Ausländern grüßen nicht. Aber die hier grüßen. Wenn Sie das einfach dorthin stellen, mein Enkel kommt die Tage noch mal vorbei und schiebt es dann richtig hin. Mei – vielen Dank. Warten Sie.«
Birne hatte den blöden Kasten die zwei Treppen in den ersten Stock getragen, hatte trotz Aufpassens mehrmals die Möbel im Gang der Wohnung der Zulauf gestreift, war im Wohnzimmer angekommen und endlich erlöst worden. Hier, dachte Birne, sah es aus, wie er es erwartet hatte. Ein grüner Teppichboden, eine 20 Jahre alte Sitzgruppe, die mit nach Katzenhaar stinkenden Decken belegt war. Den halben Bildschirm des Fernsehers, der in einer dunkelbraunen Wohnzimmerschrankwand steckte, bedeckte ein gehäkeltes Tüchlein, darauf standen Familienbilder, Enkelzeichnungen, Engelstatuen, eine Maria, eine Pieta – jede freie Fläche des Schranks bedeckte Tand. Es stank nach Altfrauenwohnung. Im Fernsehen lief jetzt die Tagesschau – Birne hatte den Ladenschluss verpasst durch seine Freundlichkeit.
»So.« Sie war wieder da mit einem Tablett aus der Küche, darauf stand wiederum eine Flasche mit bescheuertem Likör, den Birne aus einem verstaubten Glas zu trinken hatte. Außerdem bekam er zehn Euro geschenkt, die er, so beschloss er, stehenden Fußes versaufen würde.
»Allein hätte ich das nicht geschafft, ich bin alt, seit über 60 Jahren wohne ich hier. Einmal – im Krieg war das noch – hatten wir Fliegeralarm. Und wir mussten uns im Keller verstecken. Können Sie sich das vorstellen?«
»Nein, danke für den Schnaps.«
»Sie sind jung. Seien Sie froh, dass Sie jung sind. Das Alter ist nicht schön, besonders nicht, wenn man einsam ist. Haben Sie eine Frau?«
»Nein«, gab Birne zu.
»Schauen Sie, dass Sie schnell zu einer kommen, Sie sind jung, Sie bekommen schon noch eine. Einsam ist scheiße.«
Da hatte die Alte recht.
»Manchmal läuft’s halt nicht so, wie’s soll.«
»Das ist wahr. Wollen Sie noch einen Schnaps?«
»Ein anderes Mal gern. Jetzt muss ich weiter, ich bin dringend verabredet.«
»Ich versteh schon, die jungen Leute.«
An der Tür drehte sich Birne noch mal um: »Sagen Sie mal, die Zeitung …«
»Ja?«
»Die kommt schon hierher, wenn man sie bestellt?«
Frau Zulauf schaute ihn fest an, als ob etwas mit ihm nicht stimme. »Wieso?«
»Weil sie mir heute Morgen gefehlt hat.«
Frau Zulauf schaute apathisch ins Leere. »Komisch.«
»Aber Sie wissen nichts?«
»Nein. Aber Sie müssen unbedingt mal wieder vorbeischauen, ich hab noch ganz anderen Schnaps, den werden Sie mögen. Das war nicht das letzte Mal.« Sie lachte wie eine Hexe.
Birne versprach wiederzukommen, ohne zu ahnen, dass es diesmal wirklich das letzte Mal bei ihr war, dass er tausend Mal leichter wieder ihren Likör getrunken hätte als den scheußlichen Kelch, den das Schicksal schon für ihn am Brauen war.
Jetzt musste er sich um seinen eigenen Rausch kümmern.
2. Tag
Birne bereute seine Zusage. Birne hatte Kopfweh, und schlecht war ihm auch. Birne hatte sich gedacht, gestern, wenn einsam, dann gescheit einsam und nicht mehr Wirtschaft und mit noch mehr Menschen verkehren. Er hatte sich einen Sixpack von der Tankstelle geholt und dabei den Zehner der Frau schon fast aufgebraucht. Ziemlich lustlos hatte er den weggetrunken und dann, leicht angesoffen vor einem witzigen Programm im Fernseher, beschlossen, noch mal rauszugehen und sich neues Bier und eine kleine Flasche Kräuterschnaps zu besorgen. Das war sein Fehler, und er sah ihn um 4 Uhr früh ein. Der Wecker klingelte, und Birne musste auf die Jagd mit Werner. Er hasste sich kurz, überlegte sich, ob er Werner anrufen und alles absagen sollte.
Konnte er nicht, gleich am zweiten Tag.
Zweiter Tag. Einen tollen Anfang legte er da hin. Wenn, dann musste er sofort raus, sonst würde er wieder einschlafen.
Er stand auf, versuchte dabei, mit möglichst wenigen Gegenständen in Berührung zu kommen, die wären nur so gefallen.
Er saß zehn Minuten später angezogen in seiner Küche und wartete.
Er hätte nun 15 Minuten warten können. Frühstücken traute er sich nicht wegen der Gegenstände, wollte er auch nicht, es war ihm schlecht.
Einen Kater hatte er nicht, dazu war er noch zu voll. Er nahm ein Glas aus dem Kasten, das nicht fiel und deswegen Birne gefiel. Am Schrank schlug er sich nicht an. Am Wasserhahn stellte er nicht aus Versehen das heiße Wasser an. Er riss eine Packung Aspirin auf, was nicht einwandfrei klappte, er fluchte aber nur wenig und leise, weil der Rest des Morgens relativ gut zu ihm war, den Umständen entsprechend.
Die Tablette löste sich auf, er schaute zu. Dabei fiel ihm ein, dass er jetzt mal schauen könne, ob die Zeitung da war.
Er zog sich nur ein paar Sandalen an und ging runter, fand, dass er auf den alten Stufen des Treppenhauses relativ viel Krach machte. Er bemühte sich, leiser zu sein. Er blieb kurz stehen, um zu hören, ob es ein Hintergrundrauschen gab, in dem er mit seinen eigenen Geräuschen hätte aufgehen können. Nichts. Dunkle Nacht. Weit weg ein Auto auf einer Straße. Der Bahnhof, ein dünnes Rauschen von Blättern im Wind. Eine schöne Stille.
Die Zeitung war noch nicht da, um die Zeit musste sie das auch noch nicht, das war in Ordnung. Er ging wieder hoch, dabei ging das Licht im Treppenhaus aus. In seiner Wohnung hatte er vergessen das Licht im Gang anzumachen. Er stolperte so saublöd über seinen Telefontisch, dass es ihn hinhaute, der Länge nach. Das tat weh, der Kopf jetzt auch, er fluchte, sehr laut, sonst war es still, bis auf das Brausen der Aspirintablette, die sich endgültig in ihrem Glas Wasser in der Küche auflöste, wo das Licht an war. Birne hätte geweint als Kind.
Werner war pünktlich.
»Alles klar, Junger?«, wollte er wissen, als Birne in seinen roten, alten 3er BMW stieg. »Hast du dich warm eingepackt?«
»Alles klar.«
»Gefrühstückt wirst du schon haben.«
»Ja, ja.« Aspirin halt.
»Und wie war deine erste Nacht in Kempten? Du weißt, dass man sagt: ›Was man in der ersten Nacht in seiner neuen Wohnung träumt, das geht in Erfüllung.‹«
Woher hatte der Mann in dieser Früh seine Redefreude her? »Das war nicht meine erste Nacht.«
»Man sagt’s ja auch bloß.«
Danach war Stille. Werner hatte gespürt, dass Birne nichts sagen wollte. Oder auch er stimmte sich schweigend auf die Jagd und die Natur da draußen ein.
Sie fuhren ein Stück auf der Autobahn, bogen dann ab, kamen durch einen schlafenden Ort, fuhren von dort auf einen Feldweg und waren bald da.
Birne braucht eine Weile, bis er wieder zur Ruhe fand, und nickte dann auf den letzten Kilometern ihrer Fahrt noch mal ein. Sein Arbeits- und Jagdkollege schaute grinsend zu ihm hinüber, freute sich, dass der andere nichts gewohnt war als Großstadtmensch.
»Da sind wir.«
Birne schlug die Augen auf und sah, dass sie neben einem Bauernhof geparkt hatten. Neben dem Silo führte ein wenig benutzter Feldweg einen Hang hinauf. Weiter konnte er nicht schauen, denn Werner stellte den Motor ab und mit ihm gingen auch die Scheinwerfer aus.
»Wir müssen zu Fuß ein Stück, aber keine Panik, es ist nicht viel.«
Birne war zu müde für Panik, er ließ sich von Werner behängen mit einem Fernglas und dem Gewehr, vor dem er zunächst schon Respekt hatte.
»Da musst du keine Angst haben, es ist gesichert.«
Gesichert? Werner konnte keine Ahnung davon haben, wie sehr die Dinge gegen ihn arbeiteten.
Sie gingen den Hang hinauf, kamen auf eine Wiese, die sie überquerten. Im Hintergrund hob sich dunkel ein Berg ab. Sie stiegen über einen Elektrozaun, der nicht geladen war. Dazu durfte er Werner sein Gewehr zurückgeben und unbewaffnet drüber. Nun führte der Weg bergab über einen steileren Hang als den, den sie heraufgekommen waren. Vereinzelt standen hier Fichten. Etwa auf halber Höhe ließ Werner Birne anhalten. Der hatte, um nicht zu fallen, nur noch auf den Boden vor ihm geschaut.
Sie waren an einem kleinen Jägerstand angekommen, der kaum Platz für sie beide bot. Das war ihnen egal, sie stiegen beide ein und waren leise.
»Ihr Deutschen, leck mich.« Werners Atem dampfte.
»Sag mal, ist das jetzt geladen?«, wollte Birne sicher sein.
»Was denkst denn du?«, war die Antwort Werners. »Wir warten jetzt zehn Minuten, knallen den Fuchs und sind schon auf dem Weg zurück. Alles ganz schnell.«
Birne bekam zurzeit selten die Gelegenheit, den Sonnenaufgang zu sehen. Die Sonne kam nun immer schon, bevor er die Zeitung holen ging. Bis vor ein paar Wochen hatte er beim Zeitungsholen das Gefühl, früh aus dem Haus zu sein, sich seine Zeitung als Belohnung zu holen.
Birne dachte sich, dass er momentan mehr über seine Zeitung nachdachte als über Frauen und überlegte, ob das in Ordnung sei.
Zehn Minuten schauten sie nun auf die Fichten eines Waldrands. Birne traute sich nicht, etwas zu sagen, meinte, still sein zu müssen, um die Tiere nicht zu warnen. Eigentlich hätten sie schon knallen müssen.
»Gefällt es dir bei uns?« Birne erschrak, als Werner ihn fragte.
»Müssen wir nicht leise sein wegen der Füchse?«
»Wenn wir leise flüstern, reden wir in einer Frequenz, die sie nicht wahrnehmen.«
»Ach so.«
»Hast du das nicht gewusst?«
»Nein. Ist das einer?«
»Was?«
»Da drüben.«
»Richtig.«
Werner hatte den Lauf gerade zur anderen Öffnung rausstehen, musste ihn reinholen, dabei Birne ins enge Eck drücken und dann mit Mühe das Gewehr durch den anderen Schlitz rauszwängen. Birne hatte Angst, das Teil könne losgehen und, wenn es schon keinen von beiden blind träfe, ihre Trommelfelle zerfetzen. Irgendetwas – das Rascheln ihrer Jagdjacken, Werners Fluchen, das Schlagen des Metalls an das Holz des Jägerstands – musste in einer Frequenz gewesen sein, die der Fuchs hörte, oder er hatte die Schnauze voll gehabt von dem Platz neben den Bäumen – er war weg, und Werner fluchte: »Scheiße!« Laut. »Den hätten wir haben müssen. Scheiße.«
»Tut mir leid.«
»Du bist nicht schuld.«
Sie warteten, und Birne wusste jetzt nicht mehr, wie lange. Er sagte nichts.
»Bist du verheiratet?«
»Nein.«
»Aber eine Frau hast du.«
»Nein, nicht direkt.«
»Versteh schon, schlechtes Thema.«
»Nein, nein, wir können schon darüber reden. – Sie ist mir weg. Ein anderer. Aber scheißegal, das kommt wieder.«
»Was? Sie?«
»Die Liebe.«
»Pst.«
Sie hatten wieder einen, es könnte auch der gleiche gewesen sein. Werner war wieder 90 Grad verkehrt. Er fluchte und legte an, diesmal war es knapper, aber es fiel kein Schuss, dazu war das Tier schon zu sehr auf der Flucht, als dass es noch wert gewesen war, es auf einen Schuss ankommen zu lassen. »Scheiße.«
»Tut mir leid.«
»Du bist nicht schuld. – Ich bin manchmal ganz froh, wenn ich zu Hause mal rauskomme. – Wohnen da, wo du wohnst, viele Ausländer?«
»Es geht. Wieso?«
»Nichts. Es gibt gerade viele Ausländer. Ich bin nicht feindlich, ich stelle es nur fest.«
»Aber einen Kebab isst du, damit hast du keine Probleme.«
»Ich bin nicht feindlich, das habe ich nicht gesagt. Ich stelle nur fest. Ich habe einen Bekannten bei der Polizei.«
»Das sind alles Nazis«, sagte Birne.
»Das kann schon sein, er erzählt halt allerhand. Ich bin auch nicht mit allem einverstanden, was die Deutschen machen. – In Wirklichkeit kann ich damit gar nichts anfangen, was ihr treibt. Macht doch, was ihr wollt.«
»Es gibt viele Nazis hier.«
»Du meinst Polizei?«
»Nein, nicht einmal, Leute, die so reden wie du.«
Werner wehrte sich: »Ich sag es dir noch mal: Ich bin kein Nazi, ich bin von der Einstellung eher links.«
»Und dein Bekannter?«
»Der erzählt nur.«
Sie hatten wieder einen, vor dem richtigen Loch, alles passte, Werner musste nur anlegen, ruhig atmen und abdrücken.
»Mensch, sei doch mal still!«
»Ich habe gar nichts gemacht.«
»Dann ist es deine Scheißjacke, die macht Krach. Jetzt ist er wieder weg.«
»Tut mir leid.«
»Das nächste Mal ziehst du was Anständiges an.«
Birne verstand, dass er wieder mitdurfte. Es hatte ihm gefallen, die Stille, dass kein Schuss gefallen war. Das Gespräch mit Werner.
Im Auto. »Hast du eigentlich Kinder?«
»Ja. Eine Tochter. Wieso?«
»Nur so.«
»17, das schwierige Alter.« Werner lachte.
Birne hatte gar nicht daran gedacht. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit, hatten Wechselkleidung dabei.
»Das nächste Mal«, sagte Werner, »gehen wir abends, und danach an den Stammtisch.«
Birne gefiel das, Birne mochte Bier.
Im Büro war es ruhig. Er war halt jetzt da, keiner achtete besonders auf ihn. Birne hatte nichts zu tun, tat aber so, als hätte er, man wusste ja nie. Er blätterte ein bisschen die Bücher durch, die sie herausgegeben hatten, fand sie nicht so wahnsinnig anders als andere, worauf sie stolz waren, dass sie überhaupt nicht so waren wie Reiseführer. Es war ihm schon recht. Er arbeitete nur hier, er musste seine Seele hier nicht reinhängen.
Irgendwann kam mal Tim und erklärte ihm das Programm oder System, mit dem sie hier arbeiteten. In welchem Ordner die Texte zu finden seien, wie man sie auf die Seiten des werdenden Buches fließen lassen konnte, wo man nach Bildern suchen konnte, wie ihre Seiten normalerweise gestaltet seien, worauf man zu achten habe, was die Todsünden seien und so weiter.
Birne dachte sich »aha« und fand, dass man hier von keinem große Kunststücke verlangte. Langsam kam er aber in einen Zustand, in dem man von ihm auch nichts mehr verlangen konnte, ihm wurde schlecht, und er schwor sich, sich nie wieder so blöd vollzusaufen, zumindest nicht allein. Tim jedenfalls schaute ihn des Öfteren komisch an und Birne kam es so vor, als versuche er einen gewissen Abstand zu ihm zu halten, als stinke er womöglich nach Alkohol. Birne dachte, man müsse bald Hustenbonbons in seiner Schreibtischschublade lagern.
Allein dreimal am Vormittag kam Werner und fragte: »Alles klar, Junger?« Birne wollte ihm vor die Füße kotzen. Jetzt sah man ihm schon an, dass er nicht gut beieinander war, dann musste man ihn nicht auch noch runterziehen. Er hatte einen Fehler gemacht, gut, aber war auch nur ein Mensch, und das passierte halt. Birne hatte ja nicht Schuld, dass er einsam war. Schließlich bejahte er Werners Fragen und bekam für kurze Zeit seine Ruhe.
Irgendwann war Werner irgendwohin verschwunden, und Birne dachte sich, er könne sich jetzt eine lockere Stunde im Internet gönnen, seinen Kater mal auf anderen Gedanken bringen.
»Na? Schon eingelebt?« Das war Sigrid, die anscheinend Werners Abwesenheit nutzte, sich an den neuen Kollegen ranzuschmeißen.
»Bin ja gerade erst angekommen.«
»Aber es gefällt Ihnen – dir doch?«
»Bis jetzt noch nichts Schlechtes erlebt.«
»Gut. Heute ist ein guter Tag für Leibesertüchtigung.«
»Ja?« Birne hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Nach dem Mondkalender.« Stolz hob sie einen bunten Kalender hoch, damit er sehen konnte, wovon sie sprach. Es war zu klein aus der Entfernung, er konnte nichts lesen, deswegen ging er auf sie zu. Sie stand im Türrahmen seines kleinen Büroabteils.
»Wann wäre denn ein günstiger Tag für Haareschneiden?«, wollte er höflich wissen.
»Wieso? Deine sind doch noch nicht zu lang.«
»Nein, meine ja bloß, steht doch sonst immer in den Mondkalendern.«
»Richtig, richtig, steht auch drin, aber auch ganz andere Sachen: Wann es gut ist, sich zu waschen, wann, das Unkraut zu jäten, wann, dem Partner oder dem Chef eine entscheidende Frage zu stellen …«
»Schon brutal, was der Mond alles weiß.«
»Da, schenk ich dir, den bringen wir auch raus.«
Birne blätterte drin, sah eine Menge Symbole in einem blauen Kalenderbuch.
»War mein Projekt«, verriet Sigrid stolz.
»Ist toll geworden.«
»Heute ist Leibesertüchtigung.«
»Dann müsst man sich heute noch bewegen.«
»Ich gehe ins Fitnessstudio heute noch.«
»Fitnessstudio?«
»Ja, da gibt’s ein ganz tolles in Kempten, eigentlich zwei, eines für Frauen, also nur für Frauen, und eines für gemischt.«
»Du wirst wahrscheinlich in das für Frauen gehen.«
»Ja.« Sigrid lächelte und wurde ein bisschen rot.
Mit einem Poltern kam Werner die Treppe herauf zurück zur Arbeit. »Der Chef schaut heute noch kurz rein«, schrie er.
Sigrid flüchtete wie ertappt von Birne weg an ihren Platz. Es war nie etwas geschehen. Werner grinste. Birne schüttelte innerlich den Kopf.
Irgendwann, sobald er raus war aus dieser Situation, würde jemand kommen – vielleicht sogar Tim, und er würde sich freuen, sogar, wenn es ausgerechnet Tim wäre –, würde ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Das musst du nicht so tragisch werten, der hat heute einen strengen Tag, die Reise und so weiter, morgen sieht er wieder ganz anders aus, morgen wird er es nicht mehr erwähnen, höchstens einen Scherz machen, wir werden alle lachen.«
Noch steckte Birne aber in der Situation, knietief, und er sank noch tiefer und wünschte sich, nicht hier zu sein, sondern seinetwegen auf einem Berg, und Ruhe um sich zu haben, die Ruhe, die er jedem schenken würde, würden sie ihn lassen, die anderen und die verfluchten Dinge.
Der Chef war zurückgekommen, nur kurz reingeschneit, hatte die Praktikantin dabei, leise hinter sich, und Birne dachte: Die hat wahrscheinlich einen guten Charakter und mehr auch nicht. Der Chef hatte einen weißen Leinenanzug an und freute sich, wie er anmerkte, dass der Neue da sei, wollte wissen, ob er sich schon eingelebt habe, und wies die Junge an, sich in ihrem ungelenk getragenen Hosenanzug zur Kaffeemaschine zu bewegen und für die Mannschaft Kaffee zu brühen, um sich bei einer Tasse besser kennenzulernen, sich aneinander zu gewöhnen. Werner lehnte sofort ab, setzte sich aber dazu.
Und hätte man Birne gefragt, wie es denn genau zu der Situation gekommen sei? Da hätte er antworten müssen, dass er es genau auch nicht mehr rekonstruieren könne, dass er sich schon sehr konzentriert habe, nichts zu viel zu berühren, dass er möglicherweise einen Moment ein bisschen zu sehr auf den lustigen Zwirbelschnurrbart seines Bosses, der so nett zu seinem graubraunen weniger werdenden Haar passte, geachtet habe, als er noch eine Tasse eingeschenkt und halt dabei ein paar Tropfen auf den Anzug gebracht habe. Ein paar Tropfen, die im nahezu sofort einsetzenden Gebrüll, das keinesfalls mit Verbrühschmerz zu rechtfertigen war, vor Schreck ein paar mehr wurden, genau so viel, dass man von einem ruinierten Anzug sprechen konnte.






