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»Wär auch mal nett.«
»Freilich, sobald Sommer ist, machen wir das auch mal.«
Er erinnerte sich, dass er zum Tee verabredet war, dass er für die Mittagspause die anderen abschütteln musste.
Als er antwortete: »Ich bin verabredet«, war Werner verwundert, erwiderte aber nichts, hätte aber so gern – das sah Birne – einen Witz gehabt zum Reißen. Er schaute zu Alexa, versuchte ein Lächeln und sagte: »Capito.«
»Nix capito«, sagte Birne.
»Wo geht ihr sonst immer hin?«, fragte Alexa, die er auch noch loswerden musste, nachdem Werner auf dem Weg war.
»Unterschiedlich.«
»Es gibt in der Nähe einen Döner, der ist nicht schlecht.«
»Hab ich schon probiert, ist gut.«
»Gehst du da heute hin?«
»Nein, ich bin verabredet.«
»Verstehe.«
»Was?«
»Mit einer Frau?«
»Nein, ich hab keine Frau.«
»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«
»Du, ich bin erst eine Woche hier. So schnell geht das nicht.«
»Glaubst du nicht an die Liebe auf den ersten Blick? Wenn es die Richtige ist, merkst du das gleich.«
»Muss nicht sein, kann sein, dass man sich erst eine Weile anschauen muss.« Er starrte sie solange an, bis sie lachte.
»Und? Geht schon was?«
»Moment. Ja, ja, ich glaub, da kommt was, ja, ja, oh nein, das war wieder nur mein Magen. Scheiße. Aber lass es uns nach dem Mittagessen noch mal probieren. Mit leerem Bauch verliebt es sich so schlecht.«
»Kann ja sein, dass es jetzt klappt, ich wünsch dir das Beste.«
»Und wenn das Beste ist, dass ich nach dem Essen noch frei bin?«
»Das Beste.«
»Du kannst ja schon mal Schluss machen.«
»Mal sehen.«
Sie ließ ihn aufbrechen.
Der andere Laden, der des Bruders, war ein bisschen größer, ein bisschen mehr Wirtschaft. Die Frau Kemal wartete auf ihn, und Birne fragte sich, wer denn ihren Laden gerade hütete.
»Unser ältester Sohn kann das übernehmen. Kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen?« Frau Kemals Bruder war groß und stämmig, hatte riesige Augenbrauen und ein lachendes Gesicht. Er trug ein schwarzes Unterhemd und eine dicke Kette darüber. Birne mochte ihn irgendwie.
»Hallo«, sagte er mit lauter Stimme und deutete auf einen Tisch mit drei Stühlen. »Setzt euch, ich komm gleich.«
Frau Kemal sagte leise, als ob es niemand hören dürfte. »Mein Bruder hat eine deutsche Frau, sie hilft manchmal hier im Geschäft, sonst geht sie zur Arbeit.«
Birne überlegte, was er mit dieser Information anfangen sollte. Der Bruder kam, stellte ein Tablett mit drei kleinen Teegläsern hin und setzte sich dazu.
»So«, sagte er. »Haben Sie sich entschieden, Herr Birne?« Sie mussten seinen Namen vom Briefkasten abgelesen haben.
»Ich weiß immer noch nicht genau, was Sie von mir wollen.«
»Herr Birne, wir sind in gewisser Weise in einer Notsituation. Aber selbstverständlich würden wir uns erkenntlich zeigen.« Frau Kemal schaute Birne groß an und war zur Verstärkung neben ihren Bruder gerückt, während der Daumen und Zeigefinger aneinander rieb, um Birne klarzumachen, dass Geld dabei rausspringen würde.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht mir überhaupt nicht um Geld. Wenn ich Ihnen wirklich helfen kann, dann will ich dafür nichts annehmen, verstehen Sie?«
»Ich will niemanden anderen jetzt mehr fragen. Ich will Sie, Herr Birne«, sagte der Bruder, als wäre das irgendeine Antwort auf Birnes Bedenken. »Wir Türken haben es nicht leicht in Ihrem Land, so schön Ihre Politiker auch reden. Ich will mich nicht beklagen, man kann sich hier einrichten.« Er schaute sich in seinem Gastraum um. »Trotzdem fühlt man sich gelegentlich als Mensch zweiter Klasse, verstehen Sie.« Birne nickte. »Es heißt immer typisch Türke, wenn irgendwas war. Gerade in dieser Stadt, die sehr schön ist, das mag ich gar nicht abstreiten, aber ich komme hier ungern in Schwierigkeiten.« Er schaute Birne groß an.
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?«
Frau Kemal mischte sich wieder ein: »Das kommt vom Eindruck. Sie sind sympathisch. Ich habe Sie helfen gesehen.«
Das stimmte, sie hatte ihn vorher nur der Frau Zulauf den Schrank hochtragen sehen. »Es ist auch für die arme Frau Zulauf«, fuhr sie fort. »Ich will, dass ihr Mörder gefunden wird.«
»Sehen Sie, ich habe selbst eine deutsche Frau.« Birne fragte sich wieder, was der Bruder ihm damit sagen wollte.
»Wieso macht die das dann nicht?«
»Machen Sie es«, sagte Frau Kemal, beugte sich weit zu ihm vor und hätte beinahe ihre Hand auf seine gelegt.
Birne war irgendwann in der Nacht schon mal näher dran gewesen, ja zu sagen. Im Moment kam ihm das alles wieder eigenartig vor.
Frau Kemal begann, in ihrer Handtasche zu kramen und nebenbei Birne zu beobachten, auch der Bruder schaute fest auf ihn. Birne war das unangenehm, er trank seinen Tee, der lauwarm wurde, sagte »Ich weiß nicht.«
Der Bruder lächelte ein ungeheuer gewinnendes Lächeln und sagte überhaupt nicht bittend: »Bitte.«
Birne wäre gern woanders gewesen. Frau Kemal hatte gefunden, wonach sie gewühlt hatte, und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch: »Hier sind sie, die Schlüssel.«
»Können Sie vielleicht heute schon rein? Mein Schwager hat eine sehr ungute Zeit im Gefängnis.«
»Oh ja«, bestätigte Frau Kemal ihren Bruder in einer Unterwürfigkeit, die ihm neu an ihr war. Die versuchten, ihn kleinzukriegen. Birne hatte generell ein Problem mit dem Neinsagen, hier war es besonders schwer.
»Ich will es probieren«, sagte er.
»Wunderbar«, lobte der Bruder. Und Frau Kemal wurde konkreter: »Wenn Sie in der Wohnung sind, sehen Sie auf den Fernseher, dort steht ein Bild von einem Kind, das ist der Enkel, dahinter steht eine Dose, darin müsste das Geld sein. Seien Sie vorsichtig, ich denke, es ist nicht wenig.« Sie schob den Schlüsselbund zu ihm herüber, daran hingen ein Haustürschlüssel, den hatte er selbst, ein Briefkasten- und ein Wohnungsschlüssel. Zögernd griff er danach.
»Kann ich Ihnen noch etwas ausgeben?«, fragte der Bruder, um Birnes Entschluss zu beschleunigen.
»Nein, danke; ich muss zurück ins Geschäft, meine Mittagspause ist vorbei.«
»Vielen Dank.«
Sie ließen ihn aufstehen und sich verabschieden, schauten ihn fest an, wie er die Schlüssel in die Hose schob und sich langsam hinaus. Benommen trat er an die Sonne und ging zurück. Was hatte er getan? Musste er den zweiten Schritt gehen? Wem hatte er sich verpflichtet? Hatte er etwas unterschrieben? Er wusste nicht einmal, ob das so richtig illegal war, was er da tun sollte. Und während er ging, kam was Neues in seine Nase, das war der Geruch von Abenteuer. In die Wohnung einer Ermordeten eindringen, in ihren Resten wühlen – und einen Unschuldigen aus den Ketten einer ungerechten Justiz loseisen.
Birne wurde aufgeregt, er wollte irgendwie gleich los, er wollte da rein, er wollte was tun. Ihm fiel der Sonntag ein, am Sonntag hatte er schon was vor, am Sonntag sollte er auf den Berg. Einfach so ging das nicht. Einerseits war er nicht sonderlich trainiert – er hatte eben erst angefangen. Das bereitete ihm keine Sorgen, Fettere hatten es auf andere Berge geschafft. Andererseits fehlte es ihm an Material. Er brauchte Schuhe, die Schuhe waren das Wichtigste. Im Prinzip war das in Ordnung. Er wollte raus aus dieser Stadt in ihre Umgebung, die sich lohnen sollte, wenn man den Menschen glaubte. Er kam aus einer großen Stadt und hatte gelernt in ihr zu leben, gut zu leben, jetzt musste er es mit dieser kleinen Stadt aufnehmen. Sie hatte ihre Reize und ihre Fallen und die Herausforderung war, hier genauso König zu werden wie anderswo. Ein Scheitern wollte er sich nicht erlauben. Es waren alle Spießer hier, und wenn es nur zehn Gerechte gab, galt es, sie zu finden.
Diese Mittagspause würde er noch nutzen, sich auszurüsten. Läden gab es genug. Nur der, in dem man nicht versuchte, ihm Ramsch anzudrehen, war nicht leicht zu finden.
»Bergsportgeschäft.«
Rucksäcke, Wanderstöcke, ein Zelt, Rucksäcke und Schuhe im Schaufenster. Keine Frau, die bediente, sondern ein Mann, der ihn ein bisschen an Werner ohne Bauch oder jünger erinnerte.
»Das sind die besten. Guter Mann, ich geh jeden Tag auf’n Berg. – Glaubst mir nicht? Kannst mir ruhig glauben.«
»Glaub ich doch.«
»Drücken sie?«
»Kaum.«
»Die musst jetzt einlaufen, dann gehen sie gut. Hast einen Rucksack?«
Birnes war zu klein, er musste dem Mann einen neuen abkaufen, der nicht ganz billig war, das nicht, aber er würde halten die »nächsten 30 Jahre«. Dann konnte man es machen. Wenn man dann 30 Jahre keinen mehr kaufen musste. Kaufte man sich einen nur halb so guten, musste man in 15 Jahren schon wieder einen neuen kaufen und mit der Inflation konnte man das nie mehr einsparen. 30 Jahre Ruhe, nie mehr einen neuen Rucksack kaufen. Geil. Die Trinkflasche gehörte dazu, die war nicht mehr teuer im Vergleich zum Beispiel zum Regencape, ohne das es bescheuert wäre, auf einen Berg zu gehen. Das Wetter schlug schnell um in den Bergen, da ging man los in der Früh bei strahlendem Sonnenschein und schon zwei Stunden später fand man sich in einem Gewitter wieder, dass man an einen Weltuntergang glauben konnte. Das wusste Birne, stand ja auch in den Büchern, die sie verlegten, brauchte man ihm nicht zu erzählen und auch nicht, dass es sakrisch kalt war da oben um die Jahreszeit jetzt, dass es schneien konnte, teilweise bis auf 700 Meter runter. Es schneite manchmal auch noch in der Stadt um die Zeit trotz Klimawandel oder gerade wegen. Hier war man drauf eingestellt, hier kam sofort der Streudienst, aber auf dem Berg, da konnte es richtig eng werden. Birne kaufte, kaufte, kaufte. Er spürte keine Erregung, als er das Geld raushaute, er fühlte auch kein Bedauern, das mit dem Geld berührte ihn kaum, heute Abend konnte er schon mehr davon berühren; die Menschen, sie halten sich immer so am Materiellen fest, was sie doch nicht mit ins Grab nehmen konnten. Was wollten sie auch im Grab damit? Was wären das für Friedhöfe, würde man die Menschen mit ihrem Lieblingsramsch begraben? Natürlich wäre die Welt dann auch einen Haufen Dreck los.
Birne schleppte schwer zum Büro zurück, aber er war froh dabei.
»Und wie war’s?«, fragte Alexa mit einem spitzbübischen Grinsen.
»Weiß nicht, ich bin ein bisschen konfus.«
»Ich hab keinen erreicht.«
»Wie?«
»Na, ich wollt doch Schluss machen und hab dazu angerufen und dann war keiner da.«
Die hatte er ganz schön auf seine Seite gebracht, die Kleine, so nah wollte er sie gar nicht dort haben.
»Ich hab dir gesagt, lass es, wart ein bisschen, wahrscheinlich heiratet ihr noch, dann täte dir die Affäre Birne leid.«
»Affären tun nie leid.«
»Du spielst nur, hör mal auf mit dem Spielen.«
»Was hast du da in den Tüten? Bist du wo ausgezogen?«
»Nein, hab eingekauft.«
»Schuhe, nehme ich an.«
»Schuhe? Ja, Schuhe.«
»Du, ich freu mich«, sagte Alexa.
Birne hätte sich auch gern gefreut, er fand sie nett, aber die Zulauf-Sache drückte, die musste erst aus der Welt sein. Blöd, dass sich im Leben die Geschichten nicht aneinanderreihten, anfingen, wenn die vorige jeweils zu Ende war, sondern dass sich die Stränge so verwirrten.
Im Geschäft blieb er nur noch eine Stunde. Am Freitag schaute einen keiner krumm an, wenn man mal früher ging. Werner war sogar schon ein Weilchen vor ihm weg. Tim nahm seinen Abgang zum Anlass, selbst zu verschwinden. Was wollte der Kerl von ihm? War er am Ende schwul? Konnte man da an einem Abend mal ein paar Bierchen spendiert bekommen?
»Du hast ja fest eingekauft heute«, laberte er Birne an.
»Du, ein bisschen Grundausstattung, ein bisschen was bleibt immer auf der Strecke, wenn man den Ort wechselt, das braucht man dann wieder.«
»Verstehe. Gewürze.«
»Gewürze?«
»Na, wenn du wo raus musst, dann schmeißt du sie weg, dann kommst du an, willst dir das erste Schnitzel braten und du hast nicht mal scheißschwul Pfeffer.«
»Schnitzel?«
»Zum Beispiel.«
Schmeißen Baden-Württemberger irgendetwas weg? War Tim eigenartig, aus der Art gefallen? Musste man aufpassen?
»Wie gefällt es dir bei uns?«, bohrte er.
»Passt.«
»Was heißt passt?«
»Passt.«
»Hast Glück, hast ja eine nette Bürokollegin. Die kleine Praktikantin.«
»Passt.«
»Die ist schon nett.«
»Ist es bei euch nicht nett?«
»Doch, doch.«
»Lad sie doch mal ein in der Mittagspause.«
»Jetzt ist sie erst mal mit dir unterwegs.«
»Woher weißt du das?«
»Man redet halt.«
»Gut. Ich geh jetzt heim. Schönes Wochenende.«
»Tschüs, dir auch«, sagte er, und es klang nicht zu freundlich. Da trennten sie sich und ihre Wege auch.
Birne ging heim, zum Ort seiner kommenden Tat, und erledigte blödsinnige Sachen, spülte ab, duschte, las im Wirtschaftsteil seiner Zeitung. Legte sie noch einmal so zusammen, wie er sie bekommen hatte.
Dann fielen ihm die bescheuerten Fingerabdrücke ein. Er war auch ein Mensch, er hinterließ auch welche, er musste etwas unternehmen. Er stand unter der Dusche, als er das dachte, deswegen konnte er nicht sofort in seinen Kleidern wühlen nach Handschuhen. Kaum trocken, noch in den Unterhosen, stellte er fest, dass er welche aus Wolle und alte, abgegriffene aus Leder, besaß. Beides keine richtigen für Einbrecher, was er streng genommen aber nicht war – er hatte einen Schlüssel. Vielleicht war das gar nicht mal Unrecht, was er beging, wenn es nur nach der Moral und nicht nach dem Gesetz ging, schon gar nicht.
Er zog sich schwarz an, unbewusst, es fiel ihm erst auf, als er in den Spiegel im Hausgang blickte, im Begriff, den nahen Baumarkt aufzusuchen und dort Aids-Handschuhe zu besorgen. Waren die sicher, konnten die reißen? Eine Spur von Finger, wenn er ein Möbelstück berührte, konnte das Aus seines blütenreinen Führungszeugnisses bedeuten.
Im Baumarkt lief bescheuerte Musik aus den 80ern von Phil Collins. Dabei hatte Birne schon gerechnet und gehofft, nie wieder an einen Ort zu kommen, wo man so etwas spielte. Um nicht allzu verdächtig zu wirken – er hatte nicht einmal ein Auto – kaufte er zu den Handschuhen noch zwei Dreifachstecker. Die waren nicht teuer, und die konnte man immer brauchen. Den Kassenzettel zerriss er mehrmals, bevor er ihn in den Papierkorb warf. Die trennen hier am Ausgang den Müll, sagenhaft, dachte Birne, und erschrak, weil er fürchtete, dass niemand auffälliger war als einer, der seinen Kassenzettel zerreißt, bevor er ihn auch noch in den richtigen Müll warf. Birne, Birne.
Daheim schaute er lange die Haustür der Toten an, hinter seiner steckte er seine neuen Stecker zusammen. Sie passten. Jetzt hatte er nichts mehr zu tun. Jetzt musste er los.
Birne kannte sich aus, er hatte einen Schrank hierher getragen, er hatte einen Schnaps getrunken. Er hatte sich die Handschuhe über- und dann seine Wohnungstür zugezogen und war schnell und ohne zu stolpern die zwei Treppenabsätze zur Alten hinuntergerannt. Vor der Tür hatte er nicht gezögert, wie einer auf dem Zehnmeterturm nicht zögern darf, wenn er wirklich springen will: Er hatte den Schlüssel in das Schloss gesteckt, und als er passte, war er hineingeschlüpft und hatte sich schwer schnaufend zwei Minuten an die geschlossene Haustür gelehnt. Er war drin. Die Tat war praktisch vollbracht.
Im Hausgang war es dunkel, obwohl es auf der Straße noch nicht dämmerte. Es roch ähnlich wie beim ersten Mal nach alter Frau, nur irgendwie unbewohnter. In der Küche tickte eine Uhr, es war still, Birne hörte Autos auf der Straße. Die Uhr tickte, die Autos fuhren, er war drin, sein Herz schlug, trotzdem fühlte er sich sicher. Hier war zwei Tage lang keiner mehr gewesen, wer sollte jetzt kommen? Das war keine Falle. Wie sollten die Türken wissen, wann er hier eindrang? Er hatte zum Wohnzimmer zu gehen, auf dem Fernseher stand ein Bild, dahinter eine Keksdose mit Geld, das wäre der Beweis, damit wäre der Herr Kemal frei; er könnte direkt mit der Dose zur Frau Kemal gehen und mit ihr zu den Bullen. Die Sache in dieser Wohnung würde keine zwei Minuten dauern.
Birnes Augen gewöhnten sich an das Halblicht, er konnte sehen, dass er auf einen Teppich trat, er konnte einen kleinen Telefontisch erkennen, der ihm im Weg war, als er den Schrank trug, das Telefon darauf blieb stumm, vielleicht schon abgemeldet. Birne bewegte sich langsam und achtete sehr auf den Weg, er wollte nicht fallen, er wollte keine Geräusche machen. Am Ende des Gangs führte die linke Tür ins Wohnzimmer, da musste er rein; ein Stockwerk höher lag hinter der Tür das Zimmer, in dem sein Bett stand. Die rechte Tür führte in die Küche, dorthin wollte er nicht, denn dort hatte sie gelegen, dort klebten vielleicht noch die Spuren ihres Bluts auf dem Boden. Birne wusste nicht: War schon jemand, zum Beispiel jener Enkel, da gewesen und hatte aufgewischt? Wie viel beseitigen die von der Polizei?
Birne ging zum Ende des Flurs und stand vor der linken Tür, hinter sich spürte er das Mordzimmer, die Küche, und wagte nicht zu atmen. Birne öffnete die Tür vorsichtig, seine behandschuhte Hand berührte die Klinke. Er konnte den Fernseher sehen, das Ticken der Uhr kam aus der Küche hinter ihm, die Geräusche der Autos vom Fenster des Wohnzimmers vor ihm. Der Fernseher stand links von ihm in einem Einbauschrank, sein Schrank hatte links einen Platz gefunden, der Enkel hatte seinen Teil des Jobs erledigt. Darauf stand eine halb leergetrunkene Flasche Mineralwasser. War ihr Hals das Letzte, was Frau Zulaufs warme Lippen berührt hatten? Tranken alte Frauen überhaupt direkt aus Flaschen?
Auf dem Fernseher lag noch die weiße Häkeldecke, darauf standen noch zahlreiche Bilder mit Momenten der Vergangenheit, aber nur eines mit einem kleinen Jungen, der blond, stolz und rotbäckig eine Schultüte mit aufgesticktem Teddybären hielt, und dahinter stand auch nur eine Keksdose mit aufgedruckten Weihnachtsmotiven. Birne schätzte, ohne eine Ahnung zu haben, russisch vom Stil her. Er war am Ende seiner Reise. Er rückte das Bild zur Seite, es klappte dabei zusammen. Birne fluchte und brachte es in seiner plötzlichen Aufregung nicht mehr zum Stehen, Birne fluchte noch mal flüsternd und ließ es dann sein. Er griff sich die Keksdose und wäre um ein Haar schon aus dem Wohnzimmer gerannt, als ihm einfiel, dass er zur Sicherheit schauen sollte, ob was drin war, damit der Weg nicht umsonst gewesen war. Sie fühlte sich leer an, und sie war leer, als er reinschaute. Scheiße!
Doch Raubmord? Kannte Frau Kemal ihren Mann nicht richtig? Sollte er ihr das sagen und sich dann eineinhalb Stunden überreden lassen, noch mal einzudringen und erneut zu suchen? Frauen waren misstrauisch. Die Welt wurde für sie Tag für Tag feindlicher, sie selbst immer schwächer, die Betrüger und Verbrecher immer dreister. Sie hatte das Versteck gewechselt, hatte einen sichereren Ort gesucht und hätte ihn Frau Kemal verraten an einem dieser Tage, wäre ihr nicht ein Messer in die Brust gefahren.
Birne fand, dass es gescheiter wäre, wenn er weitersuchte, wenn er noch einen Versuch unternahm, bevor er es für heute sein ließe und mit Frau Kemal noch einmal alles reflektierte.
Birne beschloss, im Schlafzimmer zu suchen. Wieso nicht? Das Bett war kurz, aber für zwei. Dunkles schweres Holz, Bauernmöbel. Gut, dachte Birne, dass er das nicht hatte reintragen müssen. Die Kissen waren weiß bezogen, das Bett gemacht. Über dem Bett hing – ebenfalls sehr rustikal – ein Gemälde von Mutter Maria, die ihrem Jesuskind an ihrer Brust zu trinken gab. Ihr Kleid war aus so dünnem hellblauem Stoff, dass man darunter den Nippel der anderen, der nicht säugenden Brust erkennen konnte. Die Alten, dachte Birne. Dem Bett gegenüber befand sich ein schwerer Bauernschrank, neben dem Bett stand ein Nachtkasten. Dessen oberste Schublade öffnete Birne und fand beim Durchwühlen ein Gotteslob und einige Sterbebilder, alte Bekannte, die Frau Zulauf vorausgegangen waren, wahrscheinlich alle unter friedlicheren Bedingungen. Aber kein Geld, kein bares. Aber was hatte Birne erwartet? Drei Millionen Euro in kleinen, nicht nummerierten Scheinen?
Er bekam nicht die Gelegenheit, die zweite, die untere Schublade zu öffnen und eventuelle Millionen dort zu entdecken, denn es erklang ein Geräusch, dem Birne zuerst nicht glauben wollte, und das er für eine akustische Täuschung halten wollte. Aber so weit konnte selbst er sich nicht täuschen, ohne als Trottel da zu stehen: Das Geräusch kam von draußen, von der Tür, und klang nach einem Wohnungsschlüssel, der im Schloss gedreht wurde. Es kam jemand herein, und Birne war hier in einer fremden Wohnung und hatte seine Hand auf einem Gotteslob in der Schublade einer Dame.
Birne schloss die Augen und wusste, dass ihm jetzt was einfallen musste, dass er vielleicht noch eine kleine Chance hätte, ohne tödliche Erklärungen hier rauszukommen. Er hörte, wie jemand die Tür öffnete, und er hörte die Stimme eines Mannes, der in die Wohnung kam und sich mit jemandem unterhielt. Er konnte kein Wort verstehen.
Man konnte, was folgte, für eine dumme Idee halten, die dümmste vielleicht, die man haben könnte, wenn einem so etwas passierte, was Birne gerade geschah, das wusste Birne selbst und auch in diesem Moment, aber er hatte auch keine Zeit zu überlegen und kaum eine Wahl, auch wenn man es von außen betrachtete: Birne ließ die Schublade offen und stürzte beinahe geräuschlos zum alten Schrank, riss ihn auf, tauchte in hängende Kleider einer alten Dame ein, und zog, quasi noch in dieser Bewegung und ohne zu fürchten, da drinnen ersticken zu können, die Schranktür hinter sich zu. Bevor es dunkel um ihn wurde, nahm er noch wahr, dass die Stimme, die der ersten antwortete, die einer Frau war. Das hielt er aus irgendeinem Grund für ein gutes Zeichen.
Es begann eine Zeit des Wartens, die nicht lang sein konnte, die Birne aber freilich so vorkam. Die anderen in der Wohnung mussten irgendwo, entweder in der Küche oder im Wohnzimmer sein. Sie hatten wie er einen Schlüssel, mussten aber nicht unbedingt wie er auf Geld aus sein. Sie könnten Mörder sein. Dann hätte Birne ein Problem. Er steckte zwischen Frauenkleidern und starrte auf einen kleinen Spalt, durch den Licht fiel, durch den er nichts erkennen und hören konnte. Ihn überkam Verzweiflung und er wäre gern ein Stockwerk höher und allein gewesen, um zu fluchen und zu weinen.
Und diese Verzweiflung war es, die ihm den Trieb in den Kopf pflanzte, etwas zu unternehmen, die Angst, dass die draußen nie mehr verschwinden könnten. Oder schon weg waren und er hier seine Nerven grundlos ruinierte. Er öffnete vorsichtig die Tür und erschrak darüber, dass sie furchtbar knarrte. Hatte sie das in seiner Eile auch schon getan? War er bereits verraten? Er stieß sie beherzt auf und tat zwei Schritte zur Tür und gleich darauf begann sein Herz zu rasen, weil er die Stimmen wieder hörte, diesmal wie zum Greifen nah vor ihm und jedes Wort verständlich: Die anderen standen vor der Schlafzimmertür.
»Und was machen wir mit dem da?«, fragte die Frau, und ihr Akzent verriet ihre Herkunft aus dem Osten.
»Weiß nicht. Sperrmüll, oder?« Das war der Mann.
Dann war es wieder still, eine Ruhe, die Birne nicht genießen konnte. Er saß in der Falle. Langsam schlich er zurück zum Schrank und rechnete jeden Moment damit, dass die Zimmertür sich öffnen würde und die beiden ihn erwischten. Aber dort blieb es still, auch als Birne wieder in sein Loch zurückkroch. Hatten sie ihn gehört? Waren sie jetzt auch leise, um ihn zu überraschen? War die Frau schon in der Küche und telefonierte mit der Polizei?
Als Birne seine Tür zuzog, sah er noch, wie sich vorsichtig die des Zimmers öffnete. Die hatten ihn gehört, die wollten ihn überwältigen. Er wagte es nicht, seine Tür ganz zu schließen aus Angst, ein Knarren zu verursachen und er wollte einen Spalt haben und sehen, was auf ihn zukam.
Der Mann trat herein, ein blonder Sportler, schon im T-Shirt zu dieser frühen Jahreszeit. Er sagte übertrieben laut: »Das hier ist das Schlafzimmer, hier drin könnten Antiquitäten sein. Da würde ich gern mal schauen, wie viel wir dafür bekommen könnten.«
»Aha«, sagte die Frau und kam hinter ihm ins Zimmer, und Birne wäre fast das Herz stehen geblieben: Das war seine heimliche Liebe aus dem Fitnessstudio, der Mann ihr Freund oder Mann. Birne blieb das Herz nicht stehen, aber ihm rutschte die Hand nach hinten aus, er schlug mit ihr an die Rückwand des Schranks, Gummi auf Holz. Das mussten sie gehört haben. Birne meinte, dass sie zuckten. Seine Schöne schaute zum Schrank und gleich wieder weg. Die wussten, dass er da war, und hatten vereinbart, ihn zu überraschen. Birne fühlte, dass er verloren war. Und er fühlte hinter sich etwas, durch den Gummihandschuh: Die Rückwand war locker an einer Stelle, die ließ sich zur Seite schieben. Birne schob ein Stück, weil er sich schon aufgegeben hatte, und langte auf einmal in Geldscheine. Er hatte es geschafft, er hatte das Versteck gefunden. Unmöglich zu schätzen, wie viel das war, aber sicher nicht wenig. Es war nicht abenteuerlich abwegig, hier Geld zu deponieren, aber man musste drauf kommen. Hätte man Birne nicht gestört, hätte er es nicht gefunden. Da war er sich sicher.





