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Der Mann riss den Schrank auf und packte Birne am Kragen. Er schrie dabei wie ein Blöder, er riss ein paar Kleider vom Haken, als er Birne ans scheußliche Licht zerrte. Er boxte Birne in die Seite und warf ihn aufs Bett und ließ seine Faust auf Birnes Rücken fallen, dass ihm die Luft wegblieb. Birnes Kopf wurde an den Haaren zurückgerissen, und dann spürte er das kalte Metall eines Küchenmessers an seiner Kehle. Das war’s, dachte er, gleich wird’s warm um den Hals herum und Nacht.
»So Freundchen, ein Mucks und dir geht’s wie meiner Oma.« Birne atmete nur noch in kurzen kleinen Stößen. »Simone«, fuhr der Mann fort, »nimm dein Handy und ruf die Polizei.«
Simone verriet Birne und ihre Liebe und wählte. Der Enkel nahm das Messer von Birnes Kehle und wickelte ein Seil oder eine Schnur um Birnes Hände, stieß dabei zwischen seinen Zähnen »Ich warn dich, bleib bloß still!« hervor. Als Birne verschnürt auf dem Bett lag, stieß er ihm noch ein paar mit den Füßen in die Seite. Birne musste schreien vor Schmerz.
Der Enkel sagte: »Sei bloß still.«
Simone bekam eine Verbindung und fragte sehr aufgeregt: »Hallo? Hier Polizei?« Dem Enkel war das zu wirr, er riss seiner Freundin das Mobiltelefon aus den Händen und schilderte der Stimme am anderen Ende die Lage, ein Einbrecher sei gefasst – er nannte die Adresse und Birne hätte dazwischenbrüllen mögen, schwieg aber aus Angst vor neuen Tritten – der Einbrecher sei womöglich bewaffnet, sie seien nur zu zweit. Die Stimme sagte wohl, dass man warten solle, Rettung sei unterwegs. Der Enkel jedenfalls antwortete »alles klar« und legte auf.
Jetzt fand Birne, dass es an der Zeit sein könnte, sich zu rechtfertigen. »Entschuldigung, das ist ein Missverständnis, ich bin ein Nachbar, ich habe Ihrer Großmutter geholfen …«
Weiter kam Birne nicht, denn mit den Worten »Halt dein dreckiges Maul, du Arschloch!«, schlug der Mann auf ihn ein, auf sein Gesicht wie ein Wahnsinniger. Jetzt spürte Birne die Wärme des Bluts in seinem Gesicht, ein tiefroter Fleck breitete sich vor seinen schwellenden Augen auf dem weißen Laken vor ihm aus. Er war still, er hielt sein Maul nun, bis der Mann aufhörte. Er atmete schwer, seine Freundin sagte nichts, starrte ihn an und war ein bisschen entsetzt von dem, was ihr Freund anrichten konnte, wenn er in Wut geriet und ein wehrloses Opfer zwischen seinen Fingern hatte.
»Was schaust mich so an? Die Sau hat’s nicht besser verdient. Wenn der erst im Knast ist, dann kann ich das nicht mehr machen. Ach, leck mich!« Sie hatte Angst bekommen, atmete schneller und laut. Er fuhr fort: »Weißt du was? Ich geh runter und wart auf die Bullen und du bleibst hier, und wenn er noch einen Mucks macht, rammst du ihm das Messer zwischen die Rippen, wie er es getan hat. Hast du mich verstanden?«
»Ich denk schon.« Birne gefiel auch ihre kleine helle, eingeschüchterte Stimme.
Er ging, ließ die Tür des Schlafzimmers laut zuknallen und erst recht die der Wohnung. Sie waren allein, und wäre die Situation nur ein wenig anders gewesen, Birne hätte es für seinen romantischsten Augenblick seit Langem halten mögen.
»Geht’s?«, fragte sie ihn.
»Geht schon«, antwortete Birne.
»Was wollten Sie?«
»Ich bin der Nachbar, ich heiße Birne, ich wollte nach dem Rechten sehen, ich habe einen Schlüssel, ich bin kein Einbrecher.«
»Ha. Das können Sie der Polizei erzählen.«
»Die brauchen wir nicht. Glauben Sie mir, das ist ein Missverständnis. Ich wollte nicht stehlen.«
»Versuchen Sie nicht, uns zu täuschen.« Sie klang wieder nervöser, Birne konnte nur, wenn er sich sehr umständlich verdrehte, sehen, was sie tat, aber sie hatte das Messer, davon ging er aus, und sie war nervös, er hatte nicht vor, irgendetwas zu versuchen.
»Sind Sie die Freundin vom jungen Zulauf?«
»Bernd? Ja, bin ich.«
Bernd? Sie sollte Bernd vergessen, ihn losbinden und sich mit ihm verbarrikadieren, hier in der Wohnung, das mit der Polizei würden sie regeln.
»Wie lange schon?«
»Weiß nicht. Vielleicht zwei Jahre. Was geht Sie das an?«
»Nichts. Sie halten mich fest, ich will gern wissen, wer mich festhält.«
»Sie sind hier eingebrochen.«
»Bin ich nicht. Ich habe einen Schlüssel, ich wollte sehen, ob alles in Ordnung…«
»Sie bluten viel mehr, wenn Sie reden. Das Bett. Bitte sagen Sie nichts mehr. Sie verbluten das Bett.«
Birne schwieg. Wenn sie nicht wollte, dass er mit ihr redete, dann schwieg er eben. Wenn ihr das verschissene Bettzeug wichtiger war als sein Leben, dann blutete er eben weniger und leise, das konnte er, kein Problem für ihn, sie hatte das Messer.
Ihr wurde unwohl von der Stille, das hatte sie davon. »Wenn Sie wirklich unschuldig sind, dann wird sich das klären, dann gibt es ein Verhör bei der Polizei, und Sie sind wieder draußen.«
Birne erwiderte nichts, er hatte keine Lust mehr, Liebe war sein einziges Verbrechen, Liebe, und jetzt blutete er dafür, Liebe zahlte sich nicht aus.
Schritte auf der Treppe. Mehr als eine Person. Aufgestoßene Türen. Polizisten, die Birne sehr unsanft packten, ihn zu Boden schleuderten, als hätte er wirklich was angestellt, als ginge wirklich eine Gefahr von ihm aus. Birne, der all das mit sich geschehen ließ, der resigniert hatte, seine Liebe dahinschwimmen sah wie einen Eisblock im Polarmeer, der sah, wie Bernd, der Affe, seine Simone in die Arme nahm, ihr wieder Trost spendete aus denselben Händen, die ihm gerade Blut beschert hatten.
Die zwei Polizisten steckten in grünen Uniformen, waren jung, nahmen alles noch sehr wichtig und so, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatten. Es war allerdings nur ein Streifenwagen. In München wären es mindestens sieben gewesen, dazu Kombis, und nicht nur, wenn er womöglich ein gefährlicher Mörder gewesen wäre, nein, auch beim Schwarzfahrer, der aufmuckte, oder beim Fahrradfahrer ohne Licht.
Birne wurde gefragt, ob er Handschellen wolle oder lieber keinen Widerstand. Birne entschied sich gegen den Widerstand. Einer, der Blonde, der fast eine Glatze rasiert hatte, warf ihn auf die Rückbank und setzte sich neben ihn. Der andere, der hatte fast schwarze Haare und trug diese länger, saß vorne und lenkte den Wagen. Sie fuhren schweigend. Sie hatten halt jetzt einen Einbrecher festgenommen, brachten ihn aufs Präsidium, damit die dort sich um ihn kümmern konnten. Von den Anrufern wollten sie auch nichts mehr wissen. Was wäre gewesen, wenn die die Einbrecher gewesen wären und er der, der zu Recht in der Wohnung war? Dann hätten die ihn und die Polizei sauber an der Nase herumgeführt. Dann hätte Birne allerdings auch einen Aufstand geschoben. So saß er nur da, sah aus dem Fenster, wie er durch die Stadt gefahren wurde, und blutete ein bisschen. Er hatte immer noch das Gefühl, kein großes Unrecht begangen zu haben und nicht viel befürchten zu müssen. So kam er zum ersten Verhör in seinem eigenen Fall. Immerhin.
Für diese Jahreszeit unpassend, begann es, draußen unendlich grau zu werden und nach wenigen Augenblicken zu schneien, als ob der Himmel nur noch diese eine Möglichkeit hätte, etwas von sich zu geben. Im April. Erst heute hatte er sich die Schuhe zum Wetter besorgt. Es war, als zögen die Schuhe das Wetter erst an.
Im Revier kam es ihm vor, als ob sie ihm eine Show vorführten. Er musste lange auf einem unbequemen Holzstuhl warten. Ein paar Mal reklamierte er wegen der Schmerzen. Er verlangte nach einem Aspirin, das ihm irgendwann auch gegeben wurde, damit er still war. Er verlangte daraufhin einen Arzt, und weil er ignoriert wurde, einen Anruf bei seinem Anwalt, was ebenfalls still übergangen wurde. Dann wartete er geduldig, da er hoffte, durch sein Mitspielen den Vorgang beschleunigen zu können. Sie ließen ihn dennoch relativ lange mit seinen Wunden sitzen. Einige davon waren Platzwunden und hörten auch die lange Zeit über nur unwesentlich auf zu bluten. Birne überlegte sich, eine Ohnmacht vorzutäuschen, und musste dann lachen, als er weiterdachte, ob es nicht besser und wirkungsvoller wäre, eine Marienerscheinung zu simulieren.
Als ihn endlich der muffige Beamte hereinbat, war bereits eine Dreiviertelstunde vergangen. Er ließ sich Birnes Personalien herunterbeten. Birne war kooperativ und dachte: Zwischen hier und Bananenstaat sind es nur drei Kilometer.
Wieder warten, wieder keine Antworten auf Fragen. Birne überlegte, ob er aufs Klo gehen sollte, dann kam ein großer Moment, an sich ein kleiner, aber für diesen Tag etwas Gewaltiges: Er wurde hereingebeten zum Kommissar.
*
Arschlöcher. Alles Arschlöcher, da oben, an ihren fetten Schreibtischen, Arschlöcher. Das war ihm jung mal passiert, ganz jung, und seitdem nicht mehr. Unerhört. Der eine Arm des Gesetzes hielt den anderen fest, wenn er nicht aufpasste, haute er ihn ab, der eine den anderen.
Bruno Abraham hatte keine Lust mehr auf den Mord, er hatte einen Verdächtigen verhaftet, er hatte noch kein Geständnis, aber er hatte Beweise, die den Mann in der Zelle durchdringen würden wie ein Bohrer, der sich durch eine Maus schob. Er hatte seine Arbeit für erledigt gehalten, die Akte heute Vormittag, noch nach Hustenbonbons riechend, unterschrieben und geschlossen und an die Staatsanwaltschaft in Kopie weitergegeben, sodass die damit anfangen konnten, was sie wollten. Und irgendeiner von den Arschlöchern hatte dort auf die Gelegenheit gelauert, ihm das Bein vollzupissen, denn als er und Trimalchio vom Mittagessen wiederkamen, lag eine Notiz auf seinem Schreibtisch, eine Notiz mit Tinas traumhaft-eleganter Schulmädchen-Handschrift. Er solle kurz drüben in der Staatsanwaltschaft anrufen, man bitte um Rücksprache. Es ging um den Mord, den er so lehrbuchhaft innerhalb einer Arbeitswoche seiner Klärung zugeführt hatte.
Was er beim Rückruf zu hören bekam vom Arschloch am anderen Ende der Leitung, war nicht schmeichelhaft. Man warf ihm vor, ein Dilettant zu sein, alles zu verstümpern, was ein Polizist falsch machen könne. Im ganzen Akt sei von drei Verhören die Rede, alle Beweise, die er im Moment habe, stützten sich auf Fingerabdrücke, er habe nicht einmal gewartet, bis die im Labor fertig gewesen seien, wo doch in der modernen Kriminalistik die DNA das A und O sei. Er habe den Deckel auf das oberste Blatt fallen lassen, bevor die eigentliche Arbeit angefangen habe.
»Ich meine, Sie haben kein Geständnis aus Ihrem Mann kitzeln können. Das ist kein Verhör, was Sie da geführt haben – das ist höchstens ein Pseudoverhör. Wenn wir so vor Gericht treten mit Ihren Beweisen aus Papier und Mehl, dann ist das je nach Richter wie eine Münze zu werfen. Bei Kopf sind wir durch und Ihr Mann hinter Gittern« – der Staatsanwalt sagte dauernd »Ihr Mann«, und Abraham fand es blöd, warum sollte es sein Mann sein – »und bei Zahl haben wir verloren, die Justiz einen ihrer schwarzen Tage und Kempten einen Mörder mehr auf freiem Fuß – wir müssen warten, bis ihm danach ist, wieder zu töten – welch Armutszeugnis.«
Bruno Abraham schluckte, statt zu antworten, ihm war schlecht, er wollte kotzen, sein Vortagesrausch wich einem Kater, der kein kleineres Arschloch war als das, das er gerade am Telefon hatte. Er hatte zum Mittagessen in einer Stehmetzgerei mit Trimalchio eine Schweinshaxe, eine recht fette, zu sich genommen in der Hoffnung, dass sie ihn von seiner Magenrebellion befreie oder ihn ein Herzinfarkt ganz dahinraffe. Nichts davon war eingetreten. Er saß mit seinem Elend am Schreibtisch, telefonierte und betrachtete seinen Zustand als eine Art Strafe für seine verkorkste Existenz und fand es auf mysteriöse Weise auf einmal irgendwie in Ordnung.
Das Schweigen auf der Seite Abrahams bewirkte, dass die Stimme des Arschlochs entspannter wurde, und sie davon sprach, dass er das verstehen müsse. »Wir gehen wie Sie davon aus, dass Sie den richtigen Mann verhaftet haben, aber verstehen Sie, wenn wir ihm vor Gericht den Strick drehen wollen, dann brauchen wir Säcke, die so gut verschnürt sind, dass aus ihnen kein Tropfen Wasser mehr sickert. Verstehen Sie?«
»Ja, schon.«
»Ich lasse Ihnen die Akte heute Nachmittag noch einmal zukommen und Sie überlegen sich, wie Sie sie noch ein wenig aufpeppen können. Legen Sie sie in einen Kübel mit Wasser und schauen Sie, wo noch Luftblasen aufsteigen, dort flicken Sie noch ein wenig nach und der ganze Käse ist gegessen. Verstehen Sie? Suchen Sie Nachbarn von der Alten, die sie mit Geldscheinen haben wedeln sehen, finden Sie Kebabkunden, die mit dem Messer bedroht wurden, nachdem sie versucht haben, mit zu großen Geldscheinen zu bezahlen. Und so weiter.«
Der redete mit ihm wie in der Schule, das konnte Abraham nicht ausstehen, ihn wunderte nicht, dass sein Sohn, der Oliver, manchmal dort austickte. Verstand er jetzt einwandfrei.
»Ist in Ordnung. Lassen Sie die Akte kommen, ich kümmere mich darum, persönlich.«
»Das will ich hoffen. Nix für ungut.«
»Nix für ungut.«
Abraham legte auf und fühlte sich beschissen. Nachbessern. Wie demütigend. Ihm war schlecht.
Er hatte sieben Tassen Kaffee getrunken und dazu nichts gemacht als trübe geschaut. Er war aufs Klo gegangen und hatte sich übergeben. Er hatte zunächst versucht, leise zu würgen, um unauffällig zu bleiben, als dann aber nichts kam als Speichelwasser, hatte er laut geschrien über das Ungeschick auf der Welt zu sein, und die Schweinshaxe war ihm vom Mund gefallen, war dem Ruf den Weg aus dem Magen über die Speiseröhre gefolgt, hatte Säure und Galle mitgebracht und fiel nun laut platschend als Brunos Kommentar zur Lage in die Schüssel, deren Rand mit jedem Schwall mehr Spritzer aus kleinen unverdauten Speisefetzen zierten.
Auf dem Rückweg schauten sie ihn an, doch er schritt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, zurück an seinen Arbeitsplatz. Dort trank er noch eine Tasse und überlegte nur, ob er gleich noch einmal kotzen gehen sollte, oder versuchen, sich zusammenzureißen vor den anderen im Revier – in seinem Revier.
Dann war die wunderschöne Tina erschienen, nicht weniger als engelsgleich, und hatte in der Hand ein Stück Unglück, diese kleine schnucklige Pandora.
»Soll ich’s dahin legen?«
»Gib gleich her. Danke.«
»Brauchst du eine Tablette?«
»Nein, das hilft alles nichts, das Einzige, was mir noch helfen könnte, ist ein Rasseweib wie du.«
Sie stand kurz an seinen Türrahmen gelehnt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte, ob sie sich beleidigt umdrehen und gehen sollte. Sie sagte: »Putz dir erst mal die Zähne, bevor ich mir überlege, ob ich dich küsse.«
Das war kein klassischer Korb. Abraham schenkte ihr zwei Stoßlacher und beugte sich über die Akte, die sie ihm vor die Nase gelegt hatte, sodass sie, ohne von ihm angestarrt zu werden, den Raum verlassen musste. Abraham schaute freilich gleich wieder hoch, nur um keinen Blick auf ihren geilen Hintern herschenken zu müssen. Keine Frage, sie wusste, wie sie wirkte, und er war so nah dran, sie zu knacken.
Freitagnachmittag. Das Revier leerte sich nach und nach. Die Kollegen winkten kurz rein und schenkten ihm ein bedauerndes Lächeln, bevor sie abhauten. Trimalchio wollte solidarisch wissen, ob er noch was tun könne. Abraham winkte ab und blätterte lustlos in seinen Papieren und konnte sich nicht entschließen, was zu unternehmen. Ein paar Mal hatte er den Telefonhörer in der Hand, aber noch, bevor er drei Ziffern gewählt hatte, legte er jedes Mal auf. Er stand auf und ging in das Vorzimmer, wo Tina immer noch geschäftig war oder nur so tat und wartete, bis sie allein waren. Er ging zur Kaffeemaschine, blieb dort hinter ihr in ihrem Nacken so lange stehen, bis sie sich umdrehen und fragen musste: »Gibt’s was?«
»Nein, nein, ich denke nur. Hast du heute so viel Arbeit?«
»Ich bin am Freitag öfter so lang hier, da ist es ruhig, weißt du.«
Abraham musste sich beherrschen, um vor Glück nicht loszuzittern. Außer ihnen beiden waren nur noch drei Beamte von der Bereitschaft auf dem Revier.
»Hast du Ärger wegen dem Mord bekommen?«
»Kann man so nicht sagen – ich meine, die Frau war 86. Wer soll da noch Ärger machen? Ein paar Kleinigkeiten. Bürokratenkram. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dich nicht damit belästigen.«
Zu dem Satz »Macht mir nichts, keine Sorge« schenkte sie ihm das süßeste Lächeln, das er, hätte ihn jemand gefragt, je bekommen hatte.
Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, den Kaffee ließ er nach dem ersten Schluck stehen und kalt werden. Der Spätnachmittag brach herein, das Wetter wurde schlechter, wurde sogar richtig übel. Aber sein Kater wurde kleiner, verschwand sogar ganz gegen 17 Uhr, als ein Anruf reinkam, ein Notruf, er bekam’s aus dem Vorraum mit. Ein Einbrecher. Den wollte er noch sehen, bevor er heimging.
Zwei Beamte fuhren los mit einem Streifenwagen, er war fast allein mit Tina und wurde nervös. Jedes Blatt hatte er schon zig Mal studiert und dennoch hörte er nicht auf, in der Akte zu blättern. Gleich würde er rausgehen zu ihr und sie zum schönsten Wochenende ihres Lebens einladen. Gleich.
Die Streife war nicht lange aus, ein Unwetter war über der Stadt hereingebrochen, es schneite wieder. Abraham konnte hören, wie sie den Einbrecher brachten: Sie ließen ihn eine Weile zappeln vor der Tür. Das war in Ordnung, das machte den Gauner kleiner. Am Anfang maulte er, dann wurde er still. Sie ließen ihn seine Taschen leeren, nahmen Fingerabdrücke und führten ihn ab. Abraham lauschte in den Nebenraum und wartete, bis der Mann in der Zelle war, dann ließ er ihn stehenden Fußes und mit maulenden Beamten zu sich kommen und staunte nicht schlecht, als er erkannte, dass der Wernerfreund vor ihm stand.
»Auweh zwick. Du?«, begrüßte er ihn.
Der war gar nicht fertig, eher im Gegenteil enthusiastisch, nun endlich bei der Polizei auspacken zu dürfen. Abraham versprach sich nichts davon, ihm zuzuhören, höchstens einmal mehr mitzubekommen, wie Menschen sich zum Affen machen, nur um einmal in der Mitte zu stehen.
»Endlich«, sagte Birne.
»Was endlich?«
»Bin ich hier.«
»Du bist in einer fremden Wohnung erwischt worden. Einbruch ist kein Kavaliersdelikt. Ich bin ehrlich froh, auf dieser Seite des Schreibtischs zu sitzen.«
Birne erwiderte nichts.
»Versteh mich nicht falsch, auch mein Wochenende steht vor der Tür, ich will die Sache zu Ende bringen vor der Tagesschau. Ich denke, das ist ganz in deinem Sinne.«
Birne nickte.
»Wer hat dich so zugerichtet?« Abraham fragte, weil man Birne immer noch ansah, dass er geschlagen worden war.
»Das war der Mann, der mich da drin erwischt hat – ich vermute, das ist der Enkel von der Zulauf, sie wollten die Wohnung ausschlachten.«
»Was wolltest du da drin?«
»Ich habe den Schlüssel von der Türkin, die bei uns im Haus wohnt, deren Mann ihr eingesperrt habt.«
»Frau Kemal.«
»Genau.«
»Wieso hat sie ihn dir gegeben?«
»Sie glaubt nicht, dass ihr Mann schuld ist, sie wollte, dass ich noch einmal nach Unschuldsbeweisen suche.«
Abraham schnaufte schwer und schüttelte seinen Kopf. »Wie ist das gegangen? Wie haben sie dich gekriegt?«
Birne erzählte, wie er im Imbiss angesprochen worden war. Abraham legte seine Stirn in Falten, als Birne vom Imbiss sprach, er suchte zwischen den Worten nach Hinweisen, nach Umständen. Birne erzählte weiter von ihrem zweiten Treffen im Laden des Bruders und seinem Auftrag.
»Was solltest du da suchen?«
Birne wurde vorsichtig, er zögerte ein bisschen. »Weiß nicht genau. Geld vielleicht.«
»Geld? Hast du was gefunden?«
Eine Sekunde verstrich unter knisterndem Schweigen. »Nein«, antwortete Birne.
Abraham schaute ihm tief in die Augen: »Sonst noch was?«
Birne, schneller mit seiner Antwort: »Ich war wohl zu kurz drin – Gebetbücher.«
»Sag mal im Ernst: Warum, glaubst du, haben die dich da reingeschickt?«
»Weil die Polizei einem Deutschen mehr glaubt als einem Türken, sagen sie.«
Abraham lachte laut auf. »Ich glaub dir, keine Sorge, keine Sorge, glaub auch, dass du ein ausgewachsenes Rindvieh bist.«
»Ich? Wieso?«
»Na ja, ich will’s mal so ausdrücken: Wenn du deinen Kopf in der Schlinge liegen hast, bist du einem, der deinen Platz einnimmt, umso dankbarer.«
»Wie?«
Birne war vorhin schon aufgefallen aus dem Augenwinkel, dass der vielleicht größte Schmuck dieses Reviers im Vorzimmer von Bruno saß. Die Frau schaute jetzt rein, schaute auch kurz ihn an, was ihn in Verlegenheit brachte, weil sie so hübsch und er so verhaut war. »Brauchen Sie noch etwas, Herr Abraham?«
»Weiß nicht, nein.« Der Kommissar wirkte verwirrt.
»Dann pack ich es jetzt.«
»Nein, wart noch kurz, bis wir mit dem fertig sind.« Als er die Enttäuschung bemerkte, die er auf ihrem Gesicht auslöste und die es nur noch süßer machte, fügte er hinzu. »Wir haben es in fünf Minuten. Zehn höchstens.«
Die hübsche Sekretärin verschwand, stöckelte demonstrativ laut zu ihrem Platz zurück und raschelte mit der Zeitung: Sie hatte hier nichts mehr zu tun, das waren jetzt Überstunden, die der Staat zu bezahlen hatte.
»Ich hab unser kleines Verhör aufgezeichnet, ich lass das jetzt abtippen, du unterschreibst deine Aussage, und ich füge die kleine Geschichte den Beweisen hinzu.« Er öffnete ein Diktiergerät, das er in seiner offenen obersten Schublade liegen hatte, und wollte die Kassette zu Tina bringen, um sie noch einmal zu sehen und sicher zu sein, dass sie ihm nicht einfach abhaute.
Da sagte Birne: »Und wenn ich nicht unterschreibe?«
»Was du gesagt hast, hast du gesagt. Wenn du nicht unterschreibst, wird dieses Wochenende ungemütlich, dann bleibst du wegen dringendem Tatverdacht hier.«
»Ich bin unschuldig.«
»Das glaub ich dir meinetwegen, aber wenn erst mal ein Verfahren läuft, hast du deine Unschuld zu beweisen mit Alibi und allem Pipapo, was euch Junggesellen schwerer fällt als den anderen. Willst du das?«
»Nein.«
Abraham pokerte, denn er hatte selbst am allerwenigsten Lust auf diesen Idioten und Arbeit mit ihm. Er wollte ihn auf schnellstem Wege abschieben und dann selbst gehen.
»Okay, ich denke, ich kann mich drauf einlassen, wenn du mir versichern kannst, dass ihr den armen Türken nicht umsonst eingesperrt habt.«
»Jetzt hör mal zu: Ich weiß nicht, was die dir erzählt haben, aber ich kann es mir vorstellen. Glaub mir, die würden jetzt alles tun, um ihren Mann wiederzubekommen, du bist denen gerade wurst und maximal noch ein Bauernopfer wert. Ich weiß, was ich tue, ich erledige meinen Job nicht erst seit zehn Jahren, das heißt, wenn ich einen verhafte, dann ist das in 99 von 100 Fällen der Richtige.«
»Ist ja gut.«
»Nein, ich mein nur. Da kommt einer neu in eine Stadt, weiß nicht viel mit sich anzufangen, weil ihm gerade die Frau davon ist, dann lässt er sich einspannen von irgendetwas oder jemand, meint, weil er aus München ist, er sei gescheiter als 60.000 Menschen hier, und meint, er könnte uns von der Polizei die Arbeit abnehmen.«
Irgendwie hatte der Polizist schon recht, das musste Birne zugeben.
»Vielleicht suchst du dir einfach eine Frau, gibt genug hier, auch schöne, du hast eine Fachhochschule vor der Haustür, Mann.«
Er hatte ja so recht.
»Und eines sag ich dir: Wenn ich dich noch einmal erwische, wie du dich in die Angelegenheiten von der Polizei einmischst, dann sorge ich dafür, dass du blutest. Und das meine ich durchaus in der doppelten Bedeutung des Wortes. Freundschaft mit Werner hin, Freundschaft mit Werner her.«
Birne war soeben geschrumpft, hier in Brunos Zimmer. Die hatten ihn ausgenutzt, die hatten ihn zum Affen gemacht. Und der Mann, von dem er zunächst nichts gehalten hatte, war nun der, der ihm die Welt wieder gerade rückte, der ihm zeigte, wie die Uhren hier tickten.
»Du hast recht«, bestätigte er.
»Natürlich.«
Die hübsche Sekretärin schaute noch mal rein in die Stube und wünschte den Herren – und damit auch ihm – ein schönes Wochenende und wollte verschwinden. Als Birne sich wieder Bruno zuwendete, wirkte der eindeutig traurig und enttäuscht. Birne verstand schon wieder was und hatte ebenfalls das Bedürfnis, die Sache schnell zu bereinigen und seinem Stammtischkollegen den Abend nicht zu versauen.
»Warte, Tina«, flehte Bruno und wedelte mit seiner kleinen Kassette. »Kannst du mir diesen Gefallen noch erledigen, ist nicht viel, nur ein paar Minuten.«






