- -
- 100%
- +
»Chef.« Die Sekretärin wirkte wie ein Engel in dem Raum. »Tut mir leid«, sagte sie und verzog dabei ihre frisch nachgeschminkten Lippen zum Niederknien. »Ich kann jetzt bitte wirklich nicht mehr länger warten. Ich habe noch einen Termin im Fitnessstudio, das kostet nicht wenig Geld, und ich will das halt nicht unbedingt verfallen lassen. Ich würd dann gehen, wenn’s geht. Leg’s hin. Ich mach’s am Montag zuerst – versprochen.«
Birne hatte was gut zu machen: »Du, ich denke, wir haben es, ich will dich nicht länger aufhalten, du hast meine Nummer im Geschäft, ruf an, sobald ihr’s habt, ich komm, setz meinen Servus drunter, kein Problem.«
Bruno blickte tatsächlich böse auf ihn unter seinen dunklen Augenbrauen hervor, er überlegte sich noch eine Strafe für Birne und brachte ihn zum Schwitzen. Dann gab er den Gedanken auf. Er wurde ruhig, fast zärtlich sagte er: »Wart, ich bring dich hin.« Und zu Birne: »Wenn du Montagvormittag Zeit hast, dann klären wir das in Ruhe.«
Birne war erlöst. »Muss dann halt gehen. Ich sag meinem Chef, dass ich in einer wichtigen Polizeiangelegenheit weg muss. Dafür wird er Verständnis haben.« Er konnte es sich nicht verkneifen zu der Sekretärin hinüberzwinkern. Sie lächelte ihn an.
»Sag mal, soll ich dich auch noch ein Stück mitnehmen? Wenn ich eh schon fahre?«, fragte Bruno auf einmal großzügig.
»Gern«, nahm Birne an.
Sie brachten die Frau, die sich mit einem kleinen Kuss auf Abrahams Wange bedankte, zum Studio für Frauen und schauten ihr beide verträumt auf den Hintern, als sie ausstieg.
»Tolle Frau«, stellte Birne fest.
»Ja, aber sehr anspruchsvoll. Da muss schon ein besonderer Mann her.«
»So einer wie du?«
»Du, lass mich in Ruh mit den Weibern.«
Birne lachte. »Du kannst mich gleich hier rauslassen, ich hab’s nicht mehr weit.«
»Ich muss in deine Richtung, wir machen das komplett.«
»Wo wohnst du?«
»Waltenhofen.«
»Echt?«
Hinter ihnen hupte ein Auto, weil sie vor einer Ampel standen, die nun grün war.
»Ich fahr ja schon, du Arschloch.« Und zu Birne gewandt fuhr Abraham fort: »Verstehst du, was ich meine?«
»Ein bisschen schon.«
»Du hast ein bisschen Spaß zu zweit, dann lässt sie dich fallen, weil sie einen Arzt findet oder einen Unternehmensberater mit wirklich Geld in der Tasche. Da sind wir kleine Amüsierbrocken zwischenrein.«
»Zweifellos.«
»Mir ist auch die Frau davon und ich habe darüber furchtbar geflucht, aber mittlerweile bin ich ehrlich froh. Mir fehlt gar nichts. Ich schieb ab und zu mal eine Nummer mit einer Barbekanntschaft, und das genügt, den Rest meiner Zeit bin ich der freieste Mann der Welt.«
»Versteh schon«, erwiderte Birne, obwohl er Bruno durchschaute: Er würde gern die kleine Sekretärin haben, doch die zierte sich.
»Du wohnst hier, gell. Ich lass dich jetzt raus.«
»Du, vielen Dank.«
»Gern geschehen. Sauber bleiben, Birne.«
»Na klar.«
Birne stieg aus.
Bruno Abraham fuhr an, als sein Handy furchtbar vibrierte und schreckliche Piepsgeräusche von sich gab. Er nahm es und schaute nach, von wem die SMS kam.
»Heute steht Leibesertüchtigung in meinem Mondkalender, Bär«, stand da und die Nachricht war von Tina.
*
Birne trabte trotzig durch das Sauwetter. Bruno hatte ihn eine Kreuzung zu früh rausgelassen. Alles wurde nass in Sekundenschnelle, sein leichter Kittel war zu dünn für diesen Sturm. Er fühlte sich gereinigt, er fühlte seine Kraft wachsen. Er kehrte durch den Regen zurück nach Hause, wo so viel Schicksal und Prüfung auf ihn warteten, wie noch nie an einem Ort, den er Zuhause genannt hatte.
Er musste niesen und beschloss, einer Erkältung keine Chance zu geben, sich jetzt in ihm breitzumachen. Er würde kämpfen gegen alles. Er hatte neu angefangen, nichts konnte ihn umwerfen. Seine Schuhe, seine Socken waren wie ein einziger feuchter Brei an seinen Füßen. Ihm war nicht kalt, er konnte schneller gehen als jede Kälte, die in ihm aufziehen wollte.
Sein Haus hob sich mit einem noch dunkleren Grau gegen das Grau des Himmels ab. Es gab kein Licht in seinem Stockwerk und auch keines in dem der Toten – das hieß, ihre Jungen waren weg. Nur in den früh heruntergelassenen Rollläden der Kemals im Erdgeschoss waren gelbe Schlitze zu sehen. Sie hatten was zu verbergen und schauten gemein in die Welt hinaus. Ohne sich abzutrocknen, beschloss Birne, würde er sie nun aufsuchen und ihnen alles vor die Füße knallen, bis er fertig wäre mit ihnen.
Er klingelte an ihrer Wohnungstür und hörte gleich darauf, wie jemand drinnen den Haustüröffner drückte. Birne klopfte, um zu signalisieren, dass er schon da war. Es wurde geöffnet, der Junge stand vor ihm und schaute ihn mit großen Augen von unten an, sagte nichts. Er kannte Birne nicht und hatte keine Ahnung, was er wollte.
»Ist deine Mama da?«, sagte Birne und wunderte sich selbst, wie nett er klang.
Das Kind drehte sich um und rief in den Gang hinein.
Kurz darauf erschien Frau Kemal. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf und öffnete die Tür weit.
»Hallo«, grüßte Birne.
Die Frau ging zur Seite und ließ Birne eintreten, sie sagte nur »Bitte« und wies ihm den Weg zu Küche. Dort wartete der Bruder. Es roch nach Gemüse. Auf dem Herd stand ein Topf, in dem etwas köchelte, auf dem Tisch lagen Reste eben geschnittenen Gemüses, direkt vor dem einzigen nicht belegten Stuhl. Die Kinder standen im Hintergrund und wollten ebenfalls mitbekommen, was es Neues gab im Fall des Vaters. Birne setzte sich unaufgefordert hin. »Hallo.«
»Guten Tag«, grüßte der Bruder. Mehr nicht. Birne schwieg mit.
»Sie haben mich verhaftet.«
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte der Bruder sehr sachlich, sehr ruhig, was Birne wütend werden ließ. Die hatten nur ihren Kram im Kopf, der Ärger, den er sich eingehandelt hatte, interessierte sie nicht.
»Nein, und die Polizei ist sich sicher, den Richtigen zu haben.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Frau Kemal laut. »Sie haben Ihnen Unsinn erzählt, sie haben Sie mit Blödsinn geimpft. Jetzt sind Sie ein Nazi wie die.«
Das brachte den letzten Tropfen Geduld in Birne zum Überlaufen: »Was wollen Sie von mir? Was soll ich denn tun? Soll ich denen sagen, dass ich es war?«
»Wollen Sie Geld haben?«, fragte der Bruder und brachte wieder etwas Ruhe in den Raum.
»Nein, das habe ich Ihnen schon gesagt. Es hat nur keinen Sinn. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen. Wieso gehen Sie nicht selbst hinein?«
Es klingelte wieder an der Tür. Frau Kemal sagte etwas auf Türkisch zu ihrem Sohn, und der ging wieder zur Tür. Es erschien eine dunkelhaarige Frau, die sich blonde Strähnen geleistet hatte, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass sie die Zeit ihrer größten Schönheit gerade hinter sich gelassen hatte, nichtsdestoweniger eine reife Attraktivität ausstrahlte. Kleine und einige Falten um ihre Augen zeigten an, dass sie in anderen Momenten viel lachte. Sie hatte ihr Haar mit einem Reif zurückgesteckt und trug ein blaues Kostüm etwas ungelenk, als ob sie sich zu einem Anlass etwas mehr herausgeputzt hätte als üblich. Bevor sie ihm der Bruder als solche vorstellte, wusste Birne, dass er dessen deutsche Frau vor sich hatte. Er mochte sie.
Frau Kemal stand auf und machte ihr Platz.
»Sie sind Herr Birne?«
»Das bin ich, ja.«
»Nun, ich muss sagen, dass ich zunächst skeptisch war und abraten wollte, als mein Mann und meine Schwägerin mir sagten, dass sie Sie in die Angelegenheit hineinziehen wollten. Aber wenn ich Sie jetzt so vor mir sehe …«
Das war nichts als Hohn. Birne saß tropfnass in der Küche, man hatte ihn verprügelt, nur ein Stockwerk höher, auch das musste ihm noch anzusehen sein.
»Ich habe es gemacht, weil Frau Kemal mich überzeugen konnte, dass ihr Mann unschuldig ist. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
»Seien Sie sich da sicher, der Mann ist unschuldig, da erzählen wir Ihnen keine Geschichten, das können wir uns wirklich nicht leisten.«
Birne dachte, dass sie jetzt eine Deutsche aufgefahren hatten, damit alles glaubwürdiger rüberkam. Aber Birne hatte keine Lust mehr.
»Erzählen Sie«, gab er ihnen noch eine Chance.
»Nun, ich kann nicht viel erzählen, das würde uns hier auch nicht weiterhelfen. Glauben Sie mir einfach: Wir haben Feinde an ziemlich hoher Stelle, die uns was reinwürgen wollen. Deshalb ist der Mann meiner Schwägerin unter Mordverdacht eingesperrt. Deswegen will man ihm den Prozess machen. Aber er ist unschuldig.«
»Warum ist man da oben gegen Sie?«
»Das sind sehr private Gründe. Die kann ich Ihnen nicht verraten.«
»Gerade deshalb sollten Sie sie mir verraten.«
»Das geht Sie wirklich nichts an«, mischte sich der Bruder wieder ein.
»Wissen Sie was, dann geht mich die ganze Sache nichts mehr an. Suchen Sie sich einen anderen Idioten, ich bin aus der Sache draußen.« Birne war so wütend, dass er aufstand.
Die Braut des Bruders: »Sie sind wirklich ein Idiot, Sie sind genau so wie die.«
Frau Kemal: »Sie sind ein Nazi.«
Der Bruder: »Sie haben uns enttäuscht.«
Das war das Letzte, was Birne hörte. Er haute die Tür zu und lief in seine Wohnung, riss sich noch im Flur seine Kleider vom Leib und würde sich nun eine heiße Dusche schenken. Als er sich der Hose entledigte, fiel ihm der Schlüssel zur Wohnung der Zulauf auf den Badboden. Den hatten sie ihm auf dem Revier wiedergegeben und nicht mal wissen wollen, wofür der war. Deppen, dachte sich Birne. Und auch Kemals war er egal geworden, anscheinend. Nun hatte er ihn, und er beschloss, ihn mit einer Mischung aus Stolz und Trotz zu besitzen.
Er schmierte sich nach der heißen Dusche zwei Brote mit Nutella und legte sich in sein Bett, weil er Schmerzen in den Gliedern verspürte. Hatte er sich doch erkältet? Es war ein aufregender Tag gewesen. Kurz bevor er in den Schlaf fiel, überlegte er sich noch, ob er sich vor denen da unten jetzt fürchten sollte. Dann wurde er aber schläfrig und döste ein.
6. Tag
Birne schlief tief und lange, er träumte nicht. Um 8 Uhr des nächsten Tages öffnete er seine Augen und stellte fest, dass seine Nase nicht lief und sein Hals nicht kratzte: Er war nicht krank, er war gesund.
Er schwang sich auf, draußen hatte sich alles beruhigt, er holte sich Semmeln und fand auf dem Rückweg im Briefkasten seine Zeitung. Alles war in Ordnung. Im Briefkasten der alten Frau steckten die Allgäuer Zeitungen der vergangenen Tage und die heutige: er quoll über. Birne widerstand der Versuchung nicht. Offensichtlich kümmerte sich niemand darum. Der Zeitungsausträger musste sich ärgern, der blöde Bernd sollte das ausleeren. Er tat das nicht. Birne übernahm das jetzt, er hatte sich das verdient.
Er frühstückte intensiv und warf sich danach auf das Sofa, um alles in seiner Zeitung zu studieren, was ihn interessierte, und dann nahm er sich die der Toten vor und das konnte ruhig bis 18 Uhr dauern. Mehr brauchte an diesem Tag nicht passieren.
Nix ging schief, nix fiel ihm aus der Hand, er hatte sein Leben im Griff. Er blätterte auf seinem Sofa, las zudem noch Dinge, die ihn nicht interessierten, und fand die Welt so, wie sie ihn an diesem Samstagvormittag behandelte, in Ordnung.
Fast hatte er sein großes Thema der vergangenen Tage vergessen, als er im Bayern-Teil, den er nicht verschmähte, sondern sich als Schmankerl aufgehoben hatte, unter der Überschrift »Mord in Rekordzeit aufgeklärt« fett Kempten las. Sein Fall! Seine Zeitung.
Da stand:
Er sieht nicht aus, wie man sich die Helden aus dem Fernseh-Tatort vorstellt, und er möchte auch nicht, dass man ihn als einen solchen anspricht: Bruno Abraham ist Kriminalkommissar in Kempten und hat etwas zustande gebracht, wovon die Hercule Poirots, Columbos und Miroslav Nemec‘ dieser Welt träumen – er hat einen Mord innerhalb von einer Woche aufgeklärt. Er ließ dem Blut des Opfers kaum Zeit zu trocknen.
Das Opfer, von dem die Rede ist, war eine Frau von 86 Jahren. Sie hatte nichts als ein gutes Herz und ein einsames Heim – und ein paar Euro zu viel im Sparstrumpf. »Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Raubmord handelt. Motiv: Habgier«, erläuterte der pfiffige Kommissar aus der Voralpenmetropole die Lage. Der Täter weigert sich bisher zu gestehen. Dabei ist die Beweislage übermächtig. »Wir haben Fingerabdrücke an der Tatwaffe, in der Wohnung, am Opfer, überall.« Der mittlerweile verhaftete und ungeständige Mann ist 42 Jahre alt, Türke und betreibt mit seiner Gemahlin einen türkischen Imbiss an einer Kemptener Ausfallstraße, an der wenige Hungrige vorbeikommen, geschweige denn halten. »Die waren finanziell gehörig am Rudern«, sagte ein Ortsansässiger aus. Und weil der Mann die Miete nicht bezahlen konnte und seine beiden Kinder nach immer mehr Markenklamotten brüllten, griff er wohl zur Waffe und vollbrachte das Unfassbare: Er drang bei der Nachbarin ein und tötete sie mit 17 Stichen in die Brust. »Dann wurde ihm wohl klar, was er da eben Entsetzliches getan hatte, und er floh, ohne etwas zu entwenden, vom Tatort«, beschreibt Kommissar Bruno Abraham den mutmaßlichen Tathergang. Die Verwandten der armen Frau hätten jedenfalls nicht feststellen können, dass etwas Wesentliches aus der Wohnung gestohlen worden war.
»Wir hatten natürlich Glück, dass wir die Spur aufgenommen haben, als sie noch ganz frisch war«, so Abraham und wirkt nun doch etwas stolz auf seine Arbeit. Der Imbissbudenbetreiber bleibt bis auf Weiteres in Haft. »Sobald die Formalitäten, die unser Recht nun einmal verlangt, erledigt sind, wird der Prozess eröffnet. Das könnte sich je nach der Menge der Komplikationen einen Monat bis eineinhalb Jahre hinziehen«, meint der Polizeibeamte, der gerade einen so großen Triumph gefeiert hat, und wendet sich wieder seiner normalen Arbeit zu – es geht um die Verfolgung von Müllsündern. Irgendwie ist die Welt hier im Allgäu doch noch ein bisschen sauberer als anderswo.
Birne musste grinsen. Er hatte dazu wenig beigetragen, war aber trotzdem irgendwie stolz auf Bruno, dass er den Fall so professionell gelöst hatte und dass er zu seinen ersten Freunden hier zählte. Wenn der das las, war er bestimmt in Hochstimmung und gab ein paar Tropfen im Korbinian aus. Birne beschloss, heute einfach mal auf gut Glück vorbeizugehen. Später, am Abend. Vorher nicht ins Fitnessstudio, das musste er sich noch überlegen, ob das schlau war, dieses Hobby fortzusetzen. Gern hätte er Simone wieder getroffen, wenn dieser blöde Zwischenfall gestern nicht geschehen wäre. So war es ihm nur peinlich. Er hoffte, dass irgendwann einmal ein Zeitpunkt kommen würde, an dem er ihr das alles würde auseinandersetzen können.
Dann blätterte er durch die Zulauf-Blätter, wunderte sich, wie langweilig der Regionalteil war, wie wenig ihn das betraf. Auch da war die Rede vom Fall, weniger aufgeblasen, dafür mehr Bilder, einmal war sogar Bruno drin. Im Interview. Da wurde gefragt, wie es denn aussehe mit der Sicherheit in der Stadt, ob jetzt jeder damit rechnen könne oder besser solle, ein Messer reingerammt zu bekommen oder einen lieben Angehörigen demnächst in seiner Wohnung und Blutlache zu finden. Bruno antwortete: »Die Polizei, meine Kollegen und ich, leisten hervorragende Arbeit. Die Sicherheit der Bürger ist uns nicht nur Beruf, sondern auch Berufung. Aber 100 Prozent können wir allein von der Polizei nicht garantieren, da werden wir zu sehr von anderen Aufgaben eingenommen. Der Gesetzgeber wäre gefragt.« »Was wünschen Sie sich?« »Wir bräuchten mehr – mehr Leute, mehr Geld, mehr Befugnisse. Wir sind nur Menschen hier. Unsere Leistungsfähigkeit ist beschränkt, auch wir sind mal krank oder haben privat Probleme und dennoch wird eigentlich von uns erwartet, dass wir 24 Stunden am Tag die Augen offen haben. Ich bin stolz, in einem freien Land zu wohnen. Die Freiheit ist für uns selbstverständlich, wir sind mit ihr geboren und deshalb vergessen manche – es sind nur ein paar, aber die genügen – dass Freiheit auch Grenzen braucht, Grenzen, die man dringend verstärkt in den Schulen vermitteln sollte. Das halte ich für wichtiger als Griechisch und Latein. Damit will ich nichts gegen unsere Schulen sagen. Die sind nicht schlecht. Wenn jemand nicht das Glück hatte, unsere Erziehung zu genießen, dann fehlen dem oft völlig die Schranken und das kann fatal werden.« »Sprechen Sie von den Menschen, die erst in unser Land gezogen sind als Erwachsene?« »Ich will nicht pauschalisieren, sonst hat man gleich wieder seinen Ruf weg. Aber ein bisschen was ist schon dran. Seien wir ehrlich, die bringen ein ganz anderes Wertesystem mit, das sich auf unseren Straßen nicht umsetzen lässt. Da kommt es zu Kollisionen, unvermeidlich. Daheim sollen sie das ruhig ausleben. Aber hier regieren unsere Gesetze und die vertrete ich, dafür bekomme ich mein Geld und wer da was dagegen hat, der spürt meinen Knüppel. Mehr sage ich nicht.«
Birne schaute sich das Kino-Programm an. Das wär mal wieder was. Kino. Große Filme. Dann die anderen Anzeigen, dann die Todesanzeigen, ihre Anzeige. Da las er, was er jetzt unmöglich überlesen konnte: die Beerdigung. Sie hatten die alte Frau schon freigegeben. Sie mussten nicht mehr an ihr rumschneiden, die fleißigen Pathologen. Heute, 10 Uhr.
Birne wollte da hin. Birne gehörte da hin. Sollten sie ihn sehen. Drauf geschissen. Er würde sich auch im Hintergrund halten. Kaum schnaufen. Nur beobachten.
Er hatte schwarze Klamotten im Kleiderschrank, nicht zu nobel, aber dafür langte es. Er ging zu Fuß, musste dazu am Forum, einer Mall, die das Zentrum als Zentrum bedrängte, vorbei, dann durch die Fußgängerzone abwärts, am Karstadt und der Residenz entlang, alles im hässlichsten Wetter und inmitten von Volk, das seinen Konsumbummel am Vormittag begann.
Wenig los in der Kirche. Sie mussten ihn sehen. Birne drückte sich in die letzte Reihe, was auffällig war, weil die Reihen zwischen ihm und den paar da vorne leer waren. Der Gottesdienst lief schon. Birne kam zur Lesung, danach das Evangelium. Ein ziemlich grauer Pfarrer mit Halbglatze und gutem Bauch, der von Bierdurst zeugte. Er las von der Aufweckung des Lazarus. Der war vier Tage tot und dann kam Jesus und holte ihn wieder hoch. Damals war es heiß, dann wurde der Lazarus wieder lebendig, wahrscheinlich hatte er damals schon nach Verwesung gestunken, denn der Heiland war nicht gleich zur Stelle gewesen, weil er noch vier Tage gebraucht hatte zu Fuß zum Lazarus. Vier Tage verfaulen in der Hitze, dann kommt der Jesus und übergibt der Familie einen Zombie. Zuerst war da sicher ein großes Hallo, weil die Nachbarn den Lazarus ja tot gesehen haben und plötzlich spaziert er wieder aus seinem Grab raus, dann muss es ihnen aber doch unheimlich geworden sein. Ist das Verfaulte wieder zusammengeheilt? Geht so was?, dachte Birne. Ging so was, weil Jesus seine Finger dran gehabt hatte? Wie wär das, wenn die Zulauf wiederkäme plötzlich? Zumindest eigenartig. Mit der wollte man nicht mehr schnapseln und erst recht nicht mehr Brotzeit essen. Jetzt, nachdem sie tot war, war sie wohl tot. Bruno war nicht da. Der Enkel war da und seine Freundin Simone, ein älterer Herr mit einer Frau, ebenfalls in Schwarz, könnte der Sohn sein, der Vater vom Enkel. Der Rest der Gemeinde war auch schon alt, am Rand des Grabs, die wollten noch was fürs Seelenheil tun. Das Evangelium erzählte eine Zombie-Geschichte, damit den Zuhörern klar wurde, dass die Toten bleiben sollten, wo sie waren, weil Zombies stinken und blöd sind in der Birne. Lazarus hatte eine Schwester, die Martha, die heulte am Anfang am lautesten, auf die hörte Jesus. Und die Martha, die hatte was übrig für diesen Jesus, der ihr den Bruder wieder lebendig machte. Vielleicht brauchte sie ihren Bruder fürs Geschäft. Niemand verliert gern den Bruder, der Bruder war weg und auf einmal wieder da, gerade als man sich damit abgefunden hatte, dass er weg war. Damit mussten die zurechtkommen damals, war nicht einfach, war komisch sicher. Und anstrengend, ein Leben zu führen mit einer komischen Beziehung, das wusste Birne. Die Martha hatte sich einen Stress ins Haus geheult, die war froh, wie er dann endgültig weg war. Kann sein, dass der Jesus sich gewundert hat, dass sie beim zweiten Mal nicht wieder so traurig gewesen war. Er hätte den Lazarus womöglich noch mal geholt, diesmal endgültig, und man könnte ihn womöglich heute noch bestaunen, den Lazarus, der nicht mehr starb, nachdem Jesus ihn zwei Mal geholt hatte. Man könnte ihn fragen, wie Jesus war als Mensch und nach seinem größten Wunsch könnte man ihn fragen und dann würde er sagen, dass er gern den Sisyphos kennenlernen würde, wenn es ihn gäbe. Lazarus fault bis auf den heutigen Tag, aber er wird nie ganz verfaulen, er wird nur immer mehr stinken und in ein Haus lässt ihn schon 1000 Jahre keiner mehr rein. Er vergisst auch alles, weil sein Hirn wegfault und der normale Alzheimer noch dazukommt. Er hat keine Ahnung, wer dieser Jesus ist, nach dem sie ihn dauernd fragen.
Davon redete der Pfarrer nicht in seiner Predigt. Es war auch keine rechte Trauer vorhanden bei dieser Trauerfeier. Die zu Beerdigende war alt gewesen, was wollte man noch erwarten. Der Pfarrer sprach vom Krieg, den die Alten noch erleben durften, dass er ihnen einen ganz anderen Blick auf das Wesentliche geschenkt habe, für den der heutige Christ auch dankbar sein könne, den ihnen aber das Wort Gottes auch schenken könne, für den es demnach auch keinen Krieg mehr brauche. Der Krieg tobe trotzdem, er habe das Land nicht verlassen. Die arme Frau Zulauf sei sein Opfer geworden. Man müsse weitere Opfer verhindern, aber dazu fehle der Bevölkerung der Mut und auch den Behörden. Der Pfarrer ist ein Nazi, dachte sich Birne. Die Familie Kemal war nicht da, wären sie da gewesen, hätte er mit ihr den Pfarrer als Nazi beschimpft, das hätte er noch für sie gemacht.
Die Freundin vom Enkel schaute sich um, weil die Predigt sie langweilte und nicht aufwühlte wie Birne. Sie schaute sich die Bilder in der Kirche an und die anderen Leute. Sie streifte Birne kurz und blickte dann erschrocken zu ihm zurück. Große Augen. Sie konnte es nicht fassen, diese Dreistigkeit. Diese laschen Behörden. Gleich würde sie schreien. Sie schrie nicht. Sie drehte sich wieder um.
Birne verschwand.
Was hatte er jetzt davon gehabt? Halber Gottesdienst ist geteilter Gottesdienst. Seine Idee war blöd gewesen. Er hatte sich wichtiger gemacht, als er war und sein wollte. Er rannte heim, zog sich seinen Jogginganzug an und warf sich in sein Bett.
Birne nickte ein; er wusste nicht, ob er lang oder kurz geschlafen hatte, als ihn das Klingeln seiner Tür weckte. Er überlegte, ob er es ignorieren sollte, denn er erwartete niemanden und schon gar nichts Gutes. Im dümmsten Fall waren es Kemals, die ihren Schlüssel wiederhaben wollten. Dann sollten sie ihn in Gottes Namen wiederhaben. Birne schlüpfte schließlich in seine Pantoffeln und schlurfte zur Tür.
Seine Gegensprechanlage war kaputt, da musste er sich mal beschweren. Er drückte auf den Türöffner unten, wartete und öffnete die Tür, um schon auf der Treppe erkennen zu können, ob er diesen Besuch gebrauchen konnte. Doch dieser Besuch kam nicht von draußen, sondern stand schon vor ihm, vor seiner Tür und überraschte ihn doch sehr: Simone.
»Hi«, sagte sie und beugte sich ganz nah zu seinem Gesicht – fast hätte er sie küssen können.
»Hi«, sagte er knapp und verlegen.
»Ist alles in Ordnung mit deinem Gesicht? Er war nicht gerade sanft mit dir. Tut mir leid.«
Während sie das sagte, kam Birne ein wenig runter von seiner Überraschung und verliebte sich dafür ein bisschen mehr in die Simone vor ihm. Die war in Ordnung, auch wenn es sein Gesicht nicht war.
»Passt schon, ich bin nicht aus Schokolade und es war auch meine Schuld.«
»Man soll nicht immer so kritisch mit sich selbst sein«, sagte sie schnippisch mit einer demonstrativen ostdeutschen Unbekümmertheit.
Birne lachte: »Da hast du recht.« Hatte sie auch, fand er.
»Bernd ist immer so grob und hinterher tut es ihm leid und er kommt drei Tage nicht aus dem Haus. Bernd ist der, der dich – Entschuldigung, Sie – so vermöbelt hat.«
»Du passt schon. Ich bin der Birne.«
Jetzt lachte sie: »Ich weiß, ich bin Simone.«
»Das weiß ich auch.«
»Ehrlich? Woher?«
»Er hat mit dir geredet und mich verhauen.«
»Na, dir geht es ja wieder ganz gut. Das seh ich schon.«






