Systemisches Management in Organisationen der Sozialen Arbeit

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In der Bezugnahme und Verarbeitung der generellen Blickweise auf »Organisation« und auf »Steuerung« im Hinblick auf die verschiedenen Steuerungsbereiche versuchen wir Antworten auf die folgenden Fragen zu entwickeln:
•Welche praktischen Probleme müssen in dem jeweiligen Steuerungsbereich bearbeitet oder gelöst werden? Welche Spannungsfelder und Paradoxien, die in den Blick genommen und bewältigt werden müssen, ergeben sich dabei im jeweiligen Managementbereich?
•Wie sind die in vielen Organisationen der Sozialen Arbeit sichtbaren Aufgaben sowie Lösungs- und Bearbeitungsstrategien aus systemtheoretischer Perspektive zu interpretieren?
•Welche Unterschiede ergeben sich zwischen einer »traditionellen« Sozialmanagementsichtweise und einer systemtheoretischen Perspektive? Warum vermag eine systemtheoretische Perspektive den Blick auf angemessenere Bearbeitungen zu eröffnen?
•An welchen »Leitorientierungen« kann sich ein »systemtheoretisch aufgeklärtes (Sozial-)Managementhandeln« ausrichten?
Mit dem Versuch, systemtheoretische Perspektiven konkreter auf Steuerungsbereiche für Managementhandeln in Organisationen der Sozialen Arbeit zu beziehen und dadurch praktische Reflexions- und Handlungsorientierungen zu entwickeln, verbinden wir die Absicht und die Hoffnung, zur oben skizzierten Differenzminimierung beizutragen und die systemtheoretische Perspektive auch für Akteure des praktischen Sozialmanagements »anschlussfähiger« zu machen.
Schon zu Beginn, in dieser Einleitung, wollen wir die Leser auf eine zentrale Orientierung für die Herausbildung eines systemtheoretisch konzipierten Sozialmanagements aufmerksam machen, deren Beachtung hilfreich für die Lektüre des Buches ist und die in den einzelnen Kapitel jeweils deutlicher herausgearbeitet, begründet und konkreter auf die einzelnen Steuerungsbereiche bezogen wird:
Für alle Bereiche des Managements in Organisationen der Sozialen Arbeit gilt die Anforderung, das bisherige Managementhandeln reflexiv in den Blick zu nehmen:
•im Hinblick auf Wirkungen und Nebenwirkungen,
•im Hinblick auf (explizite und implizite) Annahmen, die das Managementhandeln bisher geleitet haben oder die in diesem zum Ausdruck kommen,
•als Bewertung zur Angemessenheit dieser Annahmen sowie
•als Nachdenken darüber, wie Managementimpulse bisher verarbeitet worden sind.
Eine verstärkte Ausrichtung auf systemische Perspektiven im Sozialmanagement bedeutet auch, das Managementhandeln in der Vergangenheit zu beobachten, um a) daraus Erkenntnisse zu gewinnen über Zustand und Dynamik der Organisation sowie b) Schlussfolgerungen für die Handhabung weiterer Managementimpulse zu ziehen (als begründete Hypothesen). Umorientierung im Managementhandeln bedeutet auch, Beobachtungen der Dynamik bisherigen Managementhandelns und seiner Funktion in der Organisation zu machen als Reflexionshintergrund zur Entwicklung anschlussfähiger neuer (veränderter) Managementimpulse.
Weil die zukunftsorientierte Reflexion zu systemischen Perspektiven des Sozialmanagements immer auch eine reflexive Verarbeitung des bisherigen Managementhandelns und des jeweiligen Zustands des Managements einer Organisation der Sozialen Arbeit einschließen sollte, möchten wir mit den Darstellungen in den einzelnen Kapiteln dazu anregen, sich nicht nur mit möglichen zukünftigen (systemisch ausgerichteten) Handlungsperspektiven zu beschäftigen, sondern sich anhand der in diesem Buch enthaltenen Kategorien und Darstellungen auch mit der bisherigen Managementpraxis in einer Organisation der Sozialen Arbeit auseinanderzusetzen. Denn anschlussfähige und damit praktisch handhabbare und wirkungsvolle Entwicklungsperspektiven haben immer eine sorgfältige Analyse und Reflexion des Bisherigen zur Voraussetzung.
Zur Genese dieses Buches
Zum Schluss der Einleitung möchten wir noch etwas zur Genese dieses Buches sagen und zugleich einem besonderen Personenkreis unseren Dank aussprechen. Früher Ausgangspunkt zu Überlegungen für dieses Buch waren die Vorbereitung und die Durchführung des Fachtages »Systemisches Management – Was ist das und was nützt es?«, der im Februar 2014 an der Fachhochschule Münster stattfand (Referent u. a. Fritz B. Simon). Die Arbeit an dem Buch verzögerte sich durch viele andere Aufgaben und Arbeitsvorhaben – u. a. durch die Konzipierung des weiterbildenden Zertifikatskurses »Systemisches (Sozial-)Management«, der dann schließlich in sieben Seminarmodulen mit einer Gruppe von 18 Teilnehmern (Leitungspersonen in Organisationen der Sozialen Arbeit) von Oktober 2017 bis September 2018 an der Fachhochschule Münster (Fachbereich Sozialwesen) stattfand. Die Diskussionen in den Seminaren mit diesen Leitungspersonen zu den verschiedenen Steuerungsbereichen und zu deren »systemischer Ausprägung« waren für das Schreiben und Überarbeiten der einzelnen Kapitel dieses Buches insofern sehr anregend, als wir durch kritische Rückfragen, durch »Hinweise aus der Praxis«, durch Reflexionsimpulse motiviert wurden, unsere Gedanken zu ordnen, zu präzisieren, anzureichern. Dafür möchten wir an dieser Stelle den Teilnehmern des Kurses danken; durch ihre Beiträge in den Seminardiskussionen haben sie zur Präzisierung einiger Argumentationen in diesem Buch beigetragen. Nicht nur für dieses Buch, sondern auch in anderen Weiterbildungskursen zum »Systemischen (Sozial-)Management« (www.fh-muenster.de/systemisches_management) können wir ihre Anregungen nutzen, und wir sind zuversichtlich, dass auch in weiteren Fortbildungen und Fachdiskussionen das Vorhaben »Systemisches (Sozial-)Management« zu einem kontinuierlichen Entwicklungsprojekt in Theorie, Konzeptionsarbeit und Praxis werden kann.
1Auf Wunsch des Verlages wird in diesem Werk bei Personenbezeichnungen in der Regel darauf verzichtet, jeweils die männliche und die weibliche Form anzuführen. Gemeint sind jeweils alle Geschlechter, unabhängig davon, ob die männliche oder die weibliche Form benutzt wird.
1Die systemtheoretische Sicht auf Organisationen
Sich Organisationen aus einer systemtheoretischen Perspektive anzunähern stellt in mehrfacher Hinsicht eine gewisse Zumutung dar. Dies liegt zum einen darin begründet, dass innerhalb des systemtheoretischen Paradigmas allgemein geteilte – und in der Regel für gültig betrachtete – Annahmen hinsichtlich des Zwecks und der Steuerung von Organisation ebenso wie die Rolle derjenigen, die für die Steuerung von Organisationen zuständig sind (in der Regel Manager), nicht nur kritisch beleuchtet, sondern bisweilen auch auf den Kopf gestellt werden.
Der zumutende Charakter eines systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen zeigt sich zum anderen darin, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Theoriewerk die Leser bisweilen an das Erlernen einer Fremdsprache erinnert: Da werden Organisationen als selbstreferenzielle oder autopoietische Systeme bezeichnet, die sich operational schließen, zugleich jedoch auf Fremdreferenz angewiesen sind. Es werden Maßnahmen empfohlen, um eine Beobachtung 2. Ordnung zu ermöglichen, alles um bestmöglich mit Kontingenz bzw. doppelter Kontingenz umzugehen. Die Organisationsmitglieder werden als psychische Systeme bezeichnet, die lediglich über strukturelle Kopplung mit der Organisation verbunden sind, aber eigentlich der Umwelt der Organisation zugerechnet werden müssen usw.
Dass systemtheoretische Annahmen trotz dieser »Zumutungen« auch in organisationstheoretischen Standardwerken Berücksichtigung finden (vgl. Kieser u. Ebers 2006) und es zudem innerhalb der Sozialen Arbeit erste Bemühungen gibt, systemtheoretische Erkenntnisse auf die Steuerung von Organisationen zu beziehen (vgl. Bauer 2013; Gesmann 2014; Lambers 2015), erscheint daher erklärungsbedürftig. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Versuch, eben jene Erklärungsansätze zu bieten. Hierbei wird das Ziel verfolgt, Eckpunkte eines systemtheoretischen Verständnisses von Organisationen aufzuzeigen und diese von einem traditionellen, eher betriebswirtschaftlich geprägten Organisationsverständnis abzugrenzen.
Zu diesem Zweck findet in Kapitel 1.1 eine Präzisierung statt, was überhaupt unter einer Organisation zu verstehen ist. Vier allgemeine Charakteristika helfen hierbei, Organisationen von anderen sozialen Gebilden (wie z. B. einer Gruppe von Freunden oder der Schlange im Supermarkt an der Kasse) abzugrenzen. Diese vier grundlegenden Charakteristika von Organisationen dienen nachfolgend auch als Ordnungskriterien, um Unterschiede (und mögliche Gemeinsamkeiten) zwischen einem eher traditionellen zweckrationalen und einem systemtheoretischen Organisationsverständnis aufzuzeigen.
1.1Allgemeine Charakteristika von Organisationen
Von der Wiege bis zur Bahre – Organisationen prägen nachhaltig das Leben. Man wird in der Regel in Organisationen geboren, ab dem 2. oder 3. Lebensjahr einer Organisation zugeführt, die unter dem Namen Kindertagesstätte bundesweit erfolgreich firmiert, verbringt die Schulzeit mehr oder weniger freiwillig in Organisationen, studiert möglicherweise in Organisationen und arbeitet anschließend – im Idealfall bis zum wohlverdienten Ruhestand – in Organisationen. Selbst nach dem Ableben ist eine Organisation in der Regel dafür zuständig, sich der eigenen sterblichen Überreste anzunehmen.
Es verwundert daher kaum, dass auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit den überwiegenden Anteil ihrer Arbeitszeit in bzw. mit Organisationen verbringen. Wäre die Unterstützung von hilfebedürftigen Menschen nicht in den Kontext einer Organisation eingebettet, bliebe die jeweilige Hilfe lediglich ein Akt der Nächstenliebe oder eine Form der zwischenmenschlichen Nähe. Soziale Arbeit lässt sich daher u. a. auch dadurch charakterisieren, dass das Helfen durch einen gesellschaftlichen Auftrag geprägt ist und in einem organisationalen Kontext eingebunden ist (vgl. Merchel 2015a, S. 34).
Blickt man in die Praxis der Sozialen Arbeit, so wird allerdings schnell erkennbar, dass der Begriff der Organisation eine gewisse Unschärfe aufweist. Arbeiten die Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) eines Jugendamtes nun in der Organisation ASD oder in der Organisation Jugendamt? Kann ein Arbeitskreis, der sich rund um das Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Bezirk gebildet hat, als Organisation bezeichnet werden? Was ist mit Einrichtungen, die sich einem Wohlfahrtsverband angeschlossen haben: Sind diese nun Organisationen, oder ist nur der Wohlfahrtsverband eine Organisation? Und ist eine Selbsthilfegruppe eine Organisation?
Als sei dies alles noch nicht kompliziert genug, findet der Begriff Organisation noch in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung. Einerseits wird ein Jugendamt als Organisation der Sozialen Arbeit bezeichnet, andererseits verbringen Eltern zunehmend viel Zeit damit, die Organisation eines Kindergeburtstages zu übernehmen. Dass hier zwei völlig unterschiedliche Bedeutungen von Organisation zum Tragen kommen, dürfte offensichtlich sein. Sehr vereinfacht kann zwischen einem institutionellen und einem tätigkeitsorientierten Organisationsbegriff differenziert werden: Während aus einer institutionellen Perspektive der Organisationsbegriff Verwendung findet, wenn eine Organisation – wie z. B. ein Jugendamt – als Institution mit ihrem spezifischen Zweck, den darauf ausgelegten Strukturen und den organisationsspezifischen Mitgliedern charakterisiert werden soll,2 zielt der tätigkeitsorientierte Organisationsbegriff auf den Prozess des Organisierens ab, der im besten Falle eine gewisse Ordnung (oder einen gut laufenden Kindergeburtstag) ermöglichen soll. Darüber hinaus kann der Organisationsbegriff in einem instrumentellen Sinne Verwendung finden. In diesem Fall wird dann das Ergebnis des Prozesses des Organisierens (kondensiert in den verschiedenen Formen der Aufbau- und Ablauforganisation, die den Rahmen für alle Handlungen innerhalb der Organisation vorgeben) in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt (vgl. Grunwald 2009, S. 88 f.).
Wenngleich eine solche erste begriffliche Eingrenzung Hilfestellung bietet, um den Organisationsbegriff in seinen unterschiedlichen Facetten zu beleuchten, wird hierdurch noch nicht erkennbar, was das Spezifische von Organisationen ist und was sie von anderen sozialen Gebilden abgrenzt. Eine dezidiertere Betrachtung der vier grundlegenden Merkmale von Organisationen erlaubt eine weitergehende Konkretisierung des Gegenstands Organisation (vgl. Schreyögg 2008, S. 9):
•Spezifische Zweckorientierung
•Geregelte Arbeitsteilung
•Identifizierbare Mitglieder
•Beständigkeit der Organisationsgrenzen.
Spezifische Zweckorientierung
Organisationen werden gegründet und erhalten, um einen spezifischen Zweck zu verfolgen. Sei es, dass Unternehmen Güter in Form von Waren produzieren, um damit Profite zu erzielen, oder aber dass – wie es innerhalb der Sozialen Arbeit der Fall ist – Organisationen personenbezogene Dienstleistungen erbringen, um einen gesellschaftlichen Bedarf (z. B. Hilfe und Unterstützung bei der Lebens- und Alltagsbewältigung von Individuen zu bieten oder soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zu reduzieren) zu erfüllen. Organisationen, die auf die Formulierung von Zwecken verzichten, würden sowohl bei ihren Mitgliedern als auch in ihrer Organisationsumwelt ein Höchstmaß an Irritationen erzeugen und zugleich ihren Erhalt gefährden (vgl. Kühl 2011, S. 19).
Organisationsstrukturen als Ausdruck einer geregelten Arbeitsteilung
Zu den wesentlichen Definitionsmerkmalen einer Organisation gehört zweifelsohne, dass diese über eine Organisationsstruktur verfügen, dass somit (mehr oder weniger eindeutig) geregelt ist, wer was wann und wie macht bzw. machen sollte. Dieses Regelwerk der Organisation findet seinen Niederschlag beispielsweise in Aufgaben- und Kompetenzverteilungen, in Plänen oder Verfahrensanweisungen oder in Stellenbeschreibungen und Arbeitsverträgen und ergibt in seiner Gesamtheit die formale Struktur einer Organisation (vgl. Klimmer 2012, S. 3).
Identifizierbare Mitglieder
Organisationen sind mit zu identifizierenden Mitgliedern ausgestattet, die bereit sind, die formale Struktur einer Organisation zu berücksichtigen und die hiermit verbundenen Erwartungen an sie zu erfüllen. (Kurz: Sie »unterwerfen sich der Organisation.«) Um den Verbindlichkeitsdruck für beide Seiten zu erhöhen, wird die Beziehung zwischen Organisationen und deren Mitgliedern in der Regel über Arbeitsverträge fixiert. Die »kollektive Unterwerfung« der Organisationsmitglieder honoriert die Organisation in der Regel durch die Bereitstellung eines Entgelts (zumeist in Form eines Gehalts).
Beständigkeit der Organisationsgrenzen
Organisationen lassen sich darüber hinaus dadurch charakterisieren, dass sie in der Lage sind, sich von ihrer Umwelt abzugrenzen. (Es gibt somit ein »Innen« und ein »Außen«.) Jene Grenzen sind weder natürlich gegeben (wie die Grenzen eines Flussbettes) noch zufällig vorhanden. Vielmehr müssen sie als absichtsvoll hergestellt betrachtet werden und weisen in diesem Zusammenhang ein gewisses Maß an Stabilität auf, was zugleich aber nicht ausschließt, dass sich die vorhandenen Grenzen verändern können (vgl. Schreyögg 2008, S. 9).
Zusammenfassend lässt sich eine Organisation also von anderen sozialen Gebilden (wie z. B. der Schlange an der Supermarktkasse) dadurch abgrenzen, dass sie (mindestens) einen klar definierten und in der Regel allen bekannten Zweck verfolgt (einen solchen Zweck könnte man nun einer Schlange im Supermarkt auch noch attestieren: alle wollen bezahlen), dass sie zu diesem Zwecke formale (und zwangsläufig auch informale) Strukturen ausbildet (dies wird in der Supermarktkasse kaum zu beobachten sein) und dass sie sich eindeutig gegenüber ihrer Umwelt abgrenzt, was auch über Formen der Mitgliedschaft geregelt wird. Während sich im Supermarkt jeder an der Schlange anstellen oder aber – wenn es ihm zu lange dauert – auch wieder gehen kann, zeichnen sich Organisationen hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft in der Regel durch ein höheres Maß an Verbindlichkeit aus. (Nur so kann in der Regel gewährleistet werden, dass auch die Organisationszwecke erreicht werden).
Wenngleich diese allgemeinen Charakteristika von Organisationen Hilfestellung bieten, um den Gegenstand Organisation einzugrenzen, darf hierdurch nicht übersehen werden, dass Organisationen stets Konstrukte bleiben, die sich letztlich nicht im Ganzen, in ihrer Gesamtheit beobachten, erleben oder erfassen lassen (vgl. Merchel 2015a, S. 34). Ob man nun einen ASD als eigenständige Organisation oder lediglich als Organisationseinheit innerhalb der Organisation Jugendamt betrachtet, hängt daher vom jeweiligen Standpunkt des Beobachters (z. B. der Jugendamtsleiterin oder des ASD-Leiters) und dem individuellen impliziten Organisationsverständnis ab, also der subjektiven Antwort auf die Frage: Was ist mein Verständnis (mein Bild) von einer Organisation?
Wie bunt diese Vorstellungsbilder hinsichtlich des Wesens, der Funktionslogik und damit verbunden auch der Steuerung von Organisationen gefärbt sein können, hat Gareth Morgan eindrucksvoll in unterschiedlichen Bildern der Organisation aufgezeigt (vgl. Morgan 2006). Die nachfolgende Darstellung eines traditionellen, eher zweckrationalen Organisationsverständnisses (Kapitel 1.2), gefolgt von einem Organisationsverständnis aus einer systemtheoretischen Perspektive (Kapitel 1.3), zeigt hierbei auf, wie stark die jeweiligen Bilder voneinander abweichen können, wenngleich hiermit kein Schwarz-Weiß-Denken und erst recht kein Denken in Richtig-falsch-Kategorien produziert werden soll.
1.2Das traditionelle (zweckrationale) Organisationsverständnis
Von einem traditionellen Organisationsverständnis zu sprechen, scheint gewagt, da eine Vielzahl von Organisationstheorien existieren, die allesamt den Versuch unternehmen, den »Zweck, das Entstehen, das Bestehen und die Funktionsweise von Organisationen zu erklären bzw. zu verstehen« (Scherer 2006, S. 20). Dennoch lässt sich konstatieren: Die Vorstellung, Organisationen seien rational geplante und gesteuerte Gebilde, kann als »die seit Langem und noch immer dominierende Sichtweise sowohl im Alltagsleben als auch innerhalb der Organisationsforschung eingeschätzt werden« (Preisendörfer 2011, S. 95). Diese Sichtweise auf Organisationen wird nachfolgend in der gebotenen Kürze skizziert. Im Sinne einer »Leitplankenfunktion« geben hierbei die zuvor genannten vier allgemeinen Charakteristika von Organisationen (Zweck, Strukturen, Grenze und Mitgliedschaft) die Richtung vor.
Die Zweckhörigkeit des traditionellen zweckrationalen Organisationsverständnisses
Wie der Zusatz »zweckrational« bereits vermuten lässt, steht innerhalb des zweckrationalen Organisationsverständnisses der Zweck im Vordergrund. Es wird also davon ausgegangen, dass eine Organisation ein »zweckrationales Gebilde« (Kegelmann 2007, S. 124) ist. Zweckrationalität meint in diesem Zusammenhang nicht nur, dass die Organisationmitglieder ihr Handeln an Zwecken orientieren, sondern vielmehr, »dass die Organisation im Ganzen maßgeblich durch eine stringente Zweckorientierung geprägt ist und die ganze Organisation letztlich in Form von Zweck-Mittel-Ketten formuliert werden kann« (Grunwald 2009, S. 92). Der jeweilige »Urzweck« (Kühl 2011, S. 23) einer Organisation kann dann in eine Vielzahl von Unterzwecken zerlegt werden, denen beispielsweise die Abteilungen dienen sollen. Diesem zweckrationalen Verständnis folgend, ist eine Organisation demnach (Jung u. Wimmer 2014, S. 99):
»eine Bündelung von Stellen und Abteilungen, deren genaues Verhältnis zueinander über Vernetzung von Regeln und Abläufen koordiniert wird und die zur rationell-instrumentellen Erreichung von zuvor gesetzten Zielen oder Zwecken beitragen sollen … Man hat es somit mit einer Zweck-Mittel-Relation zu tun, bei der die Elemente der Organisation so geordnet sind, dass die Zwecke nicht verfehlt werden.«
Die formale Organisationsstruktur als verlängerter Arm des Organisationszwecks
Innerhalb eines zweckrationalen Organisationsverständnisses kann die Organisationsstruktur in gewisser Weise als »verlängerter Arm« des Organisationszwecks interpretiert werden, schließlich gelten die Organisationsziele als wesentliche Leitlinie für die Ausgestaltung der formalen Organisationsstruktur. Die organisatorischen Regelungen und Strukturen werden folglich »als eine Art geronnene und bewährte Mittel zur Erreichung der angestrebten Organisationsziele« (Preisendörfer 2011, S. 96) betrachtet. Organisationen lassen sich demnach als Zweck-Mittel-Hierarchien begreifen: An oberster Stelle der Organisation wird der Organisationszweck definiert (z. B. die Integration von arbeitssuchenden Menschen in die Berufswelt), sämtliche Strukturen und Prozesse werden auf diesen Zweck hin ausgerichtet, der Zweck programmiert die Mittel.
Die Organisationsmitglieder als Rädchen im Getriebe
Um die ideale zweckrationale Organisation nun »fertigzustellen«, müssen nur noch die einzelnen Positionen innerhalb der Hierarchie mit geeigneten Personen besetzt werden. In einem ersten Schritt wird hierzu eine Aufgabe möglichst exakt definiert und erst in einem zweiten Schritt eine Person ausgewählt, die genau zu dieser Aufgabe passt. Hierbei ist der gesamte Personalauswahlprozess ausschließlich auf die für die Organisation bedeutsamen Kriterien ausgerichtet. Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung etc. gilt es zu vernachlässigen. Wenngleich kein Vertreter eines zweckrationalen Organisationsverständnisses dies so verlauten lassen würde, wird innerhalb dieses Organisationstypus implizit davon ausgegangen, dass auch die Organisationsmitglieder äußerst rational handeln, dass sie also ein kalkulierbares Verhalten an den Tag legen und wie ein »Rädchen im Getriebe« (Neuberger 1977, S. 67) funktionieren.
Abgrenzung gegenüber einer stabilen und berechenbaren Umwelt
Der eindeutig definierte Zweck einer Organisation und die hieraus ausgerichteten Organisationsstrukturen und -regeln führen dazu, dass die Mitglieder der Organisationen nur einen sehr begrenzten Ausschnitt ihrer Umwelt wahrnehmen. Die zweckrationale Organisation beschäftigt sich daher primär mit sich selbst, sie legt sich eine Wahrnehmungsbegrenzung auf, die dazu führt, dass nur solche Informationen wahrgenommen werden, denen mit vorhandenen Routinen begegnet werden kann. Aufgrund ihrer selbst geschaffenen Wahrnehmungsbegrenzung glaubt die zweckrationale Organisation fest daran, dass ihre Umwelt stabil und berechenbar ist (vgl. Kühl 2015a, S. 45 ff.).
Zusammenfassend zeichnet sich das zweckrationale Organisationsverständnis also dadurch aus, dass Organisationen hinsichtlich ihrer Funktionsweise mit einer Maschine verglichen werden. Sie lassen sich demnach »absichtsvoll gestalten, managen, beraten, reformieren oder sonst wie zum Gegenstand instrumenteller Zugriffe und kausaler Zuschreibungen machen« (Jung u. Wimmer 2014, S. 99). Die Effizienz und Effektivität von Organisationen hängt folglich maßgeblich von der Optimierung der Organisationsstruktur und der Arbeitsorganisation ab. Der Mensch wird als »Humanmaschine« betrachtet, deren Aufgabe es ist, vorgegebene Ziele zu erreichen und hierbei bestmöglich zu funktionieren.
Nun muss man weder Organisationsberater noch Organisationstheoretiker sein, um festzustellen, dass jenes zweckrationale Organisationsverständnis wenig mit dem zu tun hat, wie Organisationen »wirklich« sind. Nur allzu oft kann man auch in Organisationen der Sozialen Arbeit beobachten, dass der organisationale Alltag nur bedingt vom übergeordneten Organisationszweck bestimmt wird und stattdessen eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen, bisweilen diametral entgegengesetzten Zwecken das Geschehen in Organisationen prägen. Ebenso selbstverständlich kann beobachtet werden, dass die formalen Strukturen einer Organisation massiv unterlaufen, neu interpretiert oder gänzlich ignoriert werden, genauso wie festgestellt werden muss, dass die Organisationsmitglieder nicht wie die Lemminge den handlungsleitenden Zielen folgen, sondern vielmehr ihren »eigenen Kopf« haben. Auch die Annahme, dass Organisationen der Sozialen Arbeit in stabilen und berechenbaren Umwelten agieren, muss deutlich angezweifelt werden. Kurz: Man muss kein Organisationsexperte sein, um festzustellen, dass es in Organisationen deutlich wilder zugeht, als es das zweckrationale Organisationsverständnis vorgaukelt. Hiermit soll nicht bestritten werden, dass Zwecke in Organisationen eine bedeutsame Funktion einnehmen sollten. Allerdings teilen wir Klaus Grunwalds (2009, S. 93) Skepsis, »eine Organisation sei im Kern bestimmt durch eine hierarchisch aufgebaute Zweck-Mittel-Pyramide, die der Garant für Rationalität ist, sei also quasi allein und vor allem durch ›rationale‹ Zweck-Mittel-Zusammenhänge definiert«.