Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке

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Goldmund verstand. Traurig sagte er: »Du wirst nun also das tun, was auch ich getan hätte, wenn ich für immer in den Orden getreten wäre. Und wenn deine Übungen absolviert sind, wenn du genug gefastet und gebetet und gewacht hast – wohin wirst du dann zielen?«
»Du weißt es«, sagte Narziss.
»Nun ja. Du wirst in einigen Jahren erster Lehrer sein, vielleicht auch schon Schulvorsteher. Du wirst den Unterricht verbessern, wirst die Bibliothek vergrößern. Vielleicht wirst du selbst Bücher verfassen. Nicht? Nun, also nicht. Aber wo wird das Ziel sein?«
Narziss lächelte schwach. »Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.«
Goldmund: »Kein anderes Ziel für einen Mönch?«
Narziss: »O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?«
Lange überlegte sich Goldmund die Antwort.
»Du hast recht«, sagte er. »Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?«
»Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du. Du hast mir Schwierigkeiten gemacht, aber ich bin kein Feind von Schwierigkeiten. Ich habe an ihnen gelernt, ich habe sie zum Teil überwunden.«
Goldmund unterbrach ihn, halb scherzend sagte er: »Wunderbar hast du sie überwunden! Aber sage doch: wenn du mir geholfen, mich geführt und befreit und meine Seele gesund gemacht hast – hast du denn damit wirklich dem Geist gedient? Du hast damit wahrscheinlich dem Kloster einen eifrigen und gutgewillten Novizen entzogen und hast dem Geist vielleicht einen Gegner erzogen, einen, der gerade das Gegenteil von dem tun und glauben und anstreben wird, was du für gut hältst!«
»Warum nicht?« sagte Narziss mit tiefem Ernst, »Mein Freund, du kennst mich noch immer so wenig! Ich habe in dir wahrscheinlich einen künftigen Mönch verdorben und habe dafür in dir einen Weg freigemacht für ein nicht gewöhnliches Schicksal. Auch wenn du morgen unser ganzes hübsches Kloster niederbrennen würdest oder irgendeine tolle Irrlehre in der Welt verkündigen, ich würde keinen Augenblick bereuen, dir auf den Weg dazu geholfen zu haben.«
Freundlich legte er dem Freunde beide Hände auf die Schultern.
»Sieh, kleiner Goldmund, zu meinem Ziel gehört auch dies: mag ich Lehrer oder Abt, Beichtvater oder was immer sein, niemals möchte ich in die Lage kommen, einem starken, wertvollen und besonderen Menschen zu begegnen und ihn nicht zu verstehen, ihn nicht erschließen, ihn nicht fördern zu können. Und ich sage dir: mag aus dir und aus mir dies oder jenes werden, mag es uns so oder anders gehen, nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.«
Das klang wie Abschiednehmen, und wirklich war es der Vorgeschmack des Abschieds. Wie Goldmund vor seinem Freunde stand und ihn betrachtete, das entschlossene Gesicht, das auf Ziele gerichtete Auge, da fühlte er untrüglich, dass sie beide jetzt nicht mehr Brüder und Kameraden und ihresgleichen waren, dass ihre Wege sich schon getrennt hatten. Dieser hier, der vor ihm stand, war kein Träumer und wartete auch nicht auf irgendwelche Zurufe des Schicksals; er war ein Mönch, er hatte sich verschrieben, er gehörte einer festen Ordnung und Pflicht, war ein Diener und Soldat des Ordens, der Kirche, des Geistes. Er selbst aber, dies war ihm heute klargeworden, gehörte nicht hierher, er war ohne Heimat, eine unbekannte Welt wartete auf ihn. So war es einst auch seiner Mutter gegangen. Sie hatte Haus und Hof, Mann und Kind, Gemeinschaft und Ordnung, Pflicht und Ehre verlassen und war ins Ungewisse hinausgegangen, war wohl längst darin untergegangen, Sie hatte kein Ziel gehabt, wie auch er keines hatte. Ziele zu haben, das war anderen gegeben, ihm nicht. O wie gut hatte Narziss dies alles schon vor langer Zeit gesehen, wie recht hatte er gehabt!
Schon bald nach diesem Tage war Narziss wie verschwunden, er schien plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Ein anderer Lehrer gab seine Lektionen, sein Lesepult in der Bibliothek blieb leer. Er war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn zuweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend;
man wusste, dass er die große Übung angetreten hatte, dass er fastete und dreimal in der Nacht zu Exerzitien sich erhob. Er war noch da und war doch in eine andere Welt hinübergegangen; man konnte ihn sehen, selten genug, konnte ihn aber nicht erreichen, nichts mit ihm gemein haben, nicht mit ihm sprechen. Goldmund wusste: Narziss würde wieder erscheinen, er würde sein Arbeitspult, seinen Stuhl im Refektorium[47] wieder einnehmen, würde wieder sprechen – aber von dem Gewesenen würde nichts wiederkommen, Narziss würde nicht wieder ihm gehören. Indem er es bedachte, wurde auch das ihm klar, dass es einzig Narziss gewesen war, durch welchen ihm Kloster und Mönchtum, Grammatik und Logik, Studium und Geist wichtig und lieb geworden war. Sein Vorbild hatte ihn gelockt, wie er zu werden, war sein Ideal gewesen. Wohl, auch der Abt war noch da, auch ihn hatte er verehrt, auch ihn geliebt und ein hohes Vorbild in ihm gesehen. Aber die andern, die Lehrer, die Mitschüler, der Schlafsaal, der Speisesaal, die Schule, die Übungen, die Gottesdienste, das ganze Kloster – ohne Narziss ging es ihn nichts mehr an. Was tat er noch hier?
Er wartete, er stand unterm Dach des Klosters wie ein unentschlossener Wanderer bei Regen unter irgendeinem Dach oder Baum stehenbleibt, bloß um zu warten, bloß als Gast, bloß aus Angst vor der Unwirtlichkeit der Fremde.
Goldmunds Leben in dieser Zeit war nur noch ein Zögern und Abschiednehmen. Alle Orte suchteer auf, die ihm lieb oder bedeutsam geworden waren. Mit wunderlicher Befremdung stellte er fest, wie wenige Menschen und Gesichter da waren, von welchen der Abschied ihm schwerfallen würde. Da war Narziss und der alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mittendrin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchendämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziss zwar wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.
Wirklich und lebendig war nichts mehr als das Leben in ihm innen, das bange Schlagen des Herzens, der wehe Stachel der Sehnsucht, die Freuden und Ängste seiner Träume. Ihnen gehörte er an und gab sich hin. Mitten im Lesen oder Lernen, mitten zwischen den Schulkameraden konnte er in sich versinken und alles vergessen, nur den Strömen und Stimmen des Innern hingegeben, die ihn hinwegzogen, in tiefe Brunnen voll dunkler Melodie, in farbige Abgründe voll märchenhafter Erlebnisse, deren Klänge alle wie die Stimme der Mutter klangen, deren tausend Augen alle die Augen der Mutter waren.
Sechstes Kapitel
Eines Tages rief Pater Anselm Goldmund in seine Apotheke, seine hübsche, wunderbar duftende Kräuterkammer. Hier kannte Goldmund sich gut aus. Der Pater zeigte ihm eine gedörrte Pflanze, zwischen Papierblättern sauber aufbewahrt, und fragte ihn, ob er diese Pflanze kenne und genau beschreiben könne, wie sie draußen im Felde aussehe. Ja, das konnte Goldmund; die Pflanze hieß Johanniskraut. Deutlich musste er alle ihre Merkmale beschreiben. Der alte Mönch war zufrieden und gab seinem jungen Freunde den Auftrag, am Nachmittag ein gutes Bündel solcher Pflanzen zu sammeln, deren Lieblingsstandorte er ihm angab.
»Du bekommst dafür einen schulfreien Nachmittag, mein Lieber, du wirst nichts dagegen haben und wirst nichts dabei verlieren. Auch die Kenntnis der Natur nämlich ist eine Wissenschaft, nicht bloß eure blöde Grammatik.«
Goldmund bedankte sich für den sehr willkommenen Auftrag, ein paar Stunden Blumen zu sammeln, statt in der Schule zu sitzen. Damit die Freude vollkommen würde, erbat er sich vom Stallmeister das Pferd Bless, und bald nach Tische holte er das Tier aus dem Stall, das ihn heftig begrüßte, sprang auf und trabte sehr zufrieden in den warmen leuchtenden Tag hinaus. Ein Stündchen oder mehr ritt er spazieren, genoss die Luft und den Felderduft und vor allem das Reiten, dann erinnerte er sich seiner Aufgabe und suchte einen der Plätze auf, die ihm der Pater beschrieben hatte. Dort band er das Pferd unter einem schattigen Ahorn an, plauderte mit ihm, gab ihm Brot zu fressen und machte sich dann auf die Pflanzensuche. Einige Stücke Ackerland lagen hier brach, von vielerlei Unkraut überwuchert, kleine kümmerliche Mohnpflanzen mit letzten blassen Blüten und schon vielen reifen Samenkapseln standen da zwischen verdorrten Wickenranken und himmelblau blühender Wegwarte und verfärbtem Knöterich, ein paar Haufen zusammengeworfener Feldsteine zwischen zwei Feldern waren von Eidechsen bewohnt, hier standen auch schon die ersten gelb blühenden Stauden Johanniskraut, und Goldmund fing an zu pflücken. Als er eine gute Handvoll beisammen hatte, setzte er sich auf die Steine und ruhte. Es war heiß, und er blickte begehrlich zum Schattendunkel eines fernen Waldrandes hinüber, aber so weit wollte er doch nicht von den Pflanzen und von seinem Pferde weggehen, das er von hier aus noch sehen konnte. Er blieb auf den warmen Feldkieseln sitzen, hielt sich ganz still, um die geflohenen Eidechsen wieder hervorkommen zu sehen, roch am Johanniskraut und hielt dessen kleine Blättchen gegen das Licht, um die hundert winzigen Nadelstiche in ihnen zu betrachten.
Wunderlich, dachte er, da hat jedes von den tausend kleinen Blättchen diesen kleinwinzigen Sternhimmel in sich gestochen, fein wie eine Stickerei. Wunderlich und unbegreiflich war doch alles, die Eidechsen, die Pflanzen, auch die Steine, überhaupt alles. Der Pater Anselm, der ihn so gern mochte, der konnte nun sein Johanniskraut nicht selbst mehr holen, er hatte es in den Beinen[48] und war an manchen Tagen unbeweglich, und seine Arzneikunst konnte es nicht heilen. Vielleicht würde er schon bald eines Tages sterben, und die Kräuter in der Kammer dufteten weiter, aber der alte Pater war nicht mehr da. Vielleicht aber lebte er auch noch lange, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre, und hatte dann immer noch dieselben weißen dünnen Haare und dieselben drolligen Faltenbündel um die Augen; aber er selbst, Goldmund, was würde in zwanzig Jahren mit ihm sein? Ach, alles war unverständlich und eigentlich traurig, obwohl es auch schön war. Man wusste nichts. Man lebte und lief auf der Erde herum oder ritt durch die Wälder, und manches schaute einen so fordernd und versprechend und sehnsuchterweckend an: ein Stern am Abend, eine blaue Glockenblume, ein schilfgrüner See, das Auge eines Menschen oder einer Kuh, und manchmal war es, als müsse jetzt gleich etwas Niegesehenes und doch lang Ersehntes geschehen, ein Schleier von allem fallen; aber dann ging es vorüber, und es geschah nichts, und das Rätsel wurde nicht gelöst und der geheime Zauber nicht entbunden, und zuletzt wurde man alt und sah so pfifig aus wie der Pater Anselm oder so weise wie der Abt Daniel und wußte vielleicht noch immer nichts, wartete und horchte noch immer.
Er hob ein leeres Schneckenhaus auf, es klirrte schwach zwischen den Steinen und war ganz warm von der Sonne. Versunken betrachtete er die Windungen des Gehäuses, die eingekerbte Spirale, die launige Verjüngung des Krönchens, den leeren Schlund, in dem es perlmuttern schimmerte. Er schloß die Augen, um die Formen nur mit den tastenden Fingern zu erfühlen, das war eine alte Gewohnheit und Spielerei von ihm. Die Schnecke zwischen den losen Fingern drehend, tastete er gleitend, ohne Druck, ihre Formen liebkosend nach, beglückt vom Wunder der Formung, vom Zauber des Körperlichen. Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandeswesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig. Den Kopf über seine Krauter gebückt, die im Welken mehr und mehr zu duften begannen, schlief er in der Sonne ein. Über seine Schuhe liefen die Eidechsen, auf seinen Knien welkten die Pflanzen, unter dem Ahorn wartete Bless und wurde ungeduldig.
Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfernung, neugierig und misstrauisch, sah, dass er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Misstrauen schwand, der hübsche schlafende Jüngling sah nicht gefährlich aus, er gefiel ihr wohl – wie kam der hierher auf die Brachfelder? Blumen hatte er gepflückt, sah sie mit Lächeln, sie waren schon welk.
Goldmund öffnete die Augen, aus Traumwäldern zurückkommend. Sein Kopf lag weich, er lag im Schoß einer Frau, in seine verschlafenen verwunderten Augen blickten fremde nahe Augen warm und braun. Er erschrak nicht, es war keine Gefahr, freundlich schienen die warmen braunen Sterne herab. Nun lächelte die Frau unter seinem erstaunten Blick, lächelte sehr freundlich, und langsam begann auch er zu lächeln. Auf seine lächelnden Lippen kam ihr Mund herab, sie begrüßten sich in einem sanften Kuß, bei welchem Goldmund alsbald jenes Abends im Dorfe und des kleinen Mädchens mit den Zöpfen gedenken musste. Aber der Kuss war noch nicht zu Ende. Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin, ließ ihn suchen und finden, ließ ihn erglühen und stillte die Glut. Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch. Mit geschlossenen Augen lag er, das Gesicht auf der Brust des Weibes. Es war kein Wort gesprochen worden. Das Weib hielt stille, streichelte leise sein Haar, ließ ihn langsam zu sich kommen. Endlich tat er die Augen auf.
»Du«, sagte er. »Du! Wer bist du denn?«
»Ich bin Lise«, sagte sie.
»Lise«, sprach er nach, den Namen kostend. »Lise, du bist lieb.«
Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und flüsterte hinein: »Du, ist es das erstemal gewesen? Hast du vor mir noch keine liebgehabt?«
Er schüttelte den Kopf. Dann plötzlich richtete er sich auf und blickte um sich, übers Feld und an den Himmel.
»Oh«, rief er, »die Sonne ist schon ganz tief. Ich muss zurück.« – »Wohin denn?«
»Ins Kloster, zum Pater Anselm.«
»Nach Mariabronn? Da gehörst du hin? Willst du denn nicht noch bei mir bleiben?«
»Ich möchte gerne.«
»So bleib doch!«
»Nein, es wäre unrecht. Ich muss auch noch mehr von dem Kraut sammeln.«
»Bist du denn im Kloster?«
»Ja, ich bin Schüler. Aber ich bleibe nicht mehr dort. Kann ich zu dir kommen, Lise? Wo wohnst du denn, wo bist du zu Haus?«
»Ich wohne nirgends, mein Schatz. Willst du mir aber nicht deinen Namen sagen? – So, Goldmund heißest du?
Gib mir noch einen Kuss, Goldmündchen, dann kannst du ja gehen.«
»Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn?«
»Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu. Kommst du heut nacht?«
»O ja. Wohin? Wo finde ich dich?«
»Kannst du schreien wie ein Käuzchen?«
»Ich habe es nie probiert.«
»Probiere es.«
Er versuchte es. Sie lachte und war zufrieden.
»Dann komm heut nacht aus dem Kloster und schreie wie ein Käuzchen, ich bin in der Nähe. Gefalle ich dir denn, Goldmündlein, mein Kindlein?«
»Ach, du gefällst mir sehr, Lise. Ich komme. Behüt dich Gott, jetzt muss ich weiter.«
Auf dampfendem Pferd kam Goldmund in der Dämmerung ins Kloster zurück und war froh, dass er den Pater Anselm sehr beschäftigt fand. Ein Bruder hatte sich barfuß im Bach vergnügt und sich dabei einen Scherben in den Fuß getreten.
Jetzt galt es, Narziss aufzufinden. Er fragte einen der dienenden Brüder, die im Refektorium aufwarteten. Nein, sagten sie, Narziss käme nicht zum Nachtmahl, er habe Fasttag und werde jetzt wohl schlafen, da er nachts Vigilien halte[49]. Goldmund rannte. Seines Freundes Schlafstätte während der langen Exerzitien war eine der Büßerzellen im innern Kloster. Ohne Besinnen lief er hin. Er horchte an der Tür, nichts war zu hören. Leise trat er ein. Dass es streng verboten war, kam jetzt nicht in Betracht[50].
Auf der schmalen Pritsche lag Narziss, in der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem, spitzem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte aber die Augen offen und schlief nicht. Stumm blickte er Goldmund an, ohne Vorwurf, doch ohne sich zu rühren und sichtlich so in einer Versunkenheit befangen, so in einer andern Zeit und Welt gegenwärtig, dass er Mühe hatte, den Freund zu erkennen und seine Worte zu verstehen.
»Narziss! Verzeih, verzeih, Lieber, dass ich dich störe, es geschieht nicht aus Mutwillen[51]. Ich weiß, dass du jetzt eigentlich nicht mit mir sprechen darfst, aber tue es dennoch, ich bitte dich sehr darum.«
Narziss besann sich, einen Augenblick heftig blinzelnd, als gebe er sich Mühe, wach zu werden.
»Ist es notwendig?« fragte er mit erloschener Stimme.
»Ja, es ist notwendig. Ich komme, um von dir Abschied zu nehmen.«
»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«
Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.
»Verzeih nur!« sagte er schuldbewusst. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.
»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«
»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«
»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«
»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«
Narziss blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht in seinem strengen, arg ermüdeten Gesicht, aber in seiner Stimme war ein Lächeln zu spüren, als er sagte: »Wir haben sehr wenig Zeit, Lieber. Sage nur das Notwendige, and sage es deutlich und kurz. – Oder muss ich es dir sagen, was mit dir geschehen ist?«
»Sage es«, bat Goldmund.
»Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.«
»Wie kannst du nun das wieder wissen!«
»Du machst es mir leicht. Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«
Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.
»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziss, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, dass jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, dass ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuss fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wusste ich ganz plötzlich, dass jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«
Narziss hörte zu und nickte.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«
»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, dass er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«
»Ich weiß… Hast du sonst ein Anliegen?«
»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und… ich danke dir.«
»Wofür, Goldmund?«
»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, dass du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, dass du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«
»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«
»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«
»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, dass dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.«
Goldmund lehnte sich an den Freund.
»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muss, weil es mich ruft.«
Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du musst nicht glauben, dass ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, dass es sein muss, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, dass ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe was du Verliebtsein nennst und ein bisschen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziss, ich muss dich verlassen! Ich liebe dich, Narziss, und ich danke dir, dass du mir heut ein bisschen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«