Berufsorientierte Schreibkompetenz mithilfe von SRSD fördern

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Die Struktur und der Ablauf der dualen Ausbildung zeigen im ersten Fazit, dass diese von der Bildungspolitik und den rechtlichen Rahmenbedingungen abhängig sind. Der Einblick in einen prototypischen Ausbildungsverlauf demonstriert die Zusammenarbeit mehrerer Ausbildungspartner und das Anwenden von handlungsorientiertem und selbstständigem Lernen.
Im Folgenden werden die aktuellen Daten und Fakten zur dualen Ausbildung in Deutschland näher erläutert: Die Ausbildungskammern wie die IHK und HWK (Handwerkskammer) ringen um geeignete Bewerber: „Bis 2030 wird es drei Millionen mehr Akademiker geben und eine Million weniger Fachkräfte“ (Schmickler, 2016:3). Momentan sind die Ausbildungschancen in Deutschland gut. Dennoch kritisieren auch immer wieder Ausbilder die mangelnden Schulleistungen der Ausbildungsplatzbewerber – Lehrstellen bleiben dadurch unbesetzt (ebd.). An vielen Orten Deutschlands gibt es Ausbildungsmessen, Speeddatings mit Bewerbern, teilweise in den Schulen selbst, Schnuppertage wie den Zukunftstag, vielfältige Praktikumsangebote in Ausbildungsbetrieben sowie außerschulische Projekte mit Ausbildungsbetrieben und Kammern. Vor mehr als zwanzig Jahren war das nicht vorstellbar. Die Ausbildungsplatzsituation war deutlich anders als heute. Schon Realschulabsolventen standen damals in Konkurrenz mit Abiturienten um einen Ausbildungsplatz. Die Ausbildungsbetriebe hatten eine breite Auswahl an Bewerbern. Genau dieser Punkt änderte sich, als sich die Zahl der Studierenden erhöht hat. Die neue bildungspolitische Linie setzt auf eine höhere Anzahl von Abiturienten und Studierenden. Die in Deutschland stark verbreitete Dreigliedrigkeit des Schulsystems in Sekundarstufe I (Hauptschule, Realschule und Gymnasium) wurde zugunsten von mehr Gemeinschaftsschulen,2Oberschulen, Gesamtschulen immer stärker aufgebrochen. Das Ziel besteht darin, das Schulsystem noch durchlässiger zu gestalten und den Schülern mehr Chancen zu geben, sich im Laufe der Schulzeit zu entwickeln. Ergebnis ist, dass die Oberschulen weniger Ansehen haben, wenn auf diesen kein Abitur angeboten wird. Die Gesamtschule mit ihrem breiten Angebot an Abschlussmöglichkeiten hat hingegen einen großen Zulauf, und auch die Gymnasien sind weiterhin attraktiv. Viele Eltern sind bestrebt, ihren Kindern die bestmöglichen Wege zu offerieren, auch wenn das Leistungsvermögen des Kindes unter den Anforderungen der jeweiligen Schule liegt.
Während die Schullandschaft mit ihren schulischen Möglichkeiten, einen Abschluss zu erwerben, immer mehr aufblüht, ringen die Ausbildungsbetriebe um Auszubildende. Die Attraktivität, eine duale Ausbildung zu absolvieren, nimmt ab. Allein 2016 wurden in Deutschland ca. 480.000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Zwischen 2009 und 2017 sank die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in betrieblichen Ausbildungen von 518.505 (2009) auf 507.772 (2017) leicht (Bundesagentur für Arbeit, 2018). Der Rückgang der abgeschlossenen Ausbildungsverträge zwischen 2006 bis 2015 kann auf 50.000 beziffert werden (BiBB, 2016). Doch die deutschen Unternehmen benötigen Fachkräfte, obwohl nach Schätzungen nur noch jede fünfte Firma in Deutschland auch Ausbildungsplätze anbietet (Schmickler, 2016:2). 80.000 Ausbildungsplatzbewerber bleiben ohne Lehrstelle und 270.000 Jugendliche absolvieren Praktika oder Kurse (AGJ, 2017). Einige Branchen wie die Hotellerie und Gastronomie liegen weniger im Interessenfeld der Schulabgänger und können daher ihre freien Ausbildungsstellen kaum besetzen (Schmickler, 2016:3; BiBB, 2018).
Gewisse Berufe sind durch die Ausbildungsinhalte, -zeiten und -entgelte nicht attraktiv genug für die Jugendlichen (Schmickler, 2016:2). So sehe Schmickler (2010:2) die Angebot-Nachfrage-Relation seit mehr als einem Jahrzehnt unausgeglichen. Die Ursache sei jedoch auch auf Seiten der Unternehmen zu suchen. Schulabgänger mit Hauptschulabschluss werden von den Unternehmen immer noch ungern für eine Ausbildung genommen, obwohl gerade diese sich um den Fachkräftenachwuchs kümmern müssten (Schmickler, 2016:3). Die Abbildung 10 verdeutlicht dieses Manko visuell.

Aktuelle Ausbildungssituation in Deutschland (eigene Darstellung)
Des Weiteren erscheint vielen Jugendlichen mit höherem Bildungsabschluss ein Studium aufgrund der besseren finanziellen Zukunftsaussichten und des höheren Ansehens in der Gesellschaft attraktiver (Schmickler, 2016:3). Begünstigt wird dieser Wandel u.a. durch die zunehmende Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems, welches z.B. in Niedersachsen unter bestimmten Bedingungen wie Ausbildungsabschluss und Facharbeiterjahre auch ein fachbezogenes Studium ohne Abitur erlaubt. Des Weiteren unterliegt der deutsche Arbeitsmarkt einem Wandel. Viele Jobs gibt es nun nicht mehr im Handwerk, sondern in der Dienstleistung.
Die aktuellen Zahlen und Daten zum Status quo der Berufsausbildung für die Jahre 2014 bis 2017 zeigen, dass eine Zunahme an unbesetzten Ausbildungsstellen zu beobachten ist. Waren es im Zeitraum 2014/15 noch 41.040, stieg die Zahl 2016/2017 auf 48.984 (Bundesagentur für Arbeit, 2017). Der heutige Schulabgänger hat somit eine breite Auswahl an Ausbildungsmöglichkeiten. Um den Fachkräftenachwuchs zu sichern, wurde bereits 2004 der Nationale Ausbildungspakt (Bundesagentur für Arbeit, 2009; KMK, 2010) beschlossen, der die Ausbildung auf dem Markt der Schulabgänger wieder attraktiv gestalten sollte, 2006 verlängert wurde und bis heute besteht. Dabei sind Betriebe angehalten, mehr Ausbildungsplätze anzubieten, um damit den fehlenden Fachkräftenachwuchs abzumildern. Weitere Kennzahlen der beruflichen Bildung zeigen, dass es insgesamt 1,3 Millionen Auszubildende in Deutschland gibt, davon sind 770.100 im Bereich Industrie und Handel und 362.400 im Handwerk tätig. Die Landwirtschaft verzeichnet 33.000 Auszubildende, der Öffentliche Dienst 37.500, die Freien Berufe 110.100 und die Hauswirtschaft 5.600 Auszubildende (Statistisches Bundesamt, 2017a). Die Zahl der Studenten liegt deutlich höher, nämlich bei 1,7 Millionen, Tendenz steigend (ebd.). Der jährliche Ausbildungsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit zeigt seit dem Beratungsjahr 2012/2013 (jährlich vom 01.10. bis 30.09. des Folgejahres), dass die Mehrheit der Schulabgänger keine Studienberechtigung hat und diese somit im Sekundar-II-Bereich an berufsbildenden Schulen sind, wobei nicht alle Schulabgänger sofort ein Studium oder eine Berufsausbildung beginnen (Statistisches Bundesamt, 2017a). Wird nach Rangfolge sortiert, liegen auf dem ersten Rang die Kaufleute für Büromanagement, auf dem zweiten die Einzelhandelskaufleute und auf dem dritten Verkäufer (BiBB, 2017).
Aus den Zahlen und Fakten zur Verteilung der Schulabschlüsse und der Berufsausbildung kann geschlussfolgert werden, dass die Mehrheit der Schulabgänger keine Studienberechtigung vorweisen kann und sich daher für eine Berufsausbildung entscheidet. Sofern eine Berufsausbildung angestrebt wird, fällt die Wahl eher auf eine duale Ausbildung im Bereich der Industrie- und Handelskammer. Es zeigt sich, dass aus Sicht der Schulabgänger eher kaufmännische Berufe und damit IHK-Ausbildungen begehrt sind.
2.3.2 Schreiben in der dualen Ausbildung
Schreiben im Ausbildungsberuf erfordert Kooperationen und integriert mehrere Beteiligte bei der Textproduktion, denn der Schreiber agiert nicht unabhängig und allein, sondern ist Teil eines Unternehmens und muss sich in dieses hierarchische Feld integrieren, wie die Abbildung 11 zeigt, die im Weiteren erläutert wird (Jakobs, 2005:13ff.):

Schreibkomponenten am Arbeitsplatz (nach Jakobs, 2005: 17)
Der Schreiber hat die Schreibaufgabe im Blickfeld und nutzt dabei sein Know-how, seine Motivation und seine Erfahrungen, um mit dieser Aufgabe umzugehen. Das Schreiben wiederum ist Teil der Aufgaben am Arbeitsplatz. Vorgesetzte, Kollegen, Ressourcen, Vorgaben wie Textmuster sind einige Parameter davon. Der Arbeitsplatz ist wiederum Teil eines Unternehmens und somit organisatorisch den Unternehmenszielen zugehörig. Das Unternehmen ist Teil einer Branche bzw. berufsspezifischen Domäne. In dieser gelten bestimmte Normen und Werte der schriftlichen Interaktion: „In ihr finden sich die Diskursgemeinschaften, in denen bzw. für die Texte entstehen, und damit ebenfalls potenzielle Adressaten“ (Jakobs, 2005:18). Jede Domäne ist Teil eines Kulturraums, welcher sozial, kulturell und zeitlich geprägt ist, „[…] aus dem spezifischen Normen, Anspruchshaltungen und Erwartungen resultieren, rechtliche und gesetzliche Vorgaben, spezifische Wertesysteme u.a.m.“ (Jakobs, 2005:19).
Für den beruflichen Textproduktionsprozess werden erst im Laufe der beruflichen Erfahrungen Fähigkeiten sowie „[…] fachbezogene, rhetorische, textsorten-, adressaten- oder medienspezifische“ (Jakobs, 2005:23) Kompetenzen entwickelt. Die kooperative Textproduktion ist ein Teil davon, denn gerade im beruflichen Alltag zirkulieren Textentwürfe, bevor sie versandt werden – das sogenannte „Document cycling“ (Jakobs, 2005:24) ist gängig, um dem betrieblichen Qualitätsanspruch der Texte zu genügen:
[…] Schärfer formuliert, ist fehlende Text- und Schreibkompetenz ökonomisch nicht vertretbar. Defizitäre Darstellungen erhöhen den zeitlichen, kognitiven und emotionalen Rezeptionsaufwand des Adressaten. Sie erzeugen nicht nur Frust und zusätzliche Arbeitszeit, sondern häufig auch Fehlleistungen aufgrund unpräziser, fehlerhafter oder unvollständiger Informationen sowie zeitlichen und monetären Mehraufwand durch ‚Reparaturversuche‘ defizitärer Kommunikationsarbeit (Jakobs, 2008:3).
Das Schreiben in der beruflichen Bildung entsteht durch die Verbindung von berufsschulischen Anforderungen, beruflichen Anforderungen im Ausbildungsbetrieb und der Branche. Es wird unterstützt durch das Vorwissen der Berufsschüler aus der vorherigen Schulinstanz, das Elternhaus sowie durch selbst erlebte Erfahrungen. Deutsch am Arbeitsplatz betrifft alle sprachlich kommunikativen Anforderungen im Beruf. Obwohl schriftliche Kommunikation im Berufsalltag gefragt ist, wird die Verantwortung für ihre Vermittlung vorrangig an Schulen abgegeben.
Während die allgemeinbildenden Schulen in erster Linie schulische Textsorten vermitteln, sollen die Berufsschulen in Ausbildungsklassen die beruflich relevanten Textsorten unterrichten (siehe folgende Abbildung): „Ihre Vermittlung ist – aus Sicht der Institution Schule – Aufgabe nachgelagerter Ausbildungsinstanzen. Der Kreis gegenseitiger Verantwortungszuweisung ist schwer zu durchbrechen“ (Jakobs, 2008:4, siehe Abb. 12).
Gerade an Berufsschulen ist in der dualen Berufsausbildung wenig Zeit für die Vermittlung von beruflichen Schreibkompetenzen, in den Betrieben noch seltener (ebd.). Schreibkompetenz wird viel mehr durch learning by doing oder copy and paste vermittelt (ebd.). Die Phasen der Schreibsozialisation in Institutionen verdeutlichen visuell, dass die abgebende schulische Instanz notwendige Schreibkompetenzen bei den Schülern aufbaut, die in der nächsten Instanz wie Betrieb oder Universität benötigt werden. Damit nimmt der Schreibunterricht in der Sekundarstufe I eine enorm wichtige Rolle ein. Nicht aufgebaute Schreibkompetenzen können in nur knappen Zeitfenstern weiter gefördert werden (Jakobs, 2008:4).1

Phasen der Schreibsozialisation (Jakobs, 2008: 4)
Die Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, die vor allem den Blick auf Arbeitnehmer mit Deutsch als Zweitsprache und ihre Förderung im Fokus hat, erklärt diese Anforderung genauer:
Der berufsbezogene Deutschunterricht greift verschiedene kommunikative Anforderungen auf, die Bestandteil des Arbeitslebens sind […]. Um solche sprachlichen Anforderungen zu bewältigen, müssen die jeweiligen Sprecher_innen über eine ganze Reihe von kommunikativen Kompetenzen verfügen: Der inhaltliche Aufbau von Fachtexten und Arbeitsanweisungen muss ihnen ebenso geläufig sein wie das darin enthaltene Vokabular. Darüber hinaus ist es notwendig zu wissen, wie mit Kund_innen, Kolleg_innen oder Vorgesetzten gesprochen wird und die entsprechenden umgangssprachlichen, formalen oder höflichen Sprachformen und Register anwenden zu können (Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, o.J.: o. S.).
Mit dieser Erläuterung wird klar, dass sich diese auch auf die Auszubildenden in einer Berufsausbildung und die damit verbundenen schriftlichen sowie mündlichen Anforderungen im Beruf bezieht. Die Schreibanforderungen in der beruflichen Bildung werden zum einen durch den Rahmenlehrplan für die Berufsschulen von der Kultusministerkonferenz vorgeschrieben. In diesem erhalten die Berufsschullehrer Hinweise, welche Textsorten und Schreibanlässe in welchem Jahr gelehrt werden müssen. Eigene schulinterne Lehrpläne lehnen sich an die Rahmenlehrpläne an. Das Bundesministerium der Justiz schreibt in der Ausbildungsverordnung durch den integrierten sachlichen Ausbildungsrahmenplan die Vermittlung bestimmter Textsorten direkt und indirekt vor – indirekt deswegen, da manchmal auch nur Schreibanlässe genannt werden, die jedoch in der Berufspraxis bestimmte Textsorten erfordern. Die Kammern als dritter bildungspolitischer Akteur der dualen Berufsausbildung verlangen durch die Abschlussprüfung das Schreiben bestimmter Textsorten als abprüfbare Performanz. Es soll an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass nicht nur die Produktion diverser Textsorten zu bestimmten berufstypischen Schreibanlässen, sondern auch rezeptive Kompetenzen, wie das Lesen und Verstehen der Texte, in der Ausbildung gefördert werden sollen (Giera, 2010:25f.). Ein Großteil der Schreibanforderungen in der dualen Ausbildung wird durch diese drei bildungspolitischen Akteure vorgegeben. Der Ausbildungsbetrieb und die Berufsschule greifen diese Schreibanforderungen in diversen Lernfeldern, die handlungsorientiert aufgebaut sind und einen beruflichen, rechtsrelevanten Bezug haben (Czycholl & Ebner, 1995), im Zuge der von der Kultusministerkonferenz eingeführten Lernfelddidaktik auf (KMK, 1996).
Der heutige Forschungsstand im Bereich der Schreibanforderungen und -kompetenzen in der beruflichen Bildung zeigt, dass sich ein recht junges Forschungsfeld etabliert hat, um einerseits den Status quo empirisch abzubilden und andererseits schreibdidaktische Maßnahmen zu empfehlen (noch ausführlicher unter Neumann & Giera, 2018:333ff.):
Wyss-Kolb konnte mit ihrer Dissertation „Was und wie Lehrlinge schreiben? Eine Analyse von Schreibgewohnheiten und von ausgewählten formalen Merkmalen in Aufsätzen“ (Wyss-Kolb, 1995) durch die Inhaltsanalyse von 88 Aufsätzen deutschsschweizer Lehrlinge in den 11. und 12. Klassen, 15 Doppellektionsaufsätzen sowie 13 Maturaaufsätzen und 30 einstündigen Aufsätzen von Zürcher Berufsschülern nachweisen, dass die Texte durchschnittlich 285 Wörter lang und die von Gymnasiasten signifikant kürzer sind. Mittels qualitativer Fehleranalyse nach dem Zürcher Textanalyseraster wurde dabei die sprachsystematische und orthografische Richtigkeit in den Schülertexten untersucht (Wyss-Kolb, 1995:12). Obwohl die grammatische Fehlerdichte bei den Berufsschülern im Vergleich zu den Gymnasiasten doppelt so hoch war, waren 93 % der Texte formal korrekt und wiesen geringe semantische Fehler auf (Wyss-Kolb, 1995:107, 142, 272). Fehlerschwerpunkte waren überwiegend Flüchtigkeitsfehler, Kommafehler, Dispositionsfehler (Textentfaltung und Kohärenz) sowie Fehler in der Wortwahl, Syntaxfehler oder eine nicht leserfreundliche Struktur (Wyss-Kolb, 1995:22). Eine anschließende Befragung der Lehrlinge (n = 128) verdeutlichte, dass mehr pragmatische Schreibaufgaben wie das Schreiben von Bewerbungen und Beschwerden von Berufsschullehrern gestellt werden sollten, wie im folgenden Zitat zur Geltung kommt:
Deutlich erkennbar ist ferner das Postulat, das Fach – analog zum Deutschunterricht an der Berufsschule – stärker an Lebenskundlichem und Nützlichem zu orientieren. Die jungen Frauen und Männer möchten ‚Techniken lernen, um sich im Leben sprachlich besser zurechtzufinden‘, wünschen sich ‚mehr Alltagsdeutsch (Beschwerden, Bewerbungen)‘, überdies vermehrt auf aktuelle Probleme und Ereignisse oder den Beruf bezogene Diskussions- und Aufsatzthemen […]. Es lässt sich also eine gewisse Diskrepanz feststellen zwischen dem eher an humanistisch geprägten Bildungsidealen orientierten Unterricht und den Erwartungen einer an Lebens- und Praxisnähe interessierten Schülerschaft (Wyss-Kolb, 1995:41).
Des Weiteren stellt Wyss-Kolb in ihrer Untersuchung heraus, dass die Schüler nicht prinzipiell ungern längere Texte schreiben würden, der Aufsatz unliebsam sei und eher Geschäftsbriefe, Prüfungen oder Hausaufgaben verfasst würden (Wyss-Kolb, 1995:72). Zwei von fünf Lehrlingen schreiben demzufolge ungern und selten, obwohl sie am Arbeitsplatz täglich schreiben müssen (Wyss-Kolb, 1995:66, 271).
Fleuchhaus (2004) befragte in ihrem Promotionsprojekt „Kommunikative Kompetenzen von Auszubildenden in der beruflichen Ausbildung. Ausprägungen, Förderung und Relevanz im Urteil von Ausbildern, Lehrern und Auszubildenden“ Auszubildende (n = 1.360) in 21 Berufsgruppen, Berufsschullehrer (n = 60) sowie Ausbilder (n = 60) in einem Fragebogen mit einer fünfstufigen Ratingskala, was für Texte, wie und wann sie diese schreiben würden (Fleuchhaus, 2004:23).
Bedeutende Ergebnisse waren, dass die Auszubildenden aus ihrer Sicht zwar häufig am PC schreiben (M = 3,76), aber Geschäftsbriefe (M = 2,45) selten schreiben und interessanterweise die Berufsschule eher als Ort des Schreibenlernens eingeschätzt wurde als der Betrieb (ebd.). Das Schreiben als berufliche Anforderung wird von den Auszubildenden, die im Betrieb diese Kompetenz aufbauen und beherrschen müssen, stärker wahrgenommen als von Auszubildenden, die das Schreiben von Texten beruflich weniger vollziehen werden. Die Befragung der Ausbilder hob hervor, dass der Computer zwar als Arbeitsmittel relevant sei, aber für die Schulung wenig Zeit bliebe und dies eher in der Berufsschule vermittelt werden müsse. Dagegen schätzen die Ausbilder die sprachformalen Anforderungen wie Grammatik, Orthografie und Syntax als wichtig ein. Diese Grundlagen seien bei den Auszubildenden zu gering ausgeprägt (Fleuchhaus, 2004:262).
Im Schuljahr 2002/03 wurde an 100 Hamburger Schulen die Längsschnittuntersuchung „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung – Klassenstufe 11“ (Lehmann et al., 2004:5), kurz LAU, sowie parallel dazu die „Untersuchung der Leistung, Motivation und Einstellung zu Beginn der beruflichen Ausbildung“ (Lehmann et al., 2005:5) durchgeführt. Ziel war die Erfassung der Schreibkompetenz anhand von Schreibaufgaben, die die Schüler an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen zu bewältigen hatten: In der ersten Schreibaufgabe (n = 3.517) sollten die Schüler schriftlich einen Beschwerdebrief an den Gemeinderat verfassen, um einer Schließung eines Jugendclubs entgegenzuwirken.2 Ein Antwortschreiben von Seiten des fiktiven Gemeinderats stellte die zweite Schreibaufgabe dar (n = 1.539). Die Textqualität wurde durch ein Double-Blind-Ratingverfahren und auf einer fünfstufigen Ratingskala mit inhaltlichen und sprachlich-textuellen Merkmalen ermittelt (Neumann, 2006:24f.).
Knapp zwei Drittel verfassten einen Beschwerdebrief, der funktional, sprachlich und formell ausgereift war. Dagegen wurden bei 34 % der Elftklässler Schreibkompetenzen ermittelt, die einer dringenden Schreibförderung bedurften, da der Schreibanlass oder das Schreibziel verfehlt wurden (Neumann, 2006:28). Ein Fünftel der Probanden schrieb sprachsystematisch nahezu fehlerfreie Briefe. Insgesamt schrieben die Berufsschüler qualitativ bessere Briefe als die Elftklässler an allgemeinbildenden Schulen, denn der ermittelte Mittelwert (MEAN 500/STDD 100) lag um elf Punkte höher (Neumann, 2007:194).
Efing und Janich (2006) analysierten die Ergebnisse des hessischen Modellversuchs „Vocational Literacy – Methodische und sprachliche Kompetenzen in der beruflichen Bildung“ (Biedebach, 2006). Dazu wurde die sprachliche Kompetenz der Berufsschüler (n = 624) im Alter von 15 bis 51 Jahren aus verschiedenen Ausbildungsberufen untersucht (Efing & Janich, 2006:7). Als „Vocational Literacy“ (Efing & Janich, 2006) wird „[…] die Summe der sprachlichen Fertigkeiten, die in spezifischen beruflichen Zusammenhängen benötigt werden“ (Biedebach, 2006:16) bezeichnet. Der Impuls für diese Untersuchung war, die Durchfallquoten in Abschlussprüfungen zu verringern. In zehn Berufsfeldern wurden mit 415 Berufsschüler ein „Problemtypen-Test“ (Efing & Janich, 2006) sowie eine Fragebogenerhebung mit 48 Lehrkräften und 97 qualitative Interviews mit Schülern durchgeführt.
Beim Problemtypen-Test sollten die Berufsschüler eine Inhaltsangabe eines Lesetextes zum Thema Alkoholkontrolle in wenigen Sätzen wiedergeben, was 28 % der Probanden entweder gar nicht bearbeiteten oder zwar begannen, aber abbrachen. Bezüglich der Textsorte Inhaltsangabe zeigten sich hohe Mängel bei der Schreibkompetenz der Schüler: Die Texte wurden kaum strukturiert, wiesen eine geringe Kohärenz auf, der Inhalt des Lesetextes kam nicht zum Tragen, Meinungen des Schreibenden wurden mit der Wiedergabe des Textes vermengt und das Textmusterwissen schien nicht vorhanden zu sein (Efing, 2006:39ff., 42). Weder das Geschlecht noch die schulische Vorbildung oder Berufswahl in dieser heterogenen Probandengruppe wirkten sich positiv oder negativ auf die Textqualität der Inhaltsangaben aus. Daher wurde das Fazit gezogen, dass die „innere Mehrsprachigkeit“, das Strategiewissen zum Verstehen und Schreiben von Texten sowie die Konzentration bei beiden Vorgängen gefördert werden sollten (Efing, 2006:61f.).
Die Fragebogenerhebung mit 48 Lehrern projizierte die geringe Rechtschreibkompetenz der Berufsschüler als Hauptproblemfeld im Bereich der Schreibkompetenz. Auf dem zweiten Rang folgte die allgemeine Schreibkompetenz sowie auf dem dritten Ausdruck/Stil. Efing weist darauf hin, „[…] dass die Schüler bereits in diesen grundlegenden Bereichen so große Probleme bei der eigenen Textproduktion zeigen, dass eine Förderung der Schreibkompetenz im allgemeinen und nicht erst im berufsspezifischen Bereich anzusetzen hat“ (Efing, 2008:20).
Als Ursache für die geringe Schreibkompetenz zählt Efing (2008:28f.) zum einen die wenigen Übungsmöglichkeiten und zum anderen die geringe Motivation sowie teilweise Aversion gegen die Textproduktion sowie bestimmten schulischen Textsorten gegenüber auf. Er fordert, dass im Fach Deutsch Textmusterwissen, der Aufbau von Schreibroutinen, die Schulung der Sprachreflexion sowie die Förderung der Feedbackkultur gelehrt werden müssten und letztendlich eine Einstellungsänderung der Lehrer dahingehend nötig sei, nicht nur den Orthografiebereich zu unterrichten.
2009 und 2010 untersuchten Efing und Häußler die „sprachlichen und kommunikativen Anforderungen an Auszubildende in der Bewerbungs- und Ausbildungsphase“ (Efing, 2013b: 126). Dafür wurden teilnehmende Beobachtungen für die Erfassung der berufsrelevanten Textsorten und Gesprächssorten sowie halbstandardisierte Interviews mit Auszubildenden (n = 30) sowie Ausbildern (n = 16) in einem Großbetrieb und in klein- und mittelständischen Unternehmen (n = 6) im Raum Stuttgart/Heidelberg durchgeführt. Die Probanden kamen aus dem handwerklichen Berufsbereich (Industriemechaniker, Mechaniker, Mechatroniker, Elektroniker, Technischer Zeichner).
Das Ergebnis der Befragung der Ausbilder zeigte,
[…] dass in der betrieblichen Ausbildung sprachliche Fähigkeiten (im Sinne einer Sprachsystem- und Sprachnormkompetenz) nur in der Dimension der Rechtschreibkompetenz explizit relevant sind – und dies auch fast ausschließlich im Kontext des Bewerbungsanschreibens und anlässlich der Durchsicht und Korrektur der Berichtshefte. Weitere sprachsystematische Fähigkeiten spielen, solange sie auf basalem Niveau vorhanden sind und nicht die Verständigung beeinträchtigen, keine große Rolle (Efing, 2013b: 127f.).





