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Jeden Morgen bot sich ihm das gleiche Schauspiel, zumindest unter der Woche: Von Montag bis Freitag verließ Grothners Wagen um genau acht Uhr das Privatgrundstück. Nie auch nur eine Minute davor oder danach. Und jeden Abend um exakt siebzehn Uhr und dreißig Minuten durchfuhr der gepanzerte Mercedes das Tor in Gegenrichtung. Wie der Fahrer es fertigbrachte, trotz des Verkehrs auf dem Weg hierhin, so unglaublich pünktlich zu sein, war Kleinhans schleierhaft. In Grothners Abwesenheit war das Anwesen keineswegs verwaist. Lieferanten kamen zu festen Zeiten und brachten Lebensmittel oder andere Dinge. Es gab drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann, die jeden Tag zur gleichen Zeit durch das Tor gingen. Vermutlich Hausmeister, Köchin und Hauswirtschafterin, mutmaßte Kleinhans. Es gab auch zwei Wachleute einer Sicherheitsfirma, die in schwarzen Uniformen hinter dem Tor standen und jeden, der das Anwesen betreten wollte, kontrollierten. Jeder Lieferant und jeder Bedienstete besaß einen Ausweis, und Kleinhans konnte beobachten, dass sich Wachleute und die Menschen, die das Anwesen betreten durften, persönlich kannten. Hier gab es keine Chance, hinter die Mauern zu gelangen. Selbst wenn er sich als Vertretung ausgeben würde, um so auf das Grundstück zu kommen, würden unzählige Kameras sein Gesicht aufnehmen und innerhalb kürzester Zeit wäre er zur Fahndung ausgeschrieben. Nein, mit der Entführung dieses Mannes durfte ihn nie jemand in Verbindung bringen können.
Die einzige Möglichkeit, um den Mann abzugreifen, musste sich in dem Zeitfenster befinden, in dem Grothner unterwegs zu seiner Firma war. Die Strecke vom Wohnsitz Grothners bis zum Glaskasten betrug nahezu genau sechzehn Kilometer. Die Fahrstrecke ließ sich in dreiundzwanzig Minuten bewältigen. Grothners Fahrer hatte drei alternative Streckenführungen, die er je nach Verkehrslage wählte. Die ersten fünf Kilometer jedoch waren stets die gleichen. Eine schmale Landstraße, die erst durch landwirtschaftlich genutzte Flächen führte, dann kam ein Waldstück von einem Kilometer Länge und danach kam bereits das Ortseingangsschild, und die Fahrstrecke wurde nicht mehr vorhersehbar. Innerhalb des Waldstückes gab es eine Querstraße, die in die Landstraße mündete. Diese war von Büschen gesäumt und führte zu einem verlassenen Bauernhof. Diese Stelle hatte sich Kleinhans ausgesucht, um Karl Grothner zu entführen. Blieb nur das Problem mit den Männern im Land Rover, die wie Schmeißfliegen an dem Wagen des Konzernchefs klebten. Die musste er loswerden, und er wusste auch schon wie. Der Land Rover hielt jeden Abend an genau derselben Stelle vor dem Haus des Millionärs. Drei Meter vor dem Eingangstor. Direkte Nachbarn besaß das Anwesen nicht und die Straßenbeleuchtung war nur im unmittelbaren Eingangsbereich so hell, dass jede Bewegung auffallen musste. Links und rechts des ummauerten Grundstücks war die Fläche bewaldet, was Kleinhans das Observieren des Anwesens erleichterte. Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite war das Gelände dicht mit Buschwerk bewachsen. Erst nach über zweihundert Metern gab es eine weitere Villa, die jedoch weder Mauer noch Hecke besaß und einem Unternehmerehepaar gehörte, wie Kleinhans herausfand. Erst nach Tagen war ihm aufgefallen, dass der schwere Geländewagen der Bodyguards immer über einem Kanaldeckel stehenblieb, nachdem Grothners Auto auf das Anwesen gefahren war. Hierin lag möglicherweise die Lösung des Problems. Ein Plan reifte in ihm heran und Kleinhans begann sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er einen der reichsten Männer Deutschlands entführen würde. Er entwendete in den nächsten Tagen einen zehn Tonnen schweren und voll beladenen Kieslaster von einer Baustelle in einer Nachbarstadt und brachte ihn auf den verlassenen Bauernhof, wo er ihn unter einer großen Remise so einparkte, dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Kleinhans kaufte von einem Schrotthändler einen alten blauen und zerbeulten Renault, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass dieser noch fahrbereit war. Mit gestohlenen Kennzeichen versehen, brachte er auch dieses Fahrzeug in Stellung. Nun musste er warten. Schon nach wenigen Tagen hatte er Glück. Der Mercedes und sein Begleiter fuhren an diesem Tag nicht in Richtung des Hauses, in dem Grothner lebte, sondern schlugen den Weg in Richtung des Flughafens ein. Heute Nacht würde der Land Rover nicht vor dem Haus stehen, denn der Hausherr war nicht anwesend. Kleinhans wusste, dass zwei Kameras auf den Bereich des Eingangstores gerichtet waren. Sein Sachverstand sagte ihm, dass der Gullydeckel, über dem normalerweise der Rover stand, außerhalb des Erfassungsbereiches dieser Kameras lag. Im Schutz der Dunkelheit brachte Kleinhans ein Stahlseil und eine vier Zentimeter dicke und zwei Meter lange Eisenstange zu dem Gullydeckel, hob diesen mit einer Brechstange an und schob ihn so weit zur Seite, dass er die Trosse und die schwere Eisenstange hineinwerfen konnte. Er warf einen prall gefüllten Rucksack hinterher, dann verschloss er den Gully wieder und verschwand so schnell er konnte von der Straße. Über eine Stunde verharrte er in seinem Gebüsch, bis er ganz sicher sein konnte, dass niemand etwas davon mitbekommen hatte. Nun schlich er erneut zu dem Kanaldeckel, hebelte ihn zum zweiten Mal heraus und schob ihn so weit zur Seite, bis er selbst in das enge Kanalrohr klettern konnte. Sobald er unterhalb der Straßendecke war, schob er von innen den Deckel wieder in seine Position. Der senkrechte Teil des etwa sechzig Zentimeter durchmessenden Kanals mündete in einem waagerechten Rohr, das der Regenwasserentsorgung diente. Auf dem Grund dieses Rohres fand Kleinhans das Stahlseil, die schwere Eisenstange und seinen Rucksack. Er verband das Seil mit einem Karabinerhaken mit der Eisenstange und legte diese so in das waagerechte Rohr, dass sie wie ein Anker wirken müsste. Am anderen Ende der Trosse hatte er ebenfalls einen Karabinerhaken befestigt. Das Kanalrohr lag trocken, denn es hatte schon geraume Zeit nicht mehr geregnet. Es hatte einen Durchmesser von achtzig Zentimetern und war somit groß genug, um sich auf allen Vieren darin fortbewegen zu können. Marius Kleinhans nahm eine Taschenlampe aus dem Rucksack und kroch in das Rohr zu seiner Linken. Fünfzig Meter weiter würde er den nächsten Kanaldeckel finden, und an dieser Stelle wollte er aus dem Kanalsystem verschwinden, wenn es soweit war. Er musste zunächst aber herausfinden, ob sich die fünfzig Meter tatsächlich im Kriechgang bewältigen ließen. Davon hing, wie von vielen anderen Elementen, sein Plan ab. Langhans litt zu seinem Glück nicht an Klaustrophobie und es befand sich nur trockener Schlamm in dem Betonrohr. Er bewältigte die Strecke bis zum nächsten senkrechten Rohr innerhalb von zwanzig Minuten, stieg an den Metallkrampen, die in das senkrechte Rohr eingelassen waren, empor, und drückte von unten gegen den Gullydeckel. Der mochte um die fünfzehn Kilogramm wiegen und Kleinhans konnte ihn mühelos anheben und zur Seite schieben. Der Renault stand von dieser Stelle nur hundert Meter entfernt, Kleinhans hatte ihn rückwärts in einen Waldweg gefahren, sodass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Um kein weiteres Risiko einzugehen, kroch er auf allen Vieren wieder zurück zu der Stelle, an der der Land Rover hoffentlich bald stehen würde. Nun musste er warten, wenn er Pech hatte, mehrere Tage, bis Grothner von seiner Geschäftsreise zurückkehrte. Er richtete es sich mit dem Inhalt des Rucksacks, einer Decke und Lebensmitteln, so bequem wie möglich in dem Kanalrohr ein und betete, dass es nicht zu regnen begann. Sonst würde das alles eine sehr feuchte Angelegenheit werden.
Nach zwölf Stunden in dem Rohr spürte er seinen Körper kaum noch. Auch wenn es nicht allzu kalt war, ließ ihn die Bewegungsunfähigkeit auskühlen. Er kroch immer wieder in dem Kanal hin und her, kletterte die kurze Leiter empor, um nicht steif zu werden und begann, an der Durchführbarkeit seines Planes zu zweifeln. Einsamkeit ist ein guter Einflüsterer von Bedenken. Plötzlich schien ihm das alles zu riskant. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Hatte er wirklich keine Spuren an der Stahltrosse und der Stange hinterlassen? Mit bloßen Fingern hatte er sie nie angefasst. Die ganze Zeit, während der Vorbereitung und hier unten im Kanal, hatte er Handschuhe getragen. Aber er wusste auch, dass die Forensiker alles absuchen würden und dass sie ihn durch ein einziges Haarfollikel identifizieren konnten. Zweifel schlichen wie Viren, die begonnen haben, einen Organismus zu infizieren, in seine Gedanken, und als es erneut dämmerte und der Land Rover noch immer nicht über ihm stand, war er kurz davor, das Projekt abzubrechen. In der Dunkelheit hier unten und mit dem ständigen Rascheln in dem Kanalrohr, das von beiden Seiten der Röhre zu hören war und dessen Ursprung wohl in der Rattenpopulation lag, kam ihm sein ganzer Plan mehr und mehr idiotisch vor. Wer war er, dass er glaubte, diesen Mann tatsächlich entführen zu können? Einen Mann, der ein Imperium führte, in einer gepanzerten Limousine fuhr und von wahrscheinlich waffenstarrenden Leibwächtern bewacht wurde. Er war ein Krimineller, wenigstens das konnte er von sich behaupten. Aber was hatte er schon vorzuweisen? Einige gut gelungene Einbrüche in Villen ziemlich reicher Leute. Letztlich war er im Knast gelandet. Und heute? Heute saß er wie eine Ratte in dieser Kloake und glaubte tatsächlich, ausgerechnet ihm könne so ein Coup gelingen? Fast musste er lachen. Und selbst wenn es ihm gelang, seinen Plan durchzuführen, würde man ihn jagen, bis man ihn gefasst hatte. Und dann? Mindestens zwölf Jahre Knast erwarteten ihn. Und wenn Karl Grothner etwas zustoßen würde bei der ganzen Sache, käme er wohl niemals wieder frei. Er fror. Die Dunkelheit ließ Lichtpunkte vor seinen Augen tanzen und die Geräusche, die die Ratten in der Kanalisation verursachten, schienen immer lauter zu werden. Fast bekam er Angst vor dem, was da hinten in der Dunkelheit scharrte und trippelte.
Die Vorräte im Rucksack gingen zur Neige und trotz der Enthaltsamkeit beim Trinken verspürte er einen immer stärkeren Harndrang. Sich hier zu erleichtern war ausgeschlossen, er würde sein genetisches Material gleich deziliterweise hinterlassen.
Resigniert kroch er wieder durch das Rohr und verließ das Kanalsystem, um sich zu erleichtern. Die neue Nacht war angenehm warm, jedenfalls hier oben, und die Grillen gaben ihr Konzert in der Ferne. Er beschloss, nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, seine Sachen aus dem Schacht zu holen und die Aktion abzubrechen. Es sollte offensichtlich nicht sein. Er konnte nicht noch länger in dem engen Kanal sitzen und auf sein Opfer warten. Das würde er nicht aushalten. Die Schwachstelle in seinem ansonsten grandiosen Plan war er selber. Er hatte nicht gedacht, dass er schon nach weniger als zwanzig Stunden so weit war. Bei der Planung hatte er sich noch vier oder mehr Tage zugetraut. Enttäuscht ging er in Richtung des geöffneten Kanaldeckels, als plötzlich Scheinwerfer zu erkennen waren. Grothner kehrte zurück. Sofort wurde Kleinhans Körper von Adrenalin durchflutet, das innerhalb des Bruchteils einer Sekunde seine Zweifel davonspülte. Schnell warf er sich hinter eine Buschgruppe, um nicht von den Scheinwerfern der beiden Fahrzeuge erfasst zu werden. Nachdem die kleine Wagenkolonne ihn passiert hatte, stieg er rasch wieder in das Kanalrohr, schloss den Deckel und kroch so schnell er konnte zu seinem Lager zurück. Marius Kleinhans glaubte nicht, dass den Insassen der beiden Fahrzeuge der verschobene Gullydeckel aufgefallen war, und wenn doch, konnte er es jetzt nicht mehr ändern. Er wollte den richtigen Moment abpassen, möglichst unmittelbar, nachdem der Range Rover zum Stehen gekommen war, denn dann würde im Inneren des Autos noch die größte Unruhe herrschen. Der Karabinerhaken und die ersten dreißig Zentimeter der zwanzig Meter langen Stahltrosse waren von ihm mit Isolierband ummantelt worden, damit es keine oder nur wenige Geräusche gab. Er nahm den Karabinerhaken und befestigte ihn an seinem Gürtel, stieg dann die Leiter hinauf und blickte durch die runden Löcher des Kanaldeckels. Tatsächlich stand der Wagen direkt über ihm. Ohne lange zu überlegen drückte Kleinhans den Deckel nach oben und schob ihn langsam und möglichst leise so weit zur Seite, dass der Kanal halb geöffnet war. Er lauschte, doch es erfolgte keine Reaktion auf seine Aktivität. Den Bodyguards über ihm in ihrem schweren Geländewagen würde schon früh genug auffallen, dass er hier war, dachte er grimmig. Kleinhans war erstaunt, wieviel Raum zwischen der Fahrbahndecke und der Unterseite des Geländewagens bestand. Dieser Umstand erleichterte sein Vorhaben und vorsichtig schob er sich unter das Auto. Es gelang ihm, den Karabiner um die vordere rechte Radaufhängung zu legen und ihn dann zweimal um die Traverse zu wickeln, an der das rechte Vorderrad befestigt war, bevor er den Karabinerhaken an der Stahltrosse einrasten ließ. Das war nach seiner Einschätzung die schwierigste Phase in seinem Plan. Er kroch in den Gully zurück und schob den Deckel wieder über die Öffnung. Das Stahlseil verhinderte, dass sich der Deckel wieder komplett einfügte, aber das spielte keine Rolle. Der heraufschnellende Gullydeckel würde den Schaden an dem Fahrzeug vergrößern, wenn es anfuhr. Auf dem Grund des waagerechten Kanals überprüfte er den Sitz des Stahlseils an der massiven Eisenstange, die er so platziert hatte, dass sie als Anker fungieren würde, wenn das sich spannende Seil sie empor riss. Mit der Taschenlampe kontrollierte er seine Arbeit und suchte jeden Zentimeter ab, um auszuschließen, dass er irgendetwas versehentlich liegengelassen hatte. Morgen würden Ermittler und Forensiker hier herumkriechen und nach irgendeinem Hinweis auf den oder die Täter suchen. Nach zwanzig Minuten verließ er den engen Kanal und lief zu dem Renault, der versteckt in dem Wald stand, der das Grundstück Grothners umrahmte. Die Stunden in dem engen Rohr hatten ihren Tribut gefordert. Ihm tat jeder Muskel und jeder Knochen weh, doch die Bewegung jetzt ließ den Schmerz schnell vergehen. Allerdings hatte er nun wieder ein gutes Gefühl, was seinen Plan anging. Karl Grothner würde morgen seine Geisel sein. Er würde im Keller des ehemaligen Pförtnerhauses in der Industriebrache der alten »Buttwanger« Fabrik am Stadtrand liegen, ein Ort, der so verlassen war, wie man es sich als Entführer nur wünschen konnte. Um acht Uhr würde Grothner noch guter Dinge sein. Um acht Uhr und fünfzehn Minuten würde sich das zu einhundert Prozent geändert haben, dessen war sich Marius Kleinhans sicher.
Vier
Der Flug war stets der lästigste Teil bei manchen Geschäften. Was dazu führte, dass Karl Grothner, den ohnehin ständig die Aura des Schlechtgelaunt-seins umgab, zu noch weniger Konzessionen und Kompromissen bereit war als ohnehin üblich. Sein Anwalt hatte ihm nahegelegt, diese kurze Dienstreise zu unternehmen, um persönlich für das letzte Quäntchen Überzeugungskraft zu sorgen. Mit rein juristischen oder betriebswirtschaftlichen Argumenten sei dem betreffenden Gesprächspartner nicht beizukommen. Es bedürfe dieser »speziellen« Verhandlungsweise, wie sie nur Grothner zu eigen sei. Und so stieg Karl Grothner mit seinem Anwalt und zwei seiner Leibwächter in den Firmenjet und flog nach Den Haag, um dort eine mittelgroße Spedition zu kaufen und danach sofort zu zerschlagen. Die Spedition wurde durch einen einzigen Mann gelenkt, Daniel Dickens, der dem Unternehmen auch den Namen gab: »Dickens Transport«. Ihm war es gelungen, einen europaweit agierenden Lebensmittelkonzern davon zu überzeugen, ihm allein die Transporte von Rohstoffen innerhalb der Benelux-Staaten zu überlassen. Damit kam er aber der »Grothner Transport & Logistic« in die Quere, die ebenfalls Verträge mit dem Lebensmittelkonzern hatte. Grothner ließ kontinuierlich den Druck auf Daniel Dickens erhöhen und warb Kunden des Spediteurs ab. Dickens musste gemerkt haben, dass ihm ein wirklicher Riese in diesem Geschäft den Krieg erklärt hatte, doch der Niederländer war stur und uneinsichtig.
Im nächsten Schritt schickte Karl Grothner ihm seinen privaten Anwalt auf den Hals. Dr. Krieger war ein Jurist in Reinkultur. Einer der ganz wenigen Menschen in Grothners innerem Zirkel, der Fragen stellen durfte, ohne gefeuert zu werden. Weil er der Einzige war, dem es manchmal gelang, Schwachstellen in Grothners Strategien zu erkennen. Dr. Krieger war ein hochgewachsener, sehr stämmiger Mann mit etwas zu langem, fast weißem Haar. Er trug stets einen schwarzen Anzug und eine rote Seidenkrawatte, die mit einem gestickten Paragraphenzeichen versehen war. Trotz der Tatsache, dass es Zahnersatz und Brücken in keramischer Form gab, die als solche nicht zu erkennen waren, besaß Dr. Krieger zwei Goldzähne, einen rechts und einen links im Oberkiefer, was ihm die Aura eines Dinosauriers verlieh und seinem Lachen etwas Unheimliches gab. Dr. Krieger war Karl Grothners Vollstrecker. Bei ihm ging es niemals darum, ob etwas ging, sondern nur wie es zu bewerkstelligen war. Und wenn alle Mittel versagten, erstattete Dr. Krieger Bericht und Karl Grothner musste die Hinrichtung seiner Gegner selbst bewerkstelligen.
Unangenehm für alle Beteiligten. Grothner hatte seine Beziehungen spielen lassen und seinen »Schnüffler« von der Leine gelassen. Karl Grothner nannte den Mann nur »den Schnüffler«, ein Privatdetektiv, dessen kriminelle Vergangenheit Grothner völlig egal war. Auf seinen »Schnüffler« war auch dann Verlass, wenn alle anderen, legalen Mittel versagten. Und auch im aktuellen Fall hatte der Mann interessante Dinge ausgegraben, Munition für Grothner, um seinen Gegner zur Strecke zu bringen.
Dr. Krieger hatte den Termin bei Daniel Dickens angebahnt und Dickens hatte erst nach Wochen eingewilligt, Karl Grothner zu treffen und mit ihm persönlich zu reden. Als Grothners Mietlimousine auf das Gelände der Spedition einbog, stand Dickens hinter dem Fenster seines Büros und verfluchte den Tag, an dem er in den Fokus des Interesses der Grothner-Gruppe geraten war. Er führte die Spedition nun in vierter Generation und hatte den Führungsstil seiner Vorfahren fortgesetzt. Er hatte die Spedition vergrößert und sie zu einem florierenden Unternehmen geschmiedet. Jeder seiner Angestellten wurde von ihm als Freund betrachtet und auch so behandelt. Es gab keine personelle Fluktuation bei »Dickens-Transport«, die Zufriedenheit seiner Mitarbeiter war das Ergebnis seines stets freundlichen, ehrlichen, aber auch konsequenten Umgangs mit ihnen. Und die Verlässlichkeit in der Umsetzung aller Aufträge war auch in den Kreisen der Mitbewerber anerkannt. Dickens hatte schon oft unter Druck gestanden. Er hatte seine Firma durch alle Krisen geführt, und er war davon überzeugt, auch diese Krise meistern zu können. Daniel Dickens war ein schlanker, hochgewachsener Mann von fast zwei Metern Körpergröße. Für seine fünfundsechzig Jahre wirkte er sehr sportlich, und seine grauen Haare verliehen ihm etwas seriöses. Ein Eindruck, der durch die goldgefasste Brille noch verstärkt wurde. Er trug stets einen gepflegten Anzug, keine Nobelmarke, aber doch teuer genug, um zu demonstrieren, dass er in der Firmenhierarchie ganz oben stand. Trotz seines sehr fairen Führungsstils strahlte er Autorität aus und er war sehr starrsinnig und selbstbewusst in dem, was er wollte, oder eben nicht wollte. Seine Sekretärin, ungewöhnlich blass, öffnete die Tür zu seinem Büro und teilte ihm mit, dass »die Herren aus Deutschland« jetzt da seien. Er nickte nur und Karl Grothner betrat das Büro des Spediteurs. Ihm folgte der Anwalt, der ihn in den vergangenen Wochen so sehr bedrängt hatte. Der Anwalt nickte Dickens nur kurz zu und stellte eine Aktentasche und einen Laptop auf den Besprechungstisch in der Mitte des Raumes. Dann verließ Dr. Krieger das Büro wieder und Dickens war mit Grothner allein.
»Setzen wir uns!«, sagte Karl Grothner knapp und Dickens fühlte sich, als sei er der Gast hier. Ohne seine Reaktion abzuwarten, nahm Karl Grothner an dem Besprechungstisch Platz. Der Tisch bestand aus einer rechteckigen Mahagoniplatte. In der Mitte standen einige Gläser und verschiedene Getränkeflaschen. Daniel Dickens versuchte, so souverän wie möglich zu klingen.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Sparen Sie sich die Höflichkeiten, ich habe hier die Verträge für die Übernahme, Sie unterschreiben, packen Ihre Sachen und verlassen das Firmengelände. Und dann, vielleicht, wünsche ich eine Erfrischung.« Grothners Stimme war nicht laut, aber sie war fest, klar und kalt. Dickens starrte ihn an, als hätte Grothner einen irrsinnigen Knittelvers aufgesagt.
»Sind Sie noch ganz bei Trost? Sind Sie völlig irre? Ich habe dem Gespräch nur zugestimmt, damit ich Ihnen ins Gesicht sagen kann, dass Sie niemals, niemals diese Firma übernehmen werden. Nicht, solange ich lebe und auch danach nicht. Verlassen Sie sofort mein Büro und lassen Sie sich nie wieder blicken.« Feine Speicheltropfen stoben von Daniel Dickens Lippen, als er diese Worte geradezu herausschrie. Sein niederländischer Akzent verlieh dem Gesagten noch mehr Ernsthaftigkeit als der Groll, der in seiner Stimme mitschwang. Mit hochrotem Kopf stand Dickens vor dem Mogul, die Fäuste fest gegen die Hüften gepresst. Grothner griff zu seiner Aktentasche und suchte scheinbar unbeteiligt einige Papiere heraus. »Der Vertrag.« Er griff in die Innentasche seines Sakkos und förderte einen edlen, schwarzen Füllfederhalter zutage, den er sanft auf den Stapel Papiere legte. »Unterschreiben!«
»Sie sind völlig wahnsinnig!« Dickens versagte die Stimme.
»Bin ich das? Was ist denn in Ihren Augen Wahnsinn? Eine Firma zu übernehmen im Zeitalter der Globalisierung? Oder Mord? Tausendfacher Mord? Beihilfe zum Völkermord?« Grothner sprach die Worte ruhig, fast feierlich, ohne seinen Gegner dabei aus den kalten Augen zu lassen.
»Was ist Wahnsinn?« Die letzten drei Worte hatte er deutlich lauter gesprochen. Am ganzen Körper bebend stand Daniel Dickens im Raum, seine Hände öffneten und schlossen sich in schnellem Rhythmus.
»Raus! Auf der Stelle raus!!«, brüllte der, nun nicht mehr souveräne, Spediteur. Unbeeindruckt griff Grothner wieder in die Aktentasche und zog ein weiteres Blatt Papier heraus.
»Dies ist eine beglaubigte Kopie, die mir freundlicherweise vom Bundesarchiv in Leipzig zur Verfügung gestellt wurde. Das Schreiben ist datiert vom 2. September 1942. Absender ist das Reichssicherheitsamt in Berlin. Das Amt beauftragt Ihren werten Herrn Vater mit dem Transport von Industrieanlagen von Erfurt zu einem Ort in Polen, den sie vielleicht kennen. Ah, hier steht es ja. Der Ort heißt Auschwitz. Die Industrieanlagen sollen bei einer Firma J. A. Topf und Söhne in Erfurt geladen und in dieser seltsamen polnischen Stadt wieder abgeladen werden. Auftraggeber ist ein Herr Karl Bischoff. Bauleiter der SS.«
Wieder griff Grothner in die Aktentasche. Diesmal hielt er mehrere Blätter in der Hand. »Ah, das ist ja interessant. Sie haben für die Nazis auch nach Dachau, Gusen und Mogilev geliefert. Immer Industrieanlagen der Firma Topf und Söhne. Und hier, schauen Sie mal, auch nach Buchenwald. Ist das nicht gleich bei Erfurt?« Lässig warf Karl Grothner die Papiere auf den Tisch. Ein letzter Griff in die Aktentasche. »Ladepapiere, einige tragen die Unterschrift Ihres Vaters und Ihres Großvaters.« Grothner schloss kurz die Augen, als wolle er einen lästigen Gedanken aus seinem Inneren vertreiben. Dickens stand völlig erstarrt und leichenblass immer noch an derselben Stelle wie zu Beginn dieses Gespräches. »Dreimuffelöfen«, las Grothner vor. »Und hier ... gasdichte Fenster und Türen. Und hier, ein Dankschreiben, unterschrieben von Ihren Vorfahren, für die gute Zusammenarbeit und voller Hoffnung, das alles zur vollsten Zufriedenheit des Führers abgewickelt wurde. Wissen Sie, werter Herr Kollege, was Dreimuffelöfen sind? Nein? Es sind Krematorien. Sie haben den Nazis die Mittel beschafft, sie mit den Mitteln versorgt, um hunderttausende Menschen umzubringen.« Grothner machte eine Kunstpause. »Nun gut.« Er griff zu dem Laptop und klappte ihn auf. Nach Sekunden zeigte der Bildschirm das Logo eines bekannten Internetdienstes.
»Da Sie sich beharrlich weigern, Ihre Firma zu veräußern, werde ich diese Information nun in einer bereits vorformulierten Mail an alle Geschäftspartner, an die Spediteursgewerkschaft, an Ihre und meine Regierung und natürlich an alle Ihre Kunden weiterleiten. Zudem habe ich im Verteiler dieser Mail sämtliche Medienvertreter aufgenommen, die an dieser Information Interesse haben könnten.« Demonstrativ griff Grothner zu dem schwarzen Füllfederhalter und steckte ihn wieder ein. Dickens hatte sich aschfahl auf einen der Stühle gesetzt und betrachtete mit zitternden Händen die Papiere, die Karl Grothner auf den Tisch gelegt hatte.


