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»Das ... das wusste ich nicht. Ich ... ich habe das nicht gewusst.«, stammelte der Niederländer.
»Tja, jetzt wissen Sie es. Ich brauche gar nichts mehr zu tun. Ich drücke diesen Knopf hier und fege in drei Wochen die Scherben zusammen, die von Ihrer Spedition übrig geblieben sind. Das war es, schönen Tag noch.« Grothner stand auf.
»Nein, warten Sie. Bitte. Bitte senden Sie das nicht ab. Wir reden, ich rede mit Ihnen. Das darf nicht ... das darf niemals ... meine Familie ... bitte, reden Sie mit mir.« Dickens Stimme zitterte und Tränen standen in seinen Augen.
Seine Brille hatte er abgenommen und auf den Tisch gelegt, ein Zeichen völliger Resignation. Mit flehendem Blick sah er Grothner an. Dieser musterte ihn wie ein exotisches Insekt. Ohne ein Wort zu sagen, holte er erneut den Füller hervor und warf ihn Dickens zu.
»Überall, wo ein Kreuz ist.« Daniel Dickens unterschrieb nicht sofort. Er blätterte die Seiten durch und stutzte, als er den Kaufpreis sah. Seine Spedition war mindestens das Zehnfache wert.
»Das ist doch nicht Ihr Ernst! Die Kaufsumme ist doch nicht wirklich Ihr Ernst! Alleine der Fuhrpark ist das Doppelte wert. Ich kann Ihnen doch meine Firma nicht schenken.« Der Niederländer sah Grothner verzweifelt an.»Wenn ich hier auf diese Taste drücke, ist Ihre Firma nicht mal mehr einen Cent wert«, flüsterte Grothner und hielt den rechten Zeigefinger auf der »Enter«-Taste.
»Ich flehe Sie an. Mit dem Kaufpreis kann ich nicht leben. Das ist viel zu wenig. Ich muss doch auch an meine Familie denken.«
»So wie Ihr Vater an die Familien der Leute gedacht hat, die die Nazis in die Dreimuffelöfen geschoben haben? Unterschreiben Sie!« Dickens erkannte intuitiv, dass seine Karriere als Geschäftsmann jetzt und hier endete und er fügte sich in sein Schicksal.
Eine Minute später gehörte Karl Grothner die Firma.
»Bitte löschen Sie jetzt die Mail«, flüsterte der Geschlagene. Grothner legte seine Fingerspitzen aneinander und schaute darüber hinweg seinen ehemaligen Gegner an.
»Wissen Sie, warum sich der Hund an den Eiern leckt?«, fragte Karl Grothner den irritiert blickenden Dickens.
»Weil er es kann!«, sagte der neue Besitzer von »Dickens-Transport« und drückte den »Senden«-Button.
Leichenblass saß der vernichtete Dickens an Grothners Tisch in Grothners Büro, als dieser den Raum verließ und seinem Anwalt nur kurz zunickte. Dieser nahm die Papiere vom Tisch und verstaute sie in der Aktentasche. Er klappte den Laptop zu und nahm ihn unter den Arm. Kurz blitzten seine Goldzähne auf. »Einen schönen Tag noch.« Der Anwalt folgte seinem Herrn zur Mietlimousine. Er setzte sich wortlos auf den Beifahrersitz. Es gab nichts zu besprechen. Seine Arbeit war es nun, die Trümmer, die von »Dickens-Transport« übrig geblieben waren, zusammenzukehren, die Pressearbeit zu veranlassen und neue Verträge zu formulieren, mit denen der Finanzorganismus des Grothner-Imperiums weitere Facetten erhielt. Karl Grothner saß im Fond des Fahrzeuges und sah aus dem Fenster. Er hatte die Oberlippe leicht hochgezogen und seine schneeweißen Zähne blitzten zwischen den schmalen Lippen hervor. Seine Mundwinkel wiesen dabei nach unten, was seinem Gesicht etwas Bösartiges verlieh. Einer der seltenen Momente, in denen er lächelte. Eine Stunde später hob der Learjet ab und brachte Karl Grothner und sein Team zurück nach Deutschland. Am Flughafen erwartete die Gruppe bereits die Cheflimousine und der Land Rover für die Leibwächter. Die Fahrt ging in Richtung des Wohnsitzes des Multimillionärs. Es war bereits dunkel, als die Kolonne das Anwesen erreichte.
Fünf
Marius Kleinhans hoffte, dass die Präzision, mit der sein Opfer seinen Tag strukturierte, auch nach der Dienstreise Gültigkeit besaß. Demnach würde Grothners Wagenkolonne um genau acht Uhr morgens losfahren. Der Wagen mit den Bodyguards würde ausgeschaltet werden, und wenn der Chauffeur des »Chefs« bei der Ausbildung aufgepasst hat, würde er, anstatt anzuhalten, Gas geben, um Grothner in Sicherheit zu bringen. Denn es musste ihm sofort klar werden, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, wenn der Land Rover so spektakulär außer Gefecht gesetzt würde. Er würde mit seinem wertvollen Passagier, so schnell es der gepanzerte Mercedes zuließ, in Richtung Stadt fahren, wahrscheinlich aber dabei einen Notruf an die Polizei absetzen. Der Mercedes würde also sehr schnell die Stelle passieren, die Marius für den letzten Akt dieses Stücks vorgesehen hatte. Er schätzte, dass er maximal fünf Minuten Zeit hatte, den Mann aus der Limousine zu ziehen, ihn in den Renault zu schaffen und mit ihm von der Bildfläche zu verschwinden, bevor es vor Polizisten wimmeln würde. Es gab nur eine einzige Sache, die Marius weder planen, noch vorhersehen konnte. Wie bekam man einen Mann aus einem gepanzerten Fahrzeug, wenn der das nicht wollte? Hier lag die vielleicht größte Unwägbarkeit in seinem Plan. Er hatte im Internet alles über gepanzerte Autos gelesen, was zu finden war, und so wusste er, dass solche Autos zumeist spezielle Sicherheitseinrichtungen besaßen, die im Falle eines Unfalls aktiviert wurden. Schließlich muss ja auch die Feuerwehr an die Fahrzeuginsassen herankommen, wenn es sich um einen normalen Verkehrsunfall handelt und nicht um ein Attentat oder einen Entführungsversuch. Diese Spezialfahrzeuge boten in erster Linie Schutz gegen Beschuss und Zugriffe von außen. Bis zu drei Tonnen schwer, glichen sie jedoch anderen Fahrzeugen bis ins Detail, auch wenn sie im Grunde nur aus Panzerstahlplatten bestanden, die man mit leichtem Blech verkleidet hatte. Alleine die Seitenscheibe eines solchen Fahrzeuges wog an die vierzig Kilogramm und hielt auch Geschosse größeren Kalibers mühelos ab. Marius setzte darauf, dass Grothner darauf bedacht war, im Falle eines Verkehrsunfalls schnellstmöglich gerettet zu werden. Da gepanzerte Limousinen nie von der Stange kamen, sondern individuell geplant und konstruiert wurden, ließ sich für Marius nur schwer einschätzen, welche technischen Kniffe Grothners Mercedes besaß.
Er hatte den Renault nun unmittelbar an die Stelle gelenkt, an der der Überfall stattfinden sollte. Marius stieg aus, ließ den Zündschlüssel stecken und begab sich in Richtung des verlassenen Bauernhofes, bei dem er den Kieslaster untergestellt und versteckt hatte. Er wusste, dass es nun um alles oder nichts ging. Es bedurfte des genauesten Timings, das äußerst kleine Zeitfenster bot keinen Raum für Überraschungen. Er hatte noch einige Stunden Zeit und machte es sich im Führerhaus des Lasters so bequem wie möglich, um wenigstens einige Minuten zu schlafen, doch das Adrenalin in seinen Adern ließ ihn immer wieder aufschrecken und er fand sich damit ab, bis um kurz nach acht einfach wach zu bleiben. Er hatte die Weckfunktion seines Handys auf kurz nach sieben programmiert. Sollte er doch einschlafen, würde er noch genug Zeit haben, die letzten Vorbereitungen zu treffen.
Sechs
Karl Grothner hatte sein Müsli gegessen und den starken, ungesüßten Kaffee zu sich genommen. Die Haushälterin war bereits im Bügelzimmer und sein Chauffeur hatte die Tasche aus dem Büro geholt und im Hausflur deponiert. Wie jeden Morgen. Grothner bekam jedes Detail der Abfolge aller Handlungen mit, ohne darüber nachzudenken. Nur wenn etwas abwich, und sei es nur eine wirklich banale Kleinigkeit, löste das sofort etwas in ihm aus. Meistens Zorn, denn er hasste Dinge, die geschahen, ohne dass er es wünschte. Heute war alles richtig und er stand vom Esstisch auf, legte die Serviette neben die Müslischale und öffnete die Tür zu der großzügigen Diele, die, wie jedes Zimmer in dem Anwesen, weiß gestrichen, nach rein praktischen Erwägungen möbliert und vollkommen schmucklos war. Sein Fahrer stand vor dem kleinen, ebenfalls weißen Beistelltisch, auf dem seine Aktentasche ihren festen Platz hatte und nahm diese an sich, als er Grothner bemerkte. Ohne ein Wort zu sagen ging Grothner zur Haustür und sein Fahrer folgte ihm. Unmittelbar vor dem Eingang des Hauses stand der schwarze Mercedes. Grothner ließ sich die Tür zum Fond öffnen und stieg ein. Der Fahrer öffnete den Kofferraum und legte die Aktentasche seines Chefs hinein. Fast lautlos ließ er den Kofferraumdeckel zuklappen und setzte sich hinter das Lenkrad. Ein leises, kaum hörbares Geräusch verriet, dass sich alle Türen der Limousine verriegelt hatten, nachdem er den Motor gestartet hatte. Der Mercedes rollte auf das Tor zu, das elektrisch geöffnet wurde. Die zwei Wachleute der Frühschicht standen abseits und waren nur als Schatten zu erkennen. Der Fahrer setzte den Blinker und bog rechts auf die Straße ab und beschleunigte. Vorher hatte er sich versichert, dass der Land Rover mit den Sicherheitsleuten mit eingeschalteten Scheinwerfern und laufendem Motor an seinem Platz stand. Der Land Rover fuhr nun ebenfalls an und sollte dem Mercedes im Abstand von fünfzig Metern folgen. Grothners Fahrer sah im Rückspiegel, dass der Rover anfuhr, jedoch plötzlich, wie von Geisterhand, sehr abrupt stoppte. Das Heck des schweren Geländewagens hob sich seitlich von der Fahrbahn und das linke Vorderrad wurde abgerissen und trudelte in die Büsche am Straßenrand. Die Energie, die sich in der Sekunde entfaltete, reichte aus, den Rover umkippen zu lassen. Er stürzte auf die Beifahrerseite und blieb dort mit sich drehenden Rädern liegen. Das alles geschah innerhalb einer Sekunde und Grothners Fahrer begriff sofort, dass es sich um einen Anschlag handeln musste. Er trat das Gaspedal durch, um Grothner und sich aus der Gefahrenzone zu bringen, so wie es seine Ausbildung vorgab. Zeitgleich drückte er einen roten Knopf auf dem Armaturenbrett und sandte so ein Funksignal an die nächste Polizeidienststelle. Von dort würden sofort sämtliche verfügbaren Kräfte entsandt, um die Limousine, deren genauer Standort per GPS übermittelt wurde, zu beschützen und an einen sicheren Ort zu eskortieren. Grothners Fahrer sagte nur das Wort: »Überfall«, während er sein Fahrzeug weiter beschleunigte. Von Karl Grothner kam keine Antwort, er blickte, wie jeden Morgen, aus dem Fenster. Der Mercedes raste nun mit über einhundertdreißig Stundenkilometern auf der Landstraße Richtung Stadt, als in Höhe des kleinen Waldstücks, kurz vor dem Stadtrand, ein Lastwagen unvermittelt aus einem Seitenweg bog und ihm die Vorfahrt nahm. »Scheisseeeeeeeeeeeeee!!« Die Vollbremsung und das gleichzeitige Lenkmanöver konnten den Unfall nicht verhindern, zu schnell war der Mercedes und zu unvermittelt war der Lastwagen auf der Bildfläche erschienen. Der Fahrer versuchte noch, den Wagen links an dem Lastwagen vorbeizulenken, doch zu spät. Der Mercedes prallte mit hoher Geschwindigkeit in das Heck des Lastwagens und schob sich teilweise unter ihn. Sofort lösten die Airbags aus, die Windschutzscheibe aus Panzerglas kollidierte mit der hohen Ladekante des Lastwagens und wurde, trotz der Panzerung, nach innen gedrückt und war mit ursächlich für den sofortigen Tod des Fahrers. Im Moment des Aufpralls waren die Notsysteme der Limousine aktiviert worden. Zeitgleich mit dem Auslösen der Airbags zündeten die Sprengschnüre, die als Noteinrichtung die Seitenscheiben aus den Rahmen warfen. Karl Grothner hatte keinen Sicherheitsgurt angelegt, doch die Airbags retteten ihm das Leben. Eine Sekunde nach dem verheerenden Zusammenstoß verlor er das Bewusstsein. Sein Kopf war trotz Airbag mit starker Wucht gegen die Lehne des Beifahrersitzes geprallt. Zwei Minuten nach dem Unfall wurde Grothners Körper durch das Seitenfenster gezogen und fortgetragen. Er bekam nichts davon mit, als er unsanft in ein anderes Auto geworfen wurde, und es entzog sich seiner Wahrnehmung, dass er an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt wurde, bevor dieses Auto anfuhr, stark beschleunigte und ihn fortbrachte.
Drei Minuten später traf die Polizei mit sieben Streifenwagen an der Unfallstelle ein. Dem blauen Renault, der ihnen entgegengekommen war, hatten sie keine Beachtung geschenkt. Das kam erst später.
Marius war zuletzt doch eingeschlafen. Die Nacht war mild und irgendwann hatte ihn die Müdigkeit übermannt. Als um kurz nach sieben sein Handy das Wecksignal in die Fahrerkabine des Lasters sandte, schreckte er auf, war für eine Sekunde gänzlich desorientiert und dann wieder voll da. In weniger als sechzig Minuten würde er entweder mit dem Multimillionär Karl Grothner im Gepäck auf der Flucht sein oder nicht. Dieses oder nicht allerdings war der Grund für seine Nervosität, die ihn jetzt schlagartig erfüllte. Oder nicht konnte alles Mögliche bedeuten. Tod, Gefängnis, Verletzungen ... Er wischte die Bilder der unterschiedlichen Zukunftsvarianten aus seinem Verstand und begann, die letzten Vorbereitungen zu treffen. Marius prüfte, ob die schwarzen Kabelbinder in seiner Tasche waren. Im Fußraum des Beifahrers hatte er eine Brechstange und einen schweren Vorschlaghammer deponiert. Er vermutete, dass er dieses Werkzeug zum Öffnen des Mercedes brauchen würde. Auf dem Beifahrersitz lag der silberne Motorradhelm, den er als Maskierung und zum Schutz tragen würde. Kurz vor acht startete er den Motor des Lastwagens, ein alter Mercedes 1017, der für die Zündung lediglich einen Nagel brauchte, den man in das Zündschloss steckte. Danach konnte man den Motor mit dem »Start«-Knopf anlassen. Er fuhr den LKW an eine Stelle, von der aus er die Landstraße sehen und erkennen konnte, wenn Grothners Wagen sich näherte. Das Innere seiner Lederhandschuhe war wegen seiner Nervosität mittlerweile schweißgetränkt. Er wusste genau, dass es darum ging, exakt in der richtigen Sekunde auf den Plan zu treten. Zu früh, würde das Grothners Fahrer die Möglichkeit zum Bremsen oder Ausweichen geben, zu spät könnte bedeuten, die Limousine zu verpassen. Marius Kleinhans verließ sich auf seinen Instinkt, seine Intuition, die ihm schon oft geholfen hatte, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Er starrte aus dem Seitenfenster, und um drei Minuten nach acht Uhr hätte er fast die ganze Aktion vermasselt, als ein ebenfalls dunkler Wagen in sein Sichtfeld kam. Er hatte bereits begonnen, den Laster zu beschleunigen, als sein Gehirn ihm mitteilte, dass es sich nicht um einen Mercedes, sondern um einen Volvo handelte. Er bremste den Laster und setzte schnell zurück, um wieder Sicht auf die Straße zu haben. Sein Herz raste und es rauschte in seinen Ohren. Unter dem Helm war ihm unerträglich heiß, und dann endlich sah er Grothners Auto mit hoher Geschwindigkeit in seine Richtung fahren. Es folgte kein weiteres Fahrzeug, dieser Teil des Plans hatte also bereits funktioniert. Er trat das Gaspedal durch, um den Kieslaster zur Straße zu fahren. Grothners Fahrer fuhr viel schneller, als Marius einkalkuliert hatte. Der Laster erreichte die Einmündung der Hofzufahrt und Marius riss das Lenkrad nach links. Der LKW neigte sich mit quietschenden Reifen zur Seite und setzte sich punktgenau vor Grothners Limousine. Marius vollführte nun eine Vollbremsung, und nur Sekundenbruchteile später spürte er einen gewaltigen Ruck, als der Mercedes in das Heck des Lastwagens krachte. Ohne nachzudenken, griff Kleinhans nach dem Hammer und dem Stemmeisen und sprang aus dem Fahrerhaus. Er wusste, es blieben ihm nur wenige Minuten, um sich Grothner zu bemächtigen. Was er sah, als er das Heck des Lasters erreichte, ließ ihn erstarren. Der schwere Mercedes hatte sich fast bis zur Hälfte unter die Ladefläche des LKW geschoben. Die Windschutzscheibe war weit nach innen gedrückt worden, die Holme hatten trotz der Panzerung der enormen Wucht des Aufpralls nicht standgehalten und waren abgerissen worden. Die Scheibe selbst war unversehrt und die Leiche des Fahrers war hinter dem Glas eingequetscht, die Hände über dem geborstenen Schädel in stiller Mahnung erhoben. Die Zähne des Toten waren überdeutlich zu sehen. Sie hatten die Lippen völlig verdrängt und waren nun fest an das Innere der Panzerglasscheibe gepresst. Ein Teil der Schädeldecke fehlte und gezackte Knochenreste umrahmten das blutige Innere des Schädels. Marius würgte unter seinem Helm. Das war nicht geplant. Er hatte nie im Leben damit gerechnet, dass ein gepanzertes Fahrzeug im Falle eines, wenn auch schweren, Unfalls solchen Schaden nehmen würde. Verletzungen der Insassen hatte er einkalkuliert und auch mit seinem Gewissen vereinbaren können, aber das? Nun war er ein Mörder. Er brauchte fast dreißig Sekunden, um sich wieder bewegen zu können. Er stellte fest, dass alle Seitenscheiben nach außen geworfen worden waren. Dann sah er Karl Grothner, der ebenfalls am Kopf blutete, im Fond des Mercedes sitzen. Die weißen Airbags hingen schlaff an den Holmen und an der Rückenlehne des Beifahrersitzes herab. Marius griff in das Fahrzeugwrack, fasste Grothner unter den Armen und zog den Mann durch das Seitenfenster aus dem Auto. Hammer und Brecheisen hatte er weggeworfen, sie waren überflüssig geworden. Für eine Sekunde geriet ihm der Geruch, den der tote Fahrer verströmte, in die Nase. Seltsam süß und herb zugleich, ein grauenvoller Duft, der mit keinem ihm bekannten Geruch vergleichbar war. Den bewusstlosen Grothner hob er auf seine rechte Schulter und trug ihn so schnell er konnte über die Straße zu dem versteckt geparkten Renault, dessen Heckklappe offenstand. Unsanft legte er den Mann in den Kofferraum und griff nach den Kabelbindern, um ihn damit an Händen und Füßen zu fesseln. Anschließend warf er eine Decke über sein Opfer und schloss den Kofferraum. Er nahm seinen Helm ab, bevor er einstieg und das Auto startete. Mit quietschenden Reifen raste Marius Kleinhans, der schon in wenigen Minuten zu einem der meistgesuchten Verbrecher der Republik ernannt werden würde, vom Tatort, um seine Beute in Sicherheit zu bringen. Gut ging es ihm nicht dabei. Das Bild des toten Fahrers hing wie ein bleierner Mantel über seinen Gedanken und Gefühlen. Das Bild und der Geruch, den der Tote verströmt hatte.
Im Keller
Als er das nächste Mal erwachte, war es wieder dunkel. Langsam kehrte die Erinnerung an seine letzte Wachphase zurück. Die Kette um seinen Hals klirrte, als er sich aufsetzte. Er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und erinnerte sich daran, dass vor der Liege die Schüssel mit dem Brot und eine Wasserflasche stand. In absoluter Finsternis tastete er danach und fand die Wasserflasche tatsächlich. Sie war wieder gefüllt worden und dankbar schraubte er den Plastikverschluss auf und trank. Das Brot in der Schüssel war hart geworden, offenbar war es nicht ersetzt worden. Er opferte etwas Wasser, weichte das Brot auf und verschlang es, von gewaltigem Hunger getrieben. Sein Magen machte einige beunruhigende Geräusche, akzeptierte aber diese Zuwendung. Noch immer war er nackt und fror. Um sich selbst zu wärmen, legte er sich in embryonaler Haltung auf die Pritsche. Seine Gedanken schwirrten wie in einem Wespennest umher und er konnte keinen einzigen fassen. In ihm war keine Erinnerung, die er abrufen konnte, kein Hinweis auf seine Identität.
»Was, was, was, was, was, was ...« entrann seiner Kehle.
»Doch, doch, doch, auf, auf, auf, auch, auch ...«
»Basedu, basedie, baseleikum, basedu, basedie.« Er kicherte. Seine Netzhäute empfingen keine Lichtsignale und das Gehirn füllte diese Informationslücke mit grellen Punkten und verschwommenen Spiralen, kleinen Lichtwürmern und farbigen Kaskaden. Dann sah er auf einmal die Treppe vor seinem inneren Auge. Die Holztreppe, die aus seinem Verlies hinausführte. Er sah sie unter sich, als würde er sie in Bauchlage hinunterfliegen. Jede Maserung des Holzes konnte er visualisieren, jede Macke und jede Stelle, an der Holzwürmer kleine, stecknadelgroße Löcher hinterlassen hatten. Der innere Film endete immer an derselben Stelle. Am Fuß der Treppe. Vielleicht war er die Treppe heruntergestürzt und hatte deswegen die Verletzungen.
»Wer weiß das schon? Wer weiß das schon? Opi riecht nach Pitralon.« Wieder musste er leise kichern.
»Auf, auf. Wasser ist zum Trinken da. Auch. Auf.« Die Flasche, die kaum einen halben Liter fasste, war leer, und auch der Blechnapf gab nichts mehr her. Er spürte, dass er sich erleichtern musste. Seine Blase war gefüllt und sandte schmerzhafte Impulse aus. Das gemarterte Gehirn suchte verzweifelt nach einer Lösung, fand jedoch keine. Doch. Eine Idee. Vielleicht konnte man ihn hören. Und ihm helfen. Er konnte doch hier nicht einfach unter sich lassen. Das war der erste logische Gedanke, seit er hier unten war. Rufen. Doch was?
»Auf, auf, doch, doch. Auch, auuuuuch. Dooooooch. Auf, auf!«, rief er, so laut es seine Stimme hergab. Wieder und wieder rief er, doch niemand kam, um ihn aus seiner Not zu befreien. Als er es schließlich nicht mehr aushalten konnte, nutzte er die gesamte Länge der Halskette und erleichterte sich an der Wand. Sein eigener Urin spritzte ihm auf die Füße und er spürte, wie das von ihm erzeugte, warme Rinnsal eine Pfütze um ihn herum bildete, einen See, in dem er nun stand. Auf Zehenspitzen ging er zurück zu seiner Liege und setzte sich. Plötzlich ging das Licht an und die Helligkeit stach ihm in die Augen, die er reflexartig schloss.
»Halloooo? Doch, doch. Kommen Sie. Doch, auf!«, rief er.
Er öffnete die Augen einen Spalt und hielt seine Hände schützend vor das Licht, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er konnte die peinliche Pfütze sehen, die er selbst erschaffen hatte und unweit davon lag etwas. Die Kette um seinen Hals erlaubte es ihm nicht, den Gegenstand zu erreichen, doch es gelang ihm, das Teil mit den Füßen zu sich zu ziehen, indem er sich auf den Boden legte und so die Kette um seine Körpergröße verlängerte. Es war ein Kleidungsstück. Ein Overall. Schnell zog er das einteilige Kleidungsstück an und fand in den Taschen ein Paar graue Wollsocken, die er ebenfalls anzog.
»Danke, danke!«, rief er und freute sich wirklich sehr über das Geschenk. Er strahlte über das ganze Gesicht und rief immer wieder.
»Danke Anke, Anke, danke, auf, auf. Doch. Auch.« Das war hier nicht so übel. Er hatte seine Liege, und wenn er schlief, gab ihm jemand zu Trinken und zu Essen. Und man hatte ihm nun auch noch diesen schönen, warmen Anzug geschenkt. Und Socken. Das Schlafmittel, das dem Wasser zugesetzt war, begann zu wirken und er schlief bereits, als das Licht wieder erlosch. Auf, auf. Auch. Doch.
Sieben
»Faszinierend.« Gerald Picard sah in den offenen Abwasserkanal. Der Polizeioberkommissar war nun schon seit einer Stunde am Tatort, und als Leiter des SEK gab es für ihn eigentlich nicht mehr viel zu tun. Es gab derzeit keine Informationen über Identität oder Aufenthaltsort des Täters oder der Täter. Dennoch hatte ihn der Chef der neu gegründeten SOKO »Karl« gebeten, hierzubleiben. Paul Gruhlich und er waren seit Jahren befreundet und hatten in ihrer gemeinsamen Zeit im Kriminalkommissariat unzählige Fälle bearbeitet und die meisten aufgeklärt. Dabei war ihre Arbeit stets von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Als man Picard die Stelle des Leiters eines Spezial-Einsatzkommandos anbot, hatte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge angenommen. Freunde waren Paul Gruhlich und er dennoch geblieben, und manchmal trafen sie sich, um aktuelle Fälle zu besprechen oder einfach nur, um über alte Zeiten zu palavern.
»Was denkst du?«, fragte Gruhlich seinen alten Partner.
»Sieht mir nach Vollprofis aus. So etwas derartig genau zu planen und durchzuführen, ohne dass es Zeugen gibt, ist fast unmöglich. Ich meine, dieser Grothner war doch besser bewacht als Fort Knox. Die wussten genau, was passieren würde, wenn der Wagen mit den Leibwächtern angegriffen würde. Dabei haben die nichts weiter gemacht, als den zu ankern. Und die von der Spurensicherung finden nicht den geringsten Hinweis. Um so eine Nummer abzuziehen, brauchst du Profis, wenn du mich fragst.«
Gruhlich nickte. Ein Streifenbeamter wagte sich an die in zivil gekleideten Polizisten heran und blickte den Leiter der SOKO fragend an.
»Was ist?«, fragte Gruhlich.
»Als wir zum Tatort fuhren, kam uns ein Fahrzeug entgegen. Kann sein, dass das die waren, die das hier gemacht haben, oder? Ich hatte die Sicherungskamera an, wollen Sie mal sehen?«
Picard sah Gruhlich an.
»Was für ein Schaf. Zeigen Sie mal, Sie Top-Ermittler!« Die drei gingen zu dem Streifenwagen, der neben etwa dreißig anderen Einsatzfahrzeugen vor Grothners Villa geparkt war. Der uniformierte Beamte wies auf den Beifahrersitz und setzte sich selbst hinter das Lenkrad. Auf einem kleinen Display konnte man die Aufnahme, die die Bordkamera in Fahrtrichtung gemacht hatte, betrachten. Gruhlich hatte auf dem Sitz neben dem Streifenbeamten Platz genommen und sah auf das Display. Die Sequenz dauerte nur zwei Sekunden. Man sah einen dunklen Kombi entgegenkommen. Scheinbar nur ein Insasse.


