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Ich liebte diesen einen unbeschwerten Abend und freute mich jeden Sommer wie verrückt darauf.
Kaum hatten wir die Lichtung erreicht, machte sich in mir stille Vorfreude breit. Mit angehaltenem Atem ging ich weiter, meine Augen streng nach vorne auf das Lagerfeuer gerichtet.
»Merrick ist auch schon da«, flüsterte mir Natea zu und winkte einer Gruppe Jungs, die im lockeren Halbkreis um das Feuer herumstanden und sich unterhielten.
»Sei still«, flüsterte ich zurück und drückte zur Warnung ihre Hand.
Natea kicherte. »Was ist denn? Inzwischen weiß doch sowieso jeder, dass er was von dir will.«
Deswegen musste sie es trotzdem nicht über die ganze Lichtung rufen.
Delia und Amina begrüßten uns mit einer innigen Umarmung. »Das ist alles so aufregend«, quietschte Delia. Ihre dunkelblonden Zöpfe wirkten im Schein des Feuers wie lodernde Flammen.
»Oh ja, das ist es«, pflichtete Amina ihr bei.
Ehe ich auch etwas dazu sagen konnte, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie Merrick und ein weiterer Junge in unsere Richtung kamen. Alles in mir versteifte sich augenblicklich.
Der große blonde Junge mit den strahlend blauen Augen blieb unmittelbar vor mir stehen.
»Hallo, Solea«, richtete er sogleich das Wort an mich. »Es ist schön, dich zu sehen.«
Dabei hatten wir uns gerade erst gestern während des Unterrichts getroffen.
»Hallo«, brachte ich mühsam hervor. Meine Stimme zitterte, worüber ich mich ein wenig ärgerte.
»Das ist Nicos«, stellte er seinen Begleiter vor. »Mein Cousin.«
Mir fiel sofort auf, dass sich meine beste Freundin augenblicklich versteifte. Offenbar gefiel ihr, was sie sah. Sehr sogar. Ihre Wangen röteten sich verräterisch, während sie den fremden Jungen mit großen Augen anstarrte.
Da boxte mich Delia ungeduldig in die Seite.
»Kommt ihr? Sonst sind die guten Plätze alle weg.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, packte sie meinen Arm und schleifte mich hinter sich her. Ich schaffte es gerade noch Natea mitzuziehen.
»Ich dachte, du magst Merrick«, fragte Amina, die uns folgte. »Oder irre ich mich?«
»Ich mag ihn ja auch«, gab ich schulterzuckend zu. »Aber was spielt das schon für eine Rolle, er hat sowieso keine Chance.«
Amina warf mir einen fragenden Blick zu, während wir uns durch die Menge schlängelten, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, möglichst nah am Feuer.
»Solea wird nächsten Sommer achtzehn«, führte Natea meine Antwort weiter aus. Sie hatte sich endlich wieder gefasst, nachdem der fremde Junge aus unserem Sichtfeld verschwunden war. »Und Merricks Familie verfügt leider nicht über das nötige Vermögen.«
Was mir völlig egal ist, nur meiner Mutter nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Oh«, machte Amina und schaute mich mit großen Augen an.
Ich hasste diese Blicke und tat mein Möglichstes, ihnen keine Beachtung zu schenken. Eine Mischung aus Ehrfurcht, Neugierde und Mitleid – darauf konnte ich gut verzichten.
Nachdem Natea endlich einen geeigneten Platz gefunden hatte, machten wir es uns am Lagerfeuer bequem, begrüßten nebenbei noch ein paar Freunde und warteten ungeduldig darauf, dass die Jungs mit ihren Erzählungen loslegten.
Delia reichte mir einen Krug mit Wein, den sie bei ihrem Vater aus dem Keller stibitzt hatte. Ich nahm einen kräftigen Schluck gegen die Kälte. Und noch einen, um mich besser zu fühlen. Merrick und sein Cousin standen unmittelbar neben uns, was mir erst auffiel, als ich mich suchend nach ihm umschaute.
Er reagierte auf meinen Blick mit einem Lächeln und ich erwiderte es scheu. Warum war die Welt nur so ungerecht, fuhr es mir durch den Kopf. Ich mochte Merrick. Ich mochte ihn wirklich. Doch die Lage war aussichtslos. Seine Familie verfügte nicht über die nötigen Mittel, um eine Brautwerbung stemmen zu können. Wenn ich ihn trotzdem wählte, das wusste ich von meiner Mutter, die mich auf solche Fälle vorbereitet hatte, würde ich ihn und seine Familie in den Ruin treiben.
Deshalb, und nur deshalb, musste ich mich von ihm fernhalten, ob ich dazu bereit war oder nicht.
»Es geht los«, raunte mir Natea zu.
Einer der älteren Jungs stand auf und stellte sich in die Mitte, mit dem Feuer im Rücken, was den gewollt unheimlichen Effekt verstärkte.
»Die Dunkelheit naht«, begann der Junge zu erzählen. »Und mit ihr kommt das Böse in unsere Reihen. Verschließt eure Türen und betet zum Lichtgott, dass ihr verschont bleibt ...«
Aufmerksam lauschte ich seinen Worten und hatte Mühe, meine Anspannung in Zaum zu halten. Genau diese Art von Geschichten waren der Grund dafür, weshalb ich nicht wollte, dass meine kleine Schwester etwas von alledem mitbekam. Weil es nicht nur eine Geschichte war, ausgedacht von irgendeinem Jungen, der uns damit Angst einjagen wollte. Sondern die reine unverblümte Wahrheit.
Zuerst kam die Dunkelheit in unser Dorf. Wie ein Leichentuch legte sich die Nacht über den Süden, schlängelte sich durch sämtliche Straßen und verschluckte jedes einzelne Haus, bis man nicht einmal mehr die Hand vor Augen sehen konnte.
Dann kamen die Wölfe.
Riesige schwarzgraue Tiere, beinahe doppelt so groß wie die Wölfe, die sonst durch unsere Wälder streiften, so erzählte man sich. Mit tiefschwarzen Augen patrouillierten sie durch jedes Dorf, durchwanderten jede Straße, um sich davon zu überzeugen, dass niemand mehr draußen unterwegs war. Man munkelte, die Wölfe würden so lange bleiben, bis auch der Letzte von uns eingeschlafen war. Dann zogen sie sich in die umliegenden Wälder zurück, um dort die nördliche Grenze zu bewachen.
Manchmal, wenn ich als kleines Kind nicht gleich hatte einschlafen können, hatte ich sie draußen um unser Haus herumschleichen hören. Wie sie an der Tür schnüffelten, unter jedem Fenster kurz stehenblieben. Dann hatte ich mir schnell die Bettdecke über den Kopf gezogen und auf den Schlaf gewartet.
Die Wölfe waren die ersten Vorboten der dunklen Jahreszeit. Sie erreichten unser Dorf, welches sich von allen südlichen Gemeinden am nächsten zur nördlichen Grenze befand, immer als erstes – lange, bevor die anderen Dörfer von ihnen heimgesucht wurden.
Unmittelbar nach Ankunft der Wölfe setzte die Kälte ein. Schon bald darauf fiel der erste Schnee, das wusste ich aus den Geschichtsbüchern. Zu diesem Zeitpunkt schliefen alle Dorfbewohner tief und fest – anders konnte ich mir nicht erklären, warum ich bis heute noch nie einer Person begegnet war, die mir erzählen konnte, wie echter Schnee aussah.
Natürlich gab es immer mal wieder ein paar waghalsige Jungs, die laut damit prahlten, sie würden einfach wachbleiben, um sich dem Bösen zu stellen und es aus ihrem Dorf zu verjagen. Allerdings mussten sie im nächsten Frühjahr einsehen, was wir anderen ohnehin schon wussten: Es gab keine Möglichkeit, wachzubleiben, selbst ich hatte das schon versucht.
Die bleierne Müdigkeit setzte ein sobald es Nacht wurde, und selten schaffte man es danach, noch länger als eine kleine Weile durchzuhalten.
Doch das Böse gab es wirklich und damit waren nicht die Wölfe gemeint, die sicherlich der Schattengöttin gehörten und ihre Regentschaft ankündigten. Vielmehr waren damit die Angehörigen des Nordvolkes gemeint, die immer wieder in unsere Dörfer kamen, unsere Speicher aufbrachen, Vorräte plünderten und unser schlafendes Vieh töteten oder verschleppten.
Dabei gingen sie nicht gerade zimperlich vor. Oftmals verwüsteten sie auf ihren Streifzügen ganze Häuser und hinterließen das pure Chaos.
Zum Glück waren sie noch nie in unserem Haus gewesen. Doch ich hatte das Unaussprechliche schon mit meinen eigenen Augen gesehen.
Im letzten Winter hatte es unseren Nachbarn besonders hart getroffen. Sie hatten den Großteil seines Viehs an Ort und Stelle getötet, ausgeweidet und dabei ein wahres Blutbad angerichtet.
Das waren Monster.
So etwas Grauenvolles, davon war ich fest überzeugt, konnte nur von einem Scheusal angerichtet werden.
Wir waren ein friedliebendes Volk. Man kannte sich, konnte nachts die Türen unverschlossen lassen, niemand hatte etwas zu befürchten.
Die Winterruhe war die einzige Zeit, in der wir die Schlösser an unseren Türen benutzten.
Niemand wusste so genau, warum das Nordvolk Winter für Winter unsere Dörfer entlang der Grenze überfiel und uns ausraubte, während wir wehrlos in unseren Betten lagen. Schon oft hatte ich mich gefragt, wie sie die Grenze passieren konnten, wenn dort die Wölfe Wache hielten. Nur wahren Ungeheuern konnte so etwas gelingen, davon war ich überzeugt.
Bis jetzt hatte es zum Glück nur materielle Schäden gegeben. Doch allein die Angst, es könnte eines Tages etwas Schlimmes passieren, beherrschte in jeder Nacht vor der langen Winterruhe mein gesamtes Denken.
Teilweise lähmte mich die Angst um mein Leben, um das Leben aller Bewohner in unserem Dorf, schon Tage vorher. Manchmal wurde es so schlimm, dass ich mich regelrecht zusammenreißen musste, um die Zeit unmittelbar vor der Dämmerung ohne einen hysterischen Anfall zu überstehen.
Dabei nützte es leider auch nicht viel, wenn mich mein Vater zu beruhigen versuchte, indem er mir versicherte, dass die Schlösser an unserer Tür ganz sicher halten würden.
Ich hatte trotzdem furchtbare Angst.
Von der langen Winterruhe selbst bekam ich nicht viel mit, ehe ich mich versah, gefühlt nur einen Wimpernschlag später, hatte mich das Leben wieder.
Allerdings beharrte meine Mutter darauf, dass wir in den letzten Wochen vor der Winterruhe sehr viel mehr essen mussten, um ein Polster anzulegen, damit unser Körper über eine Reserve verfügte, von der er zehren konnte, während wir schliefen. In dieser Zeit wurde mir regelmäßig schlecht, weil ich einfach nicht so viel essen konnte, wie von mir verlangt wurde. Was meine Mutter jedoch nicht daran hinderte, mich weiterhin sinnlos vollzustopfen.
Unser Treffen endete viel schneller, als mir lieb war – und schon standen wir wieder vor dem Haus meiner Freundin.
Der Abschied nahte.
Dennoch fühlte ich mich leicht beschwingt, was eindeutig an dem Wein lag. Um meine Angst niederzukämpfen, hatte ich wohl den einen oder andern Schluck zu viel genommen.
Natea drückte mich fest an sich.
»Wir sehen uns bald wieder«, sagte sie lächelnd. »Ich vermisse dich jetzt schon.«
»Du wirst nicht einmal merken, dass ich weg bin«, witzelte ich. »Weil du tief und fest schläfst. Genau wie ich.«
Sie grinste schief. »Du weißt, was ich meine«, winkte sie ab. »Richte deiner Familie liebe Grüße aus.«
Schmunzelnd erwiderte ich ihre Umarmung. »Mache ich. Bis später«, verabschiedete ich mich von ihr, winkte noch einmal kurz und machte mich auf den Weg.
Die Fackeln an den Häusern brannten bereits, als ich endlich Zuhause ankam.
Vater empfing mich an der Haustür.
»Du kommst spät«, tadelte er mich. Als ich nichts erwiderte, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Wie war dein Abend?«
Schulterzuckend folgte ich ihm ins Haus. »Ganz nett. Natea lässt schön grüßen.«
Mein Vater verriegelte die Tür hinter uns, kaum, dass wir unser Haus betreten hatten.
Ich mochte das Geräusch der einzelnen Schlösser nicht, wenn sie einrasteten. Ein Gefühl von Platzangst überkam mich.
»Das wurde aber auch Zeit«, erreichte mich die wütende Stimme meiner Mutter hinter mir.
Erschrocken wirbelte ich herum, murmelte eine Entschuldigung und machte mich sogleich daran, den Tisch für das Abendessen zu decken, um sie zu beschwichtigen.
Niemand sagte etwas, die letzte üppige Mahlzeit wurde größtenteils schweigend eingenommen. Nur Flo plapperte hin und wieder etwas Belangloses, was mich jedoch kaum interessierte, weil ich mit meinen Gedanken schon längst woanders war.
»Du hast schon wieder kaum etwas gegessen«, warf mir meine Mutter vor.
»Kein Hunger«, gab ich ohne Blickkontakt zurück.
Es machte ohnehin keinen Sinn, mit meiner Mutter darüber zu diskutieren. Ganz egal, wie viel ich in mich hineinstopfen würde, für sie wäre es noch immer zu wenig.
»Du weißt einfach nicht zu schätzen, wie gut du es hast«, stieß Mutter mit einem Seufzer hervor. »Du solltest wirklich glücklich sein, weil du ein solch privilegiertes Leben führst.«
Von wegen. Mein Leben war vielleicht privilegiert, aber alles andere als glücklich. Das schien außer mir nur niemandem aufzufallen.
Um meine Mutter nicht noch mehr zu provozieren, tat ich einfach so, als hätte ich sie nicht gehört.
Während der Lehrzeit hatten wir das Thema Ernährung vor der Winterruhe zu Genüge ausdiskutiert, deshalb wusste ich auch, was passieren konnte, wenn ich nicht genug Nahrung zu mir nahm.
Unser Körper folgte einem inneren Zeitgefühl, das dafür sorgte, dass wir zu Beginn des Frühlings wach wurden. Allem Anschein nach bestand durchaus die Gefahr etwas früher wach zu werden, wenn dem Körper die Energiereserven ausgingen. In diesem Fall gab es nur zwei Möglichkeiten: etwas Essbares auftreiben oder den Hungertod sterben – so stand es zumindest in den Büchern.
So ein Schwachsinn.
Auf die Tiere im Wald mochte das eventuell zutreffen, aber doch nicht auf uns. Im eigenen Haus aufzuwachen, vor der Zeit, was sollte da schon passieren, schließlich gab es reichlich Nahrung. Außerdem hatte ich noch nie von jemandem gehört, der tatsächlich zu früh aufgewacht war.
Vielleicht, grübelte ich weiter, war das auch wieder nur so eine Geschichte, die man den Kindern erzählte, um sie folgsam zu machen.
Meine Mutter ließ jedenfalls keine Gelegenheit aus, um mich daran zu erinnern, wie wichtig es war, vor der Winterruhe reichlich zu essen.
Flo hatte bereits ihr Nachthemd angezogen und lag im Bett, als ich mit meiner Arbeit endlich fertig wurde.
»Ich muss mal«, erklärte sie kurz darauf und warf die Bettdecke zur Seite.
»Vorhin habe ich dich dreimal gefragt«, schimpfte Mutter mit erhobenem Zeigefinger.
Flo rannte an ihr vorbei. »Da musste ich aber noch nicht.«
Schnurstracks schlug sie den Weg zum Abort ein.
Ich schaute ihr hinterher und lächelte über ihre Unbeschwertheit.
Und während sich Flo wenige Augenblicke später wieder in ihr Bett kuschelte, beobachtete ich in Gedanken versunken das prasselnde Feuer in unserem Kamin.
Unser Haus verfügte über zwei Stockwerke. Unten befand sich die Küche, mit dem Essplatz, der aus einem großen Tisch und vier Stühlen bestand. Dann gab es noch eine große Wohnstube mit einem wunderschönen Kamin und einer Leseecke, die ich abends sehr gerne für mich beanspruchte. Zwischen der Abstellkammer und einem Raum, der von meinem Vater vorwiegend für geschäftliche Arbeiten genutzt wurde, befanden sich die Badestube, in der eine große Holzwanne stand und ein kleiner Raum für den Abort.
Außer unserer Familie gab es noch nicht sehr viele Leute im Dorf, die schon einen Abort im Haus ihr Eigen nennen durften. Die meisten mussten noch immer nach draußen auf den Hof gehen, wenn sie ihre Notdurft verrichten wollten. Für uns brachte es natürlich einige Annehmlichkeiten mit sich, ihn direkt im Haus zu haben, wenn es in Strömen regnete. Dafür musste Vater zwar täglich mehrere Eimer Wasser ins Haus tragen, zum Nachspülen, aber das war allemal besser als nachts in die Dunkelheit hinaus zu müssen.
In der oberen Etage befanden sich unsere Schlafräume. Helle, große Zimmer mit allen Bequemlichkeiten, die man sich vorstellen konnte: Jeder Raum verfügte über einen eigenen Kamin, ein großes weiches Bett, einen geräumigen Kleiderschrank und für uns Frauen gab es Frisierkommoden. Wir hatten sogar Vorhänge an den Fenstern und dicke Teppiche in jedem Schlafzimmer. Eine sehr kostspielige Annehmlichkeit.
Doch heute, in der Nacht vor der großen Winterruhe, standen vier provisorische Betten bei Vater im Arbeitsraum. Auf diese Weise blieb die Familie zusammen und ich fühlte mich in der Nähe meiner Eltern wesentlich wohler – in dem Wissen, für die nächsten sechs vollen Monde die Winterruhe nicht ganz allein in meinem eigenen Zimmer verbringen zu müssen.
Später, nachdem wir schon längst in unseren Betten lagen und die Tür von innen fest verriegelt worden war, starrte ich pausenlos an die Decke und wartete darauf, dass mich der Schlaf übermannte und damit endlich meine innere Unruhe auslöschte.
Mutter hatte bereits die letzte Kerze gelöscht, sie schlummerte friedlich neben meinem Vater. Selbst Flo war inzwischen eingeschlafen.
Während ich noch darüber nachdachte, ob ich wohl auch diesmal hören würde, wenn die Wölfe kamen, fielen mir die Augen zu ...
2
Ich erwachte, riss die Augen auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Mein Atem, der stoßweise kam, bildete kleine dichte Wölkchen in der Luft. Im Zimmer war es zu kalt.
Vater wurde immer zuerst wach, also hätte er bereits Feuer gemacht.
Am ganzen Leib zitternd, setzte ich mich vorsichtig auf.
Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander – anscheinend, hatte sich meine Körpertemperatur noch nicht wieder reguliert.
»Mutter? Vater?«
Keine Reaktion.
»Flo, bist du wach?«
Eine unheimliche Stille umgab mich. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf irgendein Geräusch, bis mir schlagartig bewusst wurde, dass außer mir noch niemand bei Bewusstsein war.
»Zu früh«, murmelte ich schlotternd und schaute mich dabei im Zimmer um.
Meine Familie schlief tief und fest. Ganz offensichtlich war es noch nicht an der Zeit, aufzuwachen.
Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, lehnte ich mich zurück, kniff die Augen fest zusammen und wartete darauf, dass ich wieder einschlief.
Doch nichts dergleichen geschah.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die nagende Kälte von meinem schlotternden Körper immer mehr Besitz ergriff, entschloss ich mich dazu, kurz aufzustehen, um mir etwas Wärmeres anzuziehen.
Zur Winterruhe trug ich über meiner Unterwäsche ein weißes, langes Beinkleid, dazu einen langärmligen weißen Überwurf aus Wolle und warme Socken. Dennoch überkam mich gerade das Gefühl, ich würde splitterfasernackt in der eisigen Kälte stehen. Mir wollte einfach nicht warm werden.
Zögernd erhob ich mich, schlich auf leisen Sohlen um mein Bett herum und visierte den Kleiderschrank an – der Dank meiner Mutter fest verschlossen war.
So ein Ärgernis.
Noch immer vor Kälte zitternd, versuchte ich mich zu konzentrieren, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei fiel mein Blick auf die Zimmertür.
In der Wohnstube lag meine Lieblingsstrickjacke, ordentlich zusammengelegt in einer Truhe, neben den anderen warmen Sachen. Die brauchten wir, um die Aufwachphase zu überbrücken, da der Körper eine Weile benötigte, um wieder auf seine normale Temperatur zu kommen. Für kühle Frühlingstage genau die richtigen Kleidungsstücke.
Der Gedanke an meine kuschelige Jacke war wirklich verlockend. Mit einem flüchtigen Blick auf meine schlafende Familie, die ich im Halbdunkel kaum erkennen konnte, schnappte ich mir den Schlüssel, der neben meinem Vater auf einem kleinen Hocker lag.
Das Metall quietschte verräterisch, als ich den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Erschrocken zuckte ich zusammen.
Doch es blieb still, niemand wachte auf.
Voller Erleichterung schob ich den dritten und letzten Riegel zur Seite, drückte die Türklinke hinunter und schlüpfte durch einen schmalen Spalt hinaus in die Küche. Auch hier war es stockdunkel.
Nachdem sich meine Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten, zog ich die Tür leise hinter mir ins Schloss und tastete mich entlang der Wand bis zum ersten Küchenschrank vor, dort bewahrte Mutter die Kerzen auf. Gleich daneben lag ein Bündel Zündhölzer mit dem dazugehörigen Zunderstein. Behutsam entzündete ich eines der Hölzchen und hielt anschließend den Docht der Kerze ins Feuer.
Eine wohlige Wärme breitete sich direkt vor meinem Gesicht aus, weshalb ich einen Atemzug lang innehielt und die Augen schloss. Noch nie in meinem bisherigen Leben war mir derart kalt gewesen. Ob das nun an den eisigen Temperaturen im Haus lag oder eher daran, dass sich mein Körper noch halb in der Schlafphase befand, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich wusste nur eins: Mir war furchtbar kalt und diesen Zustand wollte ich so schnell wie möglich beheben.
Mit routinierten Handgriffen stellte ich die Kerze in die dafür vorgesehene Halterung, schob das Glas darüber und nahm die Lampe in die rechte Hand.
Viel besser.
Zwar schenkte die kleine Kerze nur unzureichend Licht, doch ich wagte es nicht, den großen Leuchter über dem Esstisch anzuzünden. Mutter würde mich umbringen, wenn sie davon erfuhr. Auf keinen Fall durfte sie mitbekommen, dass ich vor der Zeit aufgewacht war. Sie würde fürchterlich schimpfen, weil ich nicht auf sie gehört hatte und vor der Winterruhe zu wenig gegessen hatte.
Wie zur Bestätigung rumorte es heftig in meinem Magen und kurz darauf wurde mir übel.
So was aber auch.
Zähneknirschend musste ich meiner Mutter recht geben, denn allem Anschein nach war ich zu früh aufgewacht, weil mein Körper tatsächlich seine Reserven verbraucht hatte.
Nur sollte ich nicht so einfach an etwas Essbares herankommen, wie mir schmerzhaft bewusst wurde. Jedenfalls nicht, ohne mächtig Krach zu machen. Mutter hatte sämtliche Vorratsschränke verriegelt und verrammelt – wie immer.
Sämtliche Schlüssel, mit Ausnahme von denen für Stall und Haustür, lagerten im Schlafraum unter dem Kopfkissen meiner Mutter. Hilfesuchend schaute ich mich in der Küche um, bis mir das Geheimversteck meiner kleinen Schwester einfiel. Flo hortete gerne Süßigkeiten, für schlechte Zeiten, wie sie sagte.
Hastig ging ich in die Hocke und suchte unter dem Schrank nach besagter kleiner Schachtel, die dort von meiner Schwester deponiert worden war.
Volltreffer.
Ich stellte die Lampe auf dem Schrank ab und schob den Deckel vom Karton. Einige Honigpastillen kamen zum Vorschein, eine Handvoll Plätzchen lag obenauf. Gierig griff ich danach und schob sie mir allesamt in den Mund. Noch nie hatten vertrocknete Plätzchen so himmlisch geschmeckt.
Während ich genüsslich kaute, fiel mein Blick auf die Truhe im Wohnraum, die dort stand und auf ihren Einsatz wartete.
Mutter überließ nichts dem Zufall, das tat niemand in unserem Dorf.
Doch die Truhe war natürlich, wie sollte es auch anders sein, verschlossen.
Selbst die Tür, die im zweiten Stock zu unseren Zimmern führte, war versperrt, weshalb ich auch nicht an meine anderen Sachen oben in meinem Kleiderschrank herankommen würde.
Da ich dort ohnehin nur Sommerkleider und leichte Blusen aufbewahrte, machte es für mich jedoch keinen Sinn, das Schloss an der Tür aufbrechen zu wollen.
Die richtig interessanten Kleidungsstücke lagen in der Truhe.
Wild entschlossen stopfte ich mir noch eine Honigpastille in den Mund, behielt ein paar für später zurück, schob den Deckel auf die Schachtel und stellte die kleine Kiste zurück in ihr Versteck. Bewaffnet mit einem Messer aus der Küche und meiner Lampe, die meinen Pfad nur spärlich ausleuchtete, machte ich mich auf den Weg in die Wohnstube.
Dort stellte ich die Lampe auf den Kamin, kniete mich vor die Truhe und inspizierte genauestens das alte, leicht verrostete Schloss. Vorsichtig setzte ich das Messer an und drückte die Klinge in den Spalt, der für den Schlüssel bestimmt war. Nach einigen Schwierigkeiten, ich wollte schon aufgeben, klickte es plötzlich und das Schloss sprang auf.
Erfreut jauchzte ich. Dann zuckte ich zusammen, weil ich befürchtete, ich könnte meine Eltern geweckt haben.
Doch es blieb still im Haus.
Eilig hob ich den Deckel an. Obenauf lagen die Sachen meines Vaters. Eine Hose, zwei paar warme Socken, sein dicker Stricküberwurf und robuste Schuhe. Darunter entdeckte ich die Garderobe meiner Mutter. Das grüne, lange Baumwollkleid, ein roter Überwurf aus Wolle, die braune Strickjacke, das Beinkleid und ihre Halbschuhe.
Endlich ertasteten meine Hände den Stapel mit meinen Sachen. Noch immer am ganzen Leib zitternd, förderte ich meine kuschelige Strickjacke zutage und schlüpfte, kaum, dass ich sie aus der Truhe befreit hatte, hinein.
Mein blaues langärmeliges Kleid und das wollene Beinkleid ließ ich liegen, schließlich wollte ich mich wieder in mein Bett verkriechen, sobald mir etwas wärmer wurde.


