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Zur Sicherheit schlüpfte ich noch in meine weißen Halbschuhe, um meine eiskalten Füße ein wenig aufzuwärmen.
Viel besser.
Ganz allmählich regulierte sich meine Temperatur nach oben, was mich etwas verunsicherte.
Konnte ich überhaupt wieder einschlafen, wenn sich mein Körper schon auf das Wachbleiben einstellte?
Während ich gründlich darüber nachdachte, stopfte ich die übrig gebliebenen Honigpastillen in meine Jackentasche, dabei wanderten meine Augen zur Haustür.
Ob draußen noch Schnee lag?
Bis jetzt hatte ich noch nie echten Schnee gesehen, kannte ihn nur von Erzählungen und aus den Geschichtsbüchern in unseren Lehrräumen. Normalerweise würde ich auch niemals echten Schnee zu Gesicht bekommen.
Normalerweise ...
Meinen Blick streng auf die Tür gerichtet, schnappte ich mir die Kerze vom Kamin. Meine Füße bewegten sich wie von selbst zur Haustür.
Das ist eine einmalige Chance, versuchte ich meine nagende Neugierde zu rechtfertigen und schob die Kerze auf den Esstisch. So eine Möglichkeit bekommst du nie wieder.
Doch was ist mit den Wölfen, fuhr es mir durch den Kopf. Sie waren dort draußen irgendwo. Auf keinen Fall wollte ich sie auf mich aufmerksam machen. Womöglich, grübelte ich darüber nach, stimmte es, was man sich erzählte, und die Wölfe waren längst aus unserem Dorf verschwunden, um die nördliche Grenze zu bewachen.
Zögerlich griff ich nach dem ersten von drei großen Riegeln an unserer Haustür. Nur einen kurzen Blick riskieren, beruhigte ich mein vor Aufregung rasendes Herz. Danach würde ich mich sofort und auf der Stelle in mein Bett verkriechen!
Schlussendlich siegte die Neugierde über meine Angst vor dem Unbekannten. Der Gedanke, ich würde zum ersten Mal in meinem Leben echten Schnee sehen, überlagerte jegliche Panikgefühle.
Als der letzte Riegel den Weg freigab, zitterten meine Hände unaufhörlich – diesmal jedoch nicht vor Kälte. Ich konnte es kaum erwarten die Tür zu öffnen.
Keine Wölfe, redete ich mir ununterbrochen ein. Daran musste ich nur fest genug glauben.
Es klickte kurz und das Türschloss gab nach.
So leise wie möglich drückte ich die Türklinke nach unten, dabei schaute ich immer wieder hinter mich, um mich zu vergewissern, dass niemand aufwachte. Meine Finger umfassten den Holzrahmen. Mit aller Kraft schob ich die schwere Tür einen winzigen Spalt breit auf.
Das Erste, was ich bemerkte, war die eisige, klare Luft, die mir sogleich entgegenschlug. Voller Erwartung steckte ich meinen Kopf durch den Türspalt.
Der Anblick versetzte mich in staunen. Vergessen waren die Wölfe.
Unsere Straße war kaum wiederzuerkennen. Es musste kurz vor Tagesanbruch sein, der Mond stand nicht mehr ganz so hoch am Himmel, weiter hinten konnte ich bereits die aufgehende Sonne erkennen.
Das Weiß hatte sich wie eine flauschige Decke über allem ausgebreitet – es lag mindestens kniehoch. Unaufhörlich rieselten dicke Flocken vom Himmel. Es war still im Dorf, der Schnee schien sämtliche Geräusche zu verschlucken. Eine friedliche Stille, die mich tief beeindruckte.
Meine Faszination übermannte mich endgültig.
Vorsichtig streckte ich einen Arm durch den schmalen Türspalt und öffnete meine Hand.
Als die erste Flocke auf meine Haut traf und ich mich vorbeugte, um sie mir genauer anzusehen, bemerkte ich die winzigen filigran geformten Eiskristalle, ehe die Schneeflocke in meiner Handfläche zu einer kleinen Pfütze zerschmolz. Ungeduldig wartete ich auf das nächste Flöckchen, das nicht sehr lange auf sich warten ließ.
Jede wies ein anderes Muster auf. Wunderschön gearbeitete kleine Kunstwerke der Natur. Funkelnde, weiße Kristalle, so wunderschön.
Ich konnte gar nicht genug bekommen. Meine Handfläche war inzwischen pitschnass, was mich jedoch wenig störte, genauso wenig wie die Kälte, die mit den Schneeflocken einherging. Voller Bewunderung fing ich immer wieder welche auf und betrachtete sie mit Staunen, ehe sie wenige Augenblicke später schmolzen.
Inzwischen stand ich ganz und gar auf der Türschwelle, beide Arme nach vorn ausgestreckt, und war ganz versunken in diesen faszinierenden Anblick. Unser Dorf war wunderschön.
Die Dächer der umliegenden Häuser lagen unter einer dicken Schneedecke. Dichter Nebel war an den Bäumen und Sträuchern festgefroren, er ließ Äste und Zweige im sanften Mondlicht funkeln wie tausend winzige Diamanten. Es wirkte alles wie ein verwunschener Ort aus einem fernen Wintermärchen.
Voller Wehmut dachte ich darüber nach, weshalb es mir nicht vergönnt war, auch im Winter ein waches Leben zu führen.
Wieso musste ich schlafen, während die Natur eine solche atemberaubend schöne Kulisse herbeizauberte – das war ungerecht.
Während ich so dastand, mit dem Rücken am Türrahmen lehnend, und mich selbst bemitleidete, schaute ich gedankenverloren zum Himmel hinauf. Sonne und Mond standen nun nah nebeneinander. Ein Schauspiel von beeindruckender Schönheit, welches ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Nicht mehr lange, überlegte ich, dann würde ein neuer Tag anbrechen.
Wie mochte unser Dorf wohl am helllichten Tag aussehen, inmitten dieser weißen Pracht?
Der Schnee würde im Sonnenlicht noch mehr glitzern, davon war ich überzeugt. Einzelne Strahlen würden sich in den winzigen Kristallen brechen und alles zum Funkeln bringen.
Oh, ich wünschte, ich könnte es sehen!
Die Versuchung wurde immer größer.
Just in dem Moment hörte ich gedämpft ein paar Stimmen, die langsam aber beharrlich näherkamen. Mit angehaltenem Atem lauschte in die verschneite Stille.
War noch jemand außer mir aufgewacht?
Neugierig geworden, machte ich einen Schritt nach vorn über die Schwelle und sah mich um. Augenblicklich schoss mein Puls nach oben.
Das konnte niemand aus unserem Dorf sein, dessen war ich mir plötzlich sicher. Selbst wenn noch jemand außer mir aufgewacht war, so würde derjenige ganz sicher nicht bei dieser Kälte durchs Dorf laufen, sondern im Haus bleiben und versuchen sich warm zu halten.
Das konnte nur bedeuten ...
Mit einem Satz sprang ich ins Haus zurück, drückte die Tür ins Schloss und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mein Herz schlug so laut, dass ich Mühe hatte richtig zu atmen.
Das Böse war in unserem Dorf.
Meine Gedanken überschlugen sich, während ich inständig darauf hoffte, dass sich die Stimmen, die zweifellos zu Männern gehörten, wieder von mir entfernen würden.
Was sollte ich tun?
Doch sie kamen näher, ich erkannte, dass es sich um mindestens zwei Männer handeln musste. Fast konnte ich verstehen, worüber sie sprachen. Dann entfernte sich plötzlich einer von ihnen, als wäre er an der nächsten Ecke abgebogen.
»Halt, warte«, hörte ich den Zweiten etwas lauter rufen.
»Ich glaube, dort oben in dem Haus brennt Licht.«
Ich riss den Kopf herum und starrte die Kerze an, die noch immer auf unserem Esstisch stand. Offensichtlich konnte man den sanften Schein der Flamme von außen durch die Fensterläden erkennen, was mich nervös zusammenzucken ließ.
Schnell hastete ich zum Esstisch, schob das Glas nach oben und pustete die Kerze aus. Dann hielt ich die Luft an und lauschte auf eine Reaktion.
»Ich sehe nichts«, kam prompt die Antwort von seinem Kumpan. »Du siehst Gespenster. Hier ist niemand wach.«
Erleichtert atmete ich aus. Das war knapp gewesen.
»Ich gehe trotzdem nachsehen.« Ich hörte, wie der erste Sprecher auf mich zukam. »Das Haus ist riesig und bestimmt voller Vorräte.«
Mir wurde flau im Magen. Mit rasendem Puls verharrte ich hinter der unverschlossenen Tür, die ich nun nicht mehr zusperren konnte, weil mich der Krach verraten würde. Warum hatte ich die Tür nicht schon vorhin verriegelt – wie hatte ich das vergessen können? Nun war es dafür zu spät. Wenn der Mann bereits unmittelbar vor unserem Haus stand, und davon musste ich ausgehen, da ich ihn nun laut und deutlich verstehen konnte, würde er es sicherlich mitbekommen, sollten die Schlösser einrasten. Das wollte ich auf keinen Fall riskieren.
»Dieses Haus nicht«, rief ihm der andere Mann nach. »Dort wohnt die Vorsteherin. Beiße niemals die Hand, die dich füttert.«
Seine gedämpften Schritte verstummten kurz darauf direkt vor unserer Tür und mein Herzschlag verdoppelte sich beinahe.
»Geh du schon voraus«, rief er dem anderen Mann hinterher.
»Ich komme gleich nach.«
Ehrwürdiger Lichtgott, bitte nicht!
So schnell ich konnte, rannte ich durch die Küche und spurtete zum Eckschrank, dort versteckte ich mich rechts neben dem Waschplatz. Im Haus war es stockdunkel, mit etwas Glück würde er mich in der Nische nicht sehen.
Die Haustür wurde aufgeschoben, ganz langsam. Ich konnte spüren, dass mir alle Farbe aus dem Gesicht wich.
»Nicht abgeschlossen«, murmelte der fremde Mann, ehe er den Kopf zur Tür hereinsteckte. Seine gedämpfte Stimme klang in höchstem Maße erstaunt.
Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich einen Nordmann sehen, einen jener brutalen Monster, die unser Dorf überfielen und teilweise sogar unser Vieh gleich an Ort und Stelle abschlachteten.
Er war dabei in das Haus einzutreten. Und weil ich die Schlösser geöffnet hatte, ohne sie danach gleich wieder zu schließen, würde er damit auch keinerlei Schwierigkeiten haben. Nun gab es nichts mehr, was ihn aufhalten konnte.
Ich war einer Ohnmacht nahe. Was hatte ich nur getan?
Das Holz knarrte leise, als er die Haustür noch ein Stück weiter öffnete, bis er schließlich in voller Größe auf der Schwelle stand.
Schnee wehte herein, ein Schwall eisiger Kälte erreichte mich und ließ mich frösteln. In geduckter Haltung harrte ich in meinem Versteck aus, am ganzen Leib zitternd, und hoffte inständig darauf nicht entdeckt zu werden.
Der Mann blieb auf der Türschwelle stehen, seine aufrechte Körperhaltung wirkte angespannt wachsam. Bewaffnet mit einem Messer, das er in der rechten Hand trug, inspizierte er schweigend unsere Küche.
Trotz meiner übermächtigen Angst riskierte ich einen kurzen Blick in seine Richtung. Ich wollte ihn im Auge behalten.
Er war von Kopf bis Fuß in grauen Pelz eingehüllt und hatte eine Kapuze über den Kopf geschoben, sodass ich lediglich ein paar dunkle, stechende Augen erkennen konnte. Der Rest seines Gesichtes wurde von einem schwarzen Tuch verdeckt.
Die Farbe seiner Garderobe war gut gewählt, das musste ich zugeben.
Eine Mischung aus melierten Grautönen, durchzogen mit sehr viel Weiß und Schwarz. Dadurch wurde er in der eisigen Winterlandschaft, vor allem in den umliegenden Wäldern, beinahe unsichtbar.
Sollte ich das hier überleben, fuhr es mir schlagartig durch den Kopf, würde ich die Erste und Einzige in unserem Dorf sein, die jemals einen echten Nordmann gesehen hatte.
»Zeig dich«, forderte der Mann mit rauer Stimme. »Ich weiß, dass du hier bist. Komm raus.«
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der dünne Lichtkegel, den die aufgehende Sonne durch die geöffnete Haustür in unsere Wohnküche schickte, direkt bis zu der Ecke reichte, in der ich kauerte. Ich hätte mich zusammenrollen können wie ein Igel und wäre dennoch von ihm gesehen worden. Meine Gedanken überschlugen sich mehrfach.
Was sollte ich nur tun?
Vater hätte sicherlich gewusst, was in dieser Situation richtig gewesen wäre. Doch der schlummerte nebenan friedlich, er konnte mir nicht helfen.
Meine ganze Familie lag schlafend im Nebenzimmer, schoss mir durch den Kopf. Dem Monster hilflos ausgeliefert. Das alles nur, weil ich unbedingt diesen dämlichen Schnee hatte sehen wollen. Durch meine Schuld würde das Scheusal meine Familie abschlachten, genauso wie sie es mit unserem Vieh machten.
Vor lauter Panik war ich kaum noch in der Lage richtig zu atmen. Ich stand kurz vor einem Schock.
»Soll ich dich holen?«, fragte die finstere Stimme und man konnte deutlich die unterschwellige Drohung heraushören, die in seinen Worten mitschwang.
Mein Herz sackte in meine Magengrube, ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Wie in Zeitlupe richtete ich mich auf und kam aus meinem Versteck hervor.
Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit, das Unvermeidliche abzuwenden. Womöglich zeigte das Monster Mitleid, wenn ich ihn anflehte, mich und meine Familie in Ruhe zu lassen.
Der Mann war gut einen Kopf größer als ich, seine dunklen Augen fixierten mich unentwegt, während ich neben dem Esstisch stehen blieb und unsicher zu ihm aufschaute.
»Was machst du hier?«, fragte er barsch.
Zögernd öffnete ich meine Lippen.
»Bitte«, flehte ich. »Tu mir nichts.«
»Warum schläfst du nicht?«
»Ich bin aufgewacht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber ich weiß nicht warum.«
Seine rechte Hand umklammerte das Messer noch fester. »Einfach so?«
Ich nickte hastig.
»Und deine Familie?«, hakte er misstrauisch nach. Dabei wanderte sein Blick erneut durch unser Haus, scheinbar auf der Suche nach weiteren Bewohnern.
»Sie schlafen tief und fest«, versuchte ich die Situation zu entschärfen. »Ich bin die Einzige, die wach ist.«
Ob er mir tatsächlich glaubte, konnte ich anhand seines finsteren Blickes leider nicht einschätzen. Seine dunklen Augen wanderten wieder zu mir. Er betrachtete mich mit offensichtlicher Ablehnung, sagte jedoch nichts.
»Wo bist du?«, erscholl die aufgeregte Stimme seines Partners plötzlich unmittelbar vor dem Haus.
Ruckartig drehte er den Kopf zur Haustür.
Beinahe zeitgleich lief es mir eiskalt den Rücken runter. Wenn er dem anderen Mann verraten würde, was er in diesem Haus gefunden hatte, dann sank meine Hoffnung rapide, lebend aus dieser misslichen Lage herauszukommen, dessen war ich mir sicher.
»Bitte«, flehte ich erneut.
Sofort wandte er sich wieder mir zu und starrte mich an.
»Sag ihm nichts«, setzte ich verzweifelt nach. »Du kannst mitnehmen, was immer du willst, aber bitte, verrate mich nicht.«
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
Für wenige Augenblicke schöpfte ich Hoffnung. Vielleicht würde die aufwallende Gier in seinem Blick die Oberhand gewinnen. Er würde ein paar Schränke aufbrechen, und all das mitnehmen, was man leicht ersetzten konnte. Danach würde er unser Haus verlassen. Ganz bestimmt.
Doch er drehte den Kopf wieder Richtung Tür.
»Ich bin hier. Sieh dir an, was ich gefunden habe.«
Alles in mir erstarrte, als kurz darauf ein zweites Ungeheuer in unser Haus eindrang.
»Verdammt noch mal, Boran. Ich hatte gesagt, nicht dieses Haus.«
Der andere Mann war hörbar sauer.
»Warum fällt es dir so schwer, meine Anweisungen zu befolgen?«, setzte er nach. »Was habe ich dir immer und immer wieder eingeschärft? Warum kannst du nicht das tun, was ich ...«
Er unterbrach seine Schimpftirade, als er mich erblickte. Seine dunklen Augen wurden riesengroß, während er mich unaufhörlich anstarrte.
»Na, was haben wir denn da?«
Meine Knie wurden weich, ich taumelte.
»Hab sie so gefunden«, gab der Erste zu Protokoll. »Weiß die Schattengöttin, was die hier verloren hat.«
Der zweite Nordmann musterte mich ausgiebig. Auch er trug eine Kapuze und ein Tuch vor dem Mund. Anhand der kleinen Fältchen, die sich um seine Augen bildeten, während er mich betrachtete, konnte ich davon ausgehen, dass er einige Sommer älter war als sein Begleiter.
»Was sollen wir mit ihr machen?«, fragte der Jüngere.
»Sie könnte uns verraten«, gab er zu bedenken, als der zweite Nordmann nicht gleich antwortete. Hastig schüttelte ich den Kopf.
»Ich verrate niemandem etwas, darauf gebe ich euch mein Wort.«
Ich musste es wenigstens versuchen, ich musste sie unbedingt loswerden!
Der zweite Mann betrat nun endgültig das Haus und drückte die Tür hinter sich ins Schloss, was meine Angst und Nervosität noch weiter ansteigen ließ.
»Was meinst du«, begann er kaum hörbar, »Wie viel ist das Wort einer Südtochter wert?«
Offensichtlich wollte er sich über mich lustig machen.
»Nicht sehr viel«, ging der andere Mann sofort darauf ein. »Wenn ich so darüber nachdenke ... ihr Wort ist rein gar nichts wert.«
Wie konnte er so etwas sagen? Er kannte mich doch überhaupt nicht.
»Mein Wort ist sehr viel wert«, ging ich entschlossen dazwischen. Angst hin oder her, das würde ich nicht auf mir sitzenlassen. »Wenn ich verspreche, niemandem davon zu erzählen, so halte ich mich auch daran. Oder wird so etwas bei euch anders gehandhabt? Hält man sich dort, wo ihr herkommt, etwa nicht an seine Versprechen?«
Natürlich hätte ich mir den letzten Satz sparen können. Das waren Wilde, ohne Gewissen und Ehre. Nordmänner der schlimmsten Sorte. Die würden sich ganz bestimmt nicht an irgendwelche Abmachungen halten. Dennoch musste ich alles versuchen, um meine Familie zu beschützen.
Mit Gewalt verdrängte ich meine Furcht, setzte eine unschuldige Miene auf und brachte sogar ein harmloses Lächeln zustande.
»Ich werde ganz bestimmt niemandem etwas von unserer Begegnung erzählen«, schwor ich mit fester Stimme und hoffte inständig, dass es ausreichen würde, um die beiden Männer zu überzeugen.
Nach einem kurzen Blickwechsel mit seinem Partner schaute mich der jüngere Mann eindringlich an.
»Das möchte ich dir auch geraten haben«, drohte er mit erhobenem Messer. »Sonst stehe ich im nächsten Winter wieder vor der Tür, zerre dich aus deinem weichen Bett und schlachte dich und deine Familie genauso schnell ab wie euer Vieh. Darauf hast du MEIN Wort.«
Ich schluckte erschrocken. Das hatte gesessen.
Er nickte, scheinbar zufrieden mit der Gesamtsituation.
Schließlich drehte er sich zur Seite, legte seine Hand auf den Riegel und war gerade dabei unsere Haustür zu öffnen, als ihn der andere davon abhielt.
»Was ist?«, wollte der junge Nordmann wissen. »Wir müssen los, die anderen warten auf uns.«
Mir schien, als würde eine kleine Ewigkeit vergehen, ehe der Mann endlich eine Reaktion zeigte. Seine Schultern strafften sich, sein Blick wanderte zielstrebig in meine Richtung.
»Warte kurz«, zischte er.
»Uns bleibt keine Zeit mehr«, hielt der andere entschieden dagegen.
Ganz offensichtlich schien er der Vernünftigere von beiden zu sein, wenn ich mir auch nur schwerlich vorstellen konnte, dass es bei denen überhaupt so etwas wie Vernunft gab.
Der Ältere erhob seine Stimme: »Wir könnten sie mitnehmen.«
Einer Panikattacke nahe, schüttelte ich hektisch den Kopf. Immer und immer wieder.
Seine Aussage bescherte mir solche Angst, dass ich nichts und niemandem jemals von dieser Begegnung erzählen würde. Ich wollte einfach nur in mein Bett zurück, die Augen schließen und alles so schnell wie möglich vergessen.
»Wir nehmen sie mit«, sagte der ältere Nordmann plötzlich und kam auf mich zu, in der Hand ein Stück Leinen.
Ehe ich realisierte, was er vorhatte, wurde mir das Stück Stoff in den Mund gestopft.
Danach ergriff er meine Arme, zog meine Hände nach hinten und fesselte sie mir auf dem Rücken.
Völlig hysterisch geworden, versuchte ich zu schreien und trat gleichzeitig nach meinem Angreifer, was ihn jedoch kaum zu stören schien.
»Halt’s Maul«, zischte er drohend, erhob seine Hand und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht.
»Mach die Tür hinter uns zu«, kommandierte er den zweiten Nordmann, während er mich ohne Schwierigkeiten über seine Schulter warf und nach draußen trug.
Unser stetig kleiner werdendes Haus war das Letzte, was ich sah.
Tränen, die unaufhörlich über mein Gesicht liefen, verschleierten meinen Blick – und endlich erlöste mich die Bewusstlosigkeit, die mich heute schon so oft hatte übermannen wollen.
3
Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Und direkt daneben, wie ich verwundert feststellte, der Mond.
Sonne und Mond, zur gleichen Zeit am Himmel.
Solch ein Schauspiel gab es ganz offensichtlich nur im Winter zu bewundern, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, schon einmal so etwas Eindrucksvolles gesehen zu haben.
Ein paar Mal blinzelte ich, um meinen Verstand einzuschalten, der noch immer von einer dichten Nebelwolke umfangen schien. Ganz allmählich klärten sich meine Sinne.
Ich lag im Schnee, mit dem Gesicht zur Seite gedreht. Meine Hände waren nun vor meinem Bauch gefesselt, nicht mehr auf dem Rücken. Der Schnee unter mir kühlte meine geschwollene Wange und ließ den Schmerz erträglicher werden, der beinahe zeitgleich mit meinem Bewusstsein erwachte. Vorsichtig versuchte ich den Kopf anzuheben, damit ich besser sehen konnte.
Unweit von mir hockten meine beiden Entführer um ein Lagerfeuer herum, zusammen mit anderen Männern.
Das müssen mindestens zwanzig Nordmänner sein, fuhr es mir durch den Kopf.
Mein Blick schweifte ab, ich versuchte mir ein Bild von der Umgebung zu machen. Doch schon kurz darauf blieben meine Augen an der dunkelroten Stelle im Schnee hängen, kaum drei Fuß von mir entfernt.
Mein Magen drohte zu rebellieren. Blut.
Der Schnee war blutdurchtränkt. Leichte Nebelschwaden stiegen empor und die Wärme des Blutes vermischte sich mit der eisigen Kälte.
Der Geruch von warmem Fleisch, gepaart mit literweise frisch vergossenem Blut, stieg mir in die Nase und brachte mich augenblicklich zum Würgen.
Meinen Kopf zur anderen Seite drehend, um dem Gestank zu entgehen, entdeckte ich unmittelbar neben mir einen riesigen Haufen abgetrennter Tierköpfe. Mit hervorgequollenen Augen und Zungen, die weit aus ihren Mäulern hingen, starrten mich ihre toten Überreste anklagend an.
O nein...
Einer weiteren Ohnmacht nahe, versuchte ich den Blick auf etwas anders zu fokussieren, um meinen aufgewühlten Magen abzulenken.
Der Rastplatz glich einem Schlachtfeld, überall entdeckte ich blutige Fußspuren und an einigen Stellen dampften Berge von frischen Eingeweiden.
Die armen Tiere.
Stumme Tränen sammelten sich in meinen Augen. Noch nie zuvor hatte ich etwas derart Grausames gesehen. Der Schauplatz dieser Brutalität übertraf alles, was ich bisher erblickt hatte.
Meine Reflexe ließen sich nicht länger unterdrücken, da mir eine weitere Wolke mit dem Geruch frischen Blutes entgegenwehte.
Ich begann heftig zu würgen.
Einer der Männer drehte sich in meine Richtung.
»Sie ist wach«, stellte er emotionslos fest. »Und wenn ihr nicht wollt, dass sie erstickt, würde ich an eurer Stelle schnellstens den Knebel entfernen, weil sie gleich kotzt.«
Der Mann, der mir ins Gesicht geschlagen hatte, fluchte laut und schamlos. Sichtlich genervt erhob er sich von seinem Rastplatz und steuerte auf mich zu. Mit einem gekonnten Handgriff lockerte er den Knebel und zog ihn runter.
Keinen Moment zu früh.
Ich würgte alles hoch, was sich in meinem Magen befand:
eine Handvoll aufgeweichter Kekse, gemischt mit den Überresten der Honigdrops und einen großen Schwall Magensäure – was ein fürchterliches Brennen in meinem Hals verursachte.
»Das ist ja widerlich«, beklagte sich der Mann lachend.
Die anderen Männer stimmten in sein Gelächter ein, erhoben sich von ihren Plätzen und bildeten einen lockeren Halbkreis um mich, während sie vergnügt dabei zuschauten, wie ich den letzten Rest Keksbrei hochwürgte.
»Bist du fertig?«, fragte mich mein Peiniger, nachdem ich endlich alles erbrochen hatte.
Er ging in die Hocke und griff nach dem Knebel, doch ein anderer Mann mischte sich ein.
»Wir sind ewig weit weg vom Dorf«, gab er an. »Selbst in dem Fall, dass sie versuchen würde aus Leibeskräften zu schreien, kann sie hier niemand hören. An deiner Stelle würde ich den Knebel weglassen, nur für den Fall, dass sie nochmal kotzt.«
Die Männer lachten wieder und der andere Kerl richtete sich auf, ohne mir das eklige Stückchen Leinen wieder in den Mund zu stopfen. Überlegend betrachtete er mich eine Weile, zuckte schließlich mit den Schultern, drehte sich um und folgte der Gruppe zum Lagerfeuer.


