Über die Textgeschichte des Römerbriefs

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Alexander Goldmann
Über die Textgeschichte des Römerbriefs
Neue Perspektiven aus dem paratextuellen Befund
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie die Sächsische AufbauBank (SAB).
© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
Print-ISBN 978-3-7720-8709-7
ePub-ISBN 978-3-7720-0106-2
meinen Eltern
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertationsschrift im Fach Evangelische Theologie angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet.
Herzlicher Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Klinghardt, der mich bereits während des Studiums förderte und mir nach dem Examen die Möglichkeit eröffnete, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Biblische Theologie zu forschen. Während einer mehrjährigen Unterbrechung meiner Studien aufgrund des Referendariats sowie der anschließend beginnenden Tätigkeit im Schuldienst, hielt er an mir fest und gab mir die Möglichkeit, meine Untersuchungen zu späterer Zeit im Rahmen des Forschungsprojekts TENT („Der Text der Erstedition des Neuen Testaments“) fortzusetzen. Seine Ideen brachten den Stein ins Rollen, seine Denkanstöße hielten ihn am Laufen, sein Vertrauen motivierte mich, das Projekt zu Ende zu bringen.
Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang auch der Sächsischen Bildungsagentur sowie der Schulleitung des Romain-Rolland-Gymnasium Dresden, die dies durch eine Reduzierung meines Deputats möglich machten. Ebenso sei dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus (SMWK) sowie der Sächsischen AufbauBank (SAB) für die Finanzierung des Projekts TENT gedankt.
Herrn Professor Dr. Günter Röhser (Bonn) danke ich vielmals für die Übernahme des Zweitgutachtens, v. a. aber für die gewissenhaften und stets wohlwollenden Korrekturhinweise.
Den Herausgebern der „Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter“ sei für die Aufnahme in die Reihe gedankt.
Als Projektleiter TENT bin ich Dr. Jan Heilmann in besonderem Maße verbunden. Seine geduldigen Hinweise und seine sehr produktorientierte Betreuung war für die Fertigstellung der Arbeit von unschätzbarem Wert. Ebenso danke ich den TENT-Kollegen Tobias Flemming, Daniel Pauling, Kevin Künzl und Frido Wegscheider sowie Nathanael Lüke, Katharina Degen, Juan Garcés und Jens Schuster. Sie lieferten zahlreiche fachliche Hinweise und Anregungen, die für das Gesamtwerk von kaum zu überschätzender Bedeutung waren.
Für das Korrekturlesen bin ich Adriana Zimmermann und Andreas Glaubitz zu großem Dank verpflichtet. Jedwede Fehler und Unzulänglichkeiten sind nach ihrer Lektüre in das Manuskript gerutscht und ausschließlich mir zuzuschreiben.
Den bedeutendsten Beitrag an diesem Forschungsprojekt leistete meine Familie, v. a. meine Partnerin Romy Schneider, die mir während des langwierigen Arbeits- und Schreibprozesses unter nicht immer einfachen Rahmenbedingungen stets den Rücken frei hielt. Ohne ihre uneigennützige Entlastung, Nachsicht und Geduld hätte diese Arbeit keinesfalls fertig gestellt werden können.
Dresden, im November 2020 Alexander Goldmann
I. Hinführung und Motivation
Der Schluss des Römerbriefs – ein unübersichtliches Problemfeld
„In den letzten 60 Jahren hat die Handschriftenkunde, Paläographie und Kunstgeschichte einen großen Aufschwung genommen; die textgeschichtliche Forschung ist demgegenüber etwas zurückgeblieben. Daher können hier weniger fertige Ergebnisse dargeboten werden, als vielmehr ungelöste Fragen und Probleme. Vielleicht locken sie neue Kräfte auf dieses Gebiet, das nur dem Unkundigen oder Anfänger als trockene Wüste erscheint.“1
Diese Einschätzung des ausgewiesenen Experten der Textgeschichte und -kritik des Neuen Testaments und langjährigen Leiters des Beuroner Vetus-Latina-Instituts Bonifatius FISCHER liegt nun schon mehr als drei Jahrzehnte zurück. Seitdem hat die Forschung durchaus wichtige Schritte unternommen und bemerkenswerte Weiterentwicklungen erfahren, doch zweifelsohne sind einige Fragen ungelöst und Probleme offen geblieben. Ein solches Problem birgt der neutestamentliche Römerbrief.
Folgt man dem Urteil der Herausgeber der gängigen kritischen Textausgaben, umfasst der Brief 16 Kapitel. Den Abschluss bildet dabei eine umfangreiche Doxologie. Doch schon ein kurzer Blick in die Apparate lässt erkennen, dass diese beiden Entscheidungen der Textkritiker (der Brief beinhaltet 16 Kapitel und endet mit einer Doxologie) keineswegs auf sicherem Fundament stehen.
Die handschriftliche Überlieferung des umfangreichsten der paulinischen Briefe weist an dessen Ende im Rahmen der Schriften des Neuen Testaments eine beispiellose Vielzahl an Varianten auf. Als unbestrittenes Schwer(st)gewicht der neutestamentlichen Textforschung identifizierte Kurt ALAND bzgl. des Briefschlusses insgesamt vierzehn (!) verschiedene Textformen und beschrieb das daraus resultierende Problem als das „schwierigste (…), welches der neutestamentlichen Textkritik überhaupt gestellt ist.“2 Zu klären ist in erster Linie, welche dieser Textformen den Ausgangspunkt der Überlieferung – den Archetyp – darstellt. Ferner muss danach gefragt werden, wie die verbleibenden bezeugten Textformen entstehen konnten, genauer: wie sie genealogisch miteinander zusammenhängen.
Die genannten Fragen fundieren das Problemfeld der Textgeschichte des Römerbriefschlusses, welches von Donatien de BRUYNE sogar als „das meistdiskutierte und dennoch das undurchsichtigste des gesamten Neuen Testaments“3 bezeichnet wurde. Solch kühne Einschätzungen (Aland, de Bruyne) hinterlassen Spuren und fordern heraus. Sie fordern heraus, das Problemfeld zu betreten. Sie fordern heraus, die herkömmlichen Lösungsmodelle zu durchdenken, dabei aber stets die Augen für neue Wege offenzuhalten.
Zunächst ist zu klären, was das besagte Problemfeld eigentlich bedeutsam macht: Ungeachtet der Notwendigkeit, die einzelnen handschriftlich bezeugten Textformen in einem umfassenden Entstehungsmodell zu integrieren, bleibt der übergeordnete, strittige Punkt, ob der Brief des Paulus an die Römer ursprünglich 16, 15 oder gar nur 14 Kapitel beinhaltete.4 Alle drei Optionen sind im Hinblick auf den handschriftlichen Befund denkbar.5 Würde man das 16. Briefkapitel als sekundäre Interpolation verstehen, hätte das einigermaßen weitreichende Konsequenzen – nicht nur für die historische Paulusforschung. Bedeutsame Informationen hinsichtlich des Abfassungsorts sowie des Briefschreibers würden in neuem Licht erscheinen, ebenso die sozialgeschichtlich wertvollen Details über Struktur und Zusammensetzung der frühen christlichen Gemeinde in Rom. Nicht minder schwer wiegen die Schlüsse, die eine Abtrennung des 15. Kapitels vom ursprünglichen Briefkorpus mit sich brächte; Aussagen über das missionarische Selbstverständnis des Paulus (15,14–21), seine Reisepläne nach Spanien (15,22ff), seine Unruhe vor dem Hintergrund der Kollektenübergabe in Jerusalem (15,25–28.31) sowie die daraus resultierende Motivation des gesamten Schreibens müssten neu bewertet werden. Zu beachten ist außerdem, dass sich in Rm 15 auch der einzige literarische Hinweis innerhalb des Corpus Paulinum befindet, dass die Geldsammlung erfolgreich (d.h. hinreichend ertragreich) war und Paulus sie folglich wirklich in Jerusalem abzuliefern gedachte, wie es der Darstellung der Passionsgeschichte des Paulus in der Apostelgeschichte entspricht. Denn ohne die Kenntnis von Rm 15 wären für den Leser all jene Passagen, in denen in der Apostelgeschichte die Kollekte angedeutet wird, nur schwer verständlich.
Der umfangreiche forschungsgeschichtliche Befund zu der Thematik weist methodisch zwei zu differenzierende Stoßrichtungen auf: Einerseits werden literarkritische, also interne Phänomene in den Blick genommen, andererseits spielt – wie bereits erwähnt – der textkritische Befund (also die externe Bezeugung des Briefes) eine entscheidende Rolle. Um zu einer plausiblen Lösung der genannten Fragen zu gelangen, ist es zweifelsohne geboten, beide Blickrichtungen in angemessener Weise zu berücksichtigen,6 wenngleich der Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen die handschriftliche Bezeugung bleibt.7
Der Blick in die Forschungsgeschichte zur Problematik des Römerbriefschlusses macht deutlich, dass es in jüngerer Zeit immer wieder Versuche gegeben hat, das Problemfeld auf die alleinige Frage nach dem ursprünglichen Briefumfang (14, 15 oder 16 Kapitel) zu reduzieren.8 In diesem Zuge muss DU TOITs Hinweis „to avoid getting bogged down by less important detail“9 deutlich widersprochen werden, denn eine solche Reduktion kann der Komplexität der Materie schlicht nicht ausreichend gerecht werden. Mitnichten handelt es sich bei Varianten innerhalb der handschriftlichen Überlieferung um ‚unbedeutende Details‘. Vielmehr geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass das Problem des ursprünglichen Briefumfangs gar nicht unabhängig von der Frage nach dem genealogischen Zusammenhang der einzelnen Textformen geklärt werden kann. Nur eine auf diesem Weg gewonnene Lösung würde auf einem hinreichend tragfähigen Fundament fußen.
Es ist daher unbedingt geboten, alle (!) handschriftlich bezeugten Variationen des Briefschlusses zu berücksichtigen und genealogisch miteinander in Beziehung zu setzen. Bezüglich des Römerbriefschlusses liegen die in diesem Zuge entstandenen Stemmata10 allerdings auch schon einige Jahrzehnte zurück und man muss feststellen, dass in jüngeren Studien in der Regel schlicht auf jene in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelten „Stammbäume“ verwiesen wird11 bzw. diese geringfügig modifiziert übernommen werden.12 Die vorliegende Arbeit setzt sich also zum Ziel, hier eine Neubestimmung zu wagen.
Um den besagten Themenkomplex zu bearbeiten sind zunächst einige Vorüberlegungen notwendig:
1 Das Problem des Schlusses des Römerbriefs kann nicht losgelöst von den restlichen textkritischen Schwierigkeiten des Briefes bearbeitet werden.13 Insbesondere der Grundansatz des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster (INTF) ist noch immer stark von der von Kurt ALAND als lokal-genealogische Methode bezeichneten Vorgehensweise14 geprägt, jede Stelle, an der Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auftreten, einzeln auszuwerten und zu beurteilen.15 Diese Herangehensweise läuft Gefahr aus den Augen zu verlieren, dass die Phänomene zueinander in Verbindung stehen könnten.16 Darüber hinaus impliziert sie eine grundsätzliche Gleichartigkeit der einzelnen Varianten, d.h. es wird nicht unterschieden, um welche Arten von Textveränderungen es sich handelt.17 So rechnet die aktuelle Erweiterung der LGM, die sog. kohärenzbasierte genealogische Methode (CBGM)18, weiterhin v. a. mit zufälligen, nicht-intentionalen Veränderungen durch einzelne Schreiber, die völlig unabhängig voneinander geschehen. Dies mag für kleinere Varianten (mit denen es die Textkritik mehrheitlich ja auch zu tun hat) noch anwendbar erscheinen, aber bei solch umfangreichen Abschnitten, wie sie am Schluss des Römerbriefes fehlen (Kap 15f bzw. Kap 16) oder in ihrer Stellung variieren (Doxologie Rm 16,25–27), scheint eine solche Vorstellung und die daraus resultierende Methode nicht übertragbar. Hier ist es dagegen plausibel – pointiert könnte man vielleicht sogar sagen, dass es die textkritische Vernunft gebietet –,19 auch die Möglichkeit von redaktionellen Textveränderungen (also solchen Änderungen, die reflektiert und intentional geschehen)20 zuzulassen.21 Erst dann wird es möglich, bisher unabhängige Phänomene miteinander in Verbindung zu setzen und somit zu überzeugenderen Lösungen zu kommen. Die Arbeit wird deutlich machen, dass das Problem des Römerbriefschlusses nur zufriedenstellend zu lösen ist, wenn man die Textgeschichte des gesamten Briefes in den Blick nimmt, wenn man also die einzelnen Phänomene überlieferungsgeschichtlich miteinander in Beziehung setzt.
2 Die Textgeschichte des Römerbriefes wiederum ist nicht unabhängig von der Textgeschichte des Corpus Paulinum zu ergründen. Denn wie sämtliche paulinischen Briefe ist auch der Römerbrief in allen uns bekannten Zeugnissen und Manuskripten nie als einzelner Brief überliefert, sondern stets als Teil einer Sammlung von Paulusbriefen. Um das Rätsel des Römerbriefes zu entschlüsseln, muss man daher die Genese der Paulusbriefsammlung betrachten.22 Ausgangspunkt der neutestamentlichen Textüberlieferung der Paulusbriefe sind also stets Briefsammlungen23 und nicht die Fassungen der dokumentarischen Paulusbriefe, die möglicherweise im 1. Jh. geschrieben und an die Gemeinden verschickt wurden – Letztere sind schlichtweg unbekannt. Natürlich gehen Briefsammlungen in der Regel auf Autographa (also die ursprünglichen, dokumentarischen Texte) zurück, doch hat TROBISCH ausführlich herausgearbeitet, dass sie in solchen Fällen stets redaktionelle Bearbeitungen erfahren.24
Die Vorstellung, dass es möglich ist, den „ursprünglichen“ Römerbrief zu rekonstruieren, ist aufgrund unserer vorhandenen Zeugnisse sehr kritisch zu betrachten. Doch auch das vordergründige Ziel der CBGM, die Suche nach dem Ausgangstext (initial text), d.h. derjenigen Textform, die den Beginn der Textüberlieferung darstellt,25 ist wiederum insofern problematisch, als die Methode gewissermaßen einen eklektischen Text liefert, der in seiner Gesamtheit mit keinem bekannten Manuskript identisch ist.26 Die Frage, welches Manuskript bzw. welche tatsächlich bezeugte Textform (die wiederum Teil einer konkreten Briefsammlung sein müsste) den Ausgangspunkt (also den Archetyp) der Überlieferung darstellt, darf nicht ignoriert werden. Dazu bemerkt TROBISCH:
„Present editions of the New Testament are so focused on the text line, the initial text, that the larger picture is easily missed.“27
Es geht also um die Frage nach dem textkritischen Ansatz: die historische und textliche Rekonstruktion von Briefsammlungen muss vor der Rekonstruktion der konkreten textkritischen Archetypen der einzelnen Briefe stehen.28 So fordert SCHMID zu Recht:
„The unusual textual tradition of Paul’s letter to the Romans has to be interpreted within the history of the Corpus Paulinum as a collection.“29
In diesen einleitenden Überlegungen kamen drei Einsichten zur Sprache, die das Problemfeld der vorliegenden Studie fundieren:
1 Die bisherige methodische Herangehensweise und Zielstellung der textkritischen Arbeit greift zu kurz. Ein synthetisch hergestellter, eklektischer Ausgangstext, auf den alle anderen Textformen zurückgehen sollen, kann – losgelöst von jeglichen überlieferungsgeschichtlichen Aspekten – kaum historische Plausibilität beanspruchen.
2 Der methodische Ansatz der CBGM, in der Regel hauptsächlich von zufälligen und voneinander unabhängigen Eingriffen in die Texte auszugehen, um die Entstehung einer solchen Vielzahl an Textvarianten zu erklären, die das Neue Testament bietet, genügt nicht. Die Anbindung der Textgeschichte an ein historisch plausibles, überlieferungsgeschichtliches Modell bleibt unumgänglich und muss v. a. klar benannt werden. Tatsächlich wird auch die Methodik der CBGM von impliziten, überlieferungsgeschichtlichen Grundannahmen getragen.30 Da diese aber mit einiger Wahrscheinlichkeit z.B. für die Offenbarung31 wie auch für die Evangelien32 nicht zutreffen, kann dies zu falschen Entscheidungen führen33 und erfordert zumindest eine Modifikation des zugrunde liegenden Überlieferungsmodells.34
3 Weiterhin wurde deutlich, dass nicht der historische Römerbrief (also das Autographon) rekonstruiert werden kann, sondern der Römerbrief als Teil einer Schriftensammlung, nämlich des Corpus Paulinum, also einer Sammlung35 von Paulusbriefen. Die verfügbaren Handschriften bezeugen allesamt eine Sammlung von Texten (bzw. Teile davon), niemals aber nur einen einzelnen Brief. In seiner jüngsten Studie fordert FLEMMING daher zu Recht:
„Neutestamentliche Textkritik sollte demnach als Editionskritik stattfinden, d.h. stets die Existenz verschiedener Ausgaben der biblischen Texte mitdenken. Gerade für die Paulusbriefe ist ein solcher Fokus auf Ausgaben von Texten besonders naheliegend, weil uns diese ausschließlich in Form von Briefsammlungen überliefert sind.“36
Es ergibt sich also die Einsicht, dass die Frage der Textgeschichte des Römerbriefes nur editionsgeschichtlich gelöst werden kann.37 Daher ist zu fragen, ob der Römerbrief im Rahmen der Editionsgeschichte Veränderungen erfahren hat und redaktionell bearbeitet wurde.38 Die vorweggenommene Antwort der vorliegenden Studie lautet: der heute bekannte Römerbrief ist tatsächlich ein umfangreich interpolierter Text. Das methodische Vorgehen, das zu dieser Einsicht führt, wird im Folgenden dargestellt und erklärt.
II. Methodologische Reflexion
2.1. Die belegbaren Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jh.
Die Zugehörigkeit der Paulusbriefe zum Neuen Testament (respektive zum neutestamentlichen Kanon) war nie in irgendeiner Form umstritten. Es scheint klar, dass sie von Anfang an als verbindliche Schriften verstanden und verwendet wurden.1 Zu klären ist allerdings, welche verschiedenen Sammlungen von Paulusbriefen im 2. Jahrhundert existierten2 und wie diese ausgesehen haben, v. a. welchen Umfang sie hatten. Die Sammlungen sind nach ihrem jeweiligen terminus ad quem geordnet.
2.1.1. Die 10-Briefe-Sammlung – der Marcionitische Apostolos
Die früheste Sammlung von Paulusbriefen,1 über deren Existenz wir gesicherte Informationen besitzen, ist eng mit dem Namen Marcion von Sinope verbunden, einem Reeder aus Pontus an der südlichen Schwarzmeerküste.2 Belegt ist, dass dieser in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts eine Schriftsammlung benutzte, die ein namenloses Evangelium (welches bekanntermaßen eine Kurzversion des Lukasevangeliums war) sowie zehn Paulusbriefe umfasste. Diese 10-Briefe-Sammlung trug die Bezeichnung Apostolos und beinhaltete die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief nicht. Als terminus ad quem dieser Edition kann Marcions Ausschluss aus der römischen Gemeinde gelten, der ins Jahr 144 datiert wird.3
Spätestens seit Irenäus von Lyon galt Marcion als der „Erzketzer“ schlechthin, seine Schriften als Verfälschungen und Verstümmelungen der eigentlichen (katholischen) Texte.4 Es mag daher nicht überraschen, dass von der besagten marcionitischen Bibelausgabe keinerlei Exemplare die Zeiten überdauert haben. Wenngleich also keine direkten Zeugnisse des Textes mehr existieren, so liegt doch eine umfangreiche metatextuelle Beschreibung5 des Textes durch die altkirchlichen Häresiologen vor, so v. a. durch Tertullian,6 Epiphanius7 und Adamantius8. In ihren polemischen Schriften diskreditieren sie Marcions kurzen Bibeltext als perfide Fälschung. Die inhärente Strategie dieser Streitschriften war es, Marcion auf Grundlage seines eigenen Textes zu widerlegen.9 Dazu hatten die Häresiologen Marcions Bibeltext vor sich liegen, den sie der Reihe nach durchgingen und an ausgewählten Stellen in wünschenswerter Ausführlichkeit kommentierten. Damit prägten sie zwar einerseits nachhaltig das Verständnis Marcions als Schriftfälscher des frühen Christentums, andererseits erlaubt ihre Vorgehensweise (ungewollt), Marcions Bibeltext mit hinreichender Sicherheit wiederherzustellen. Durch diese metatextuelle Bezeugung haben wir also Zugriff auf die besagte 10-Briefe-Sammlung und sind in der Lage, die Reihenfolge, den Umfang und an vielen Stellen auch den genauen Wortlaut der einzelnen Texte zu rekonstruieren.10
Wie das Zeugnis der Häresiologen zeigt, besaß die 10-Briefe-Sammlung folgende Anordnung: Gal, 1/2 Kor, Rm, 1/2 Thess, Laod (= Eph), Kol, Phil, Phlm11 bzw. Phlm, Phil.12 Auffällig ist die Position des Galaterbriefes, der an erster Stelle der Sammlung steht, sowie die Tatsache, dass der heutige Epheserbrief als Brief an die Laodizener tituliert wird.13
Fazit: Die Existenz der 10-Briefe-Sammlung kann für das 2. Jahrhundert als gesichert angesehen werden. Ob sie tatsächlich auf Marcion zurückgeht, wurde in der jüngeren Forschung immer wieder in Frage gestellt. Stattdessen wird Marcion vermehrt als Tradent eines bereits bekannten denn als Urheber eines eigenen Textes verstanden.14 Dies sollte auch in der Beschreibungssprache deutlich werden. Hier erscheint es angemessen, die Bezeichnung marcionitisches Evangelium bzw. marcionitische Paulusbriefsammlung zu vermeiden, da diese Termini implizieren, Marcion tatsächlich als Schöpfer dieser Texte bzw. Textsammlungen zu verstehen.15 In der vorliegenden Arbeit wird daher vornehmlich die neutrale Bezeichnung 10-Briefe-Sammlung benutzt. Gleiches gilt für den Römerbrief innerhalb der Sammlung: Dieser wird hier zumeist als 10Rm oder aber durch Marcion bezeugter bzw. verwendeter Römerbrief bezeichnet.16 Werden zu Zwecken der Textrekonstruktion die häresiologischen Zeugnisse bemüht, so ist auch hier die Rede vom 10Rm, selbst wenn die Kirchenväter sich freilich mit einem Text auseinandersetzen, den sie selbst Marcion zuschreiben. Anders gesagt: In der vorliegenden Arbeit wird der Text, auf den sich die Häresiologen in ihren Schriften gegen Marcion beziehen – also der marcionitische Apostolos –, mit dem Text der 10-Briefe-Sammlung gleichgesetzt. Dass dieses Vorgehen methodisch legitim ist, wird in Kap. 4.2. belegt.
2.1.2. Die 14-Briefe-Sammlung
Der zweite ‚Fixpunkt‘ im Rahmen der Entstehungsgeschichte des Corpus Paulinum ist die 14-Briefe-Sammlung. Sie beinhaltet all jene 14 Texte, die auch in den heute gängigen Ausgaben des Neuen Testaments als Paulusbriefe erscheinen. Zusätzlich zu den aus der 10-Briefe-Sammlung bekannten Texten enthält sie also noch die Pastoralbriefe und den Hebräerbrief.
Ihr terminus ad quem lässt sich schwerer bestimmen als der der 10-Briefe-Sammlung. Einzelne Bezugnahmen auf Paulusbriefe bzw. allgemein eine Sammlung von Paulusbriefen1 finden sich zwar bereits im zweiten Petrusbrief (2 Petr 3,15f)2, bei Polykarp von Smyrna (Polyk 3,2)3 und in den Ignatiusbriefen (IgnEph 12,2)4. Diese sind allerdings zu fragmentarisch, um daraus valide Rückschlüsse zu ziehen, dass hier bereits eine Briefsammlung im Hintergrund steht, bzw. welche konkrete Gestalt und welchen Umfang eine solche hatte.5
Tatsächlich kann das Vorhandensein der 14-Briefe-Sammlung erstmals für Irenäus wahrscheinlich gemacht werden. Dieser liefert zwar keine expliziten Hinweise über den Umfang der Sammlung (beispielsweise in Form einer konkreten Auflistung), allerdings zitiert er aus (fast) allen heute bekannten Paulusbriefen. Die meisten der Briefe bezeugt Irenäus sogar namentlich – ein deutliches Indiz dafür, dass er eine entsprechende Briefsammlung vorliegen hatte.6 Einzig der Philemonbrief findet in Irenäus’ Texten keine Erwähnung, was freilich aufgrund seines knappen Umfangs und seiner geringen theologischen Bedeutung nicht allzu überraschend anmutet. Darüber hinaus wird auch aus dem Hebräerbrief nicht explizit zitiert. Allerdings finden sich diverse Anspielungen auf dessen Inhalt, sodass in der Forschung davon ausgegangen wird, dass Irenäus davon Kenntnis besaß und er ihn als Teil des Corpus Paulinum verstand.7 Somit ist es folgerichtig, Irenäus als ersten Zeugen der 14-Briefe-Sammlung anzusehen. Der terminus ad quem kann also gegen Ende des 2. Jahrhunderts datiert werden.8