Über die Textgeschichte des Römerbriefs

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Den nächsten, klaren Beleg für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung liefert Origenes in seinen Predigten zum Buch Josua. Zwar ist der Text heute nur noch durch die lateinische Übersetzung des Rufin bezeugt, doch konnten etwaige Zweifel an der Zuverlässigkeit der Übersetzung9 zuletzt plausibel widerlegt werden.10 Das verlorene griechische Original, das der lateinischen Übersetzung zugrunde liegt, wird um 250 datiert.11 Der Text lautet wie folgt:12
Zuletzt folgt jener, der sagt: „Ich glaube aber, Gott hat uns Apostel als die letzten hingestellt“ [1 Kor 4,9] und mit dem Schall seiner vierzehn Trompeten in Gestalt seiner Briefe warf er die Mauern Jerichos bis in ihre Grundfesten nieder und alle Werke des Götzendienstes und alle Lehren der Philosophen. Novissimus autem ille veniens, qui dixit: ‚Puto autem, nos Deus apostolos novissimos ostendit‘ et in quatuordecim epistolarum suarum fulminans tubis muros Hiericho et omnes idolatriae machinas et philosophorum dogmata usque ad fundamenta deiecit.Orig. Hom. Jos. 7,1
Origenes predigt hier über den Fall Jerichos und vergleicht in diesem Zuge die Briefe des Paulus mit 14 Trompeten, welche die Mauern der Stadt zum Einsturz gebracht haben – ein deutlicher Rekurs auf die 14-Briefe-Sammlung. Darüber hinaus zitiert Origenes in seinen umfangreichen Werken häufig aus allen (14) Paulusbriefen. Sogar der Philemonbrief als auch der Hebräerbrief machen hier keine Ausnahme. Mit ziemlicher Sicherheit kann man also davon ausgehen, dass Origenes die 14-Briefe-Sammlung des Paulus nicht nur kannte, sondern er ihr auch eine überaus hohe Autorität zumaß.
Auch Eusebius’ Aussage in Hist. Eccl. 3,3,513 belegt in wünschenswerter Deutlichkeit die Kenntnis der 14-Briefe-Sammlung:
Die offenkundigen und eindeutigen [Briefe] des Paulus sind vierzehn. τοῦ δὲ Παύλου πρόδηλοι καὶ σαφεῖς αἱ δεκατέσσαρες.Euseb. Hist. Eccl. 3,3,5
Spätere Belege für die Konstanz der Sammlung liefern beispielsweise Kyrill von Jerusalem (um 350)14 und Athanasios von Alexandria (367)15. Letzterer bezeugt in seiner Kanonliste die gleiche Reihenfolge der 14 Briefe (Rm, 1/2 Kor, Gal, Eph, Phil, Kol, 1/2 Thess, Hebr, 1/2 Tim, Tit, Phlm), wie sie auch in den drei ältesten Vollbibeln des 4. Jahrhunderts – Codex Sinaiticus (ℵ), Codex Alexandrinus (A) und Codex Vaticanus (B) – auftaucht.16
Neben der oben angeführten Einmütigkeit der Kirchenväterzitate bzw. der Kanonlisten17 stellen letztlich die neutestamentlichen Handschriften selbst ein gewichtiges Argument für die Existenz der 14-Briefe-Sammlung dar, da die übergroße Mehrheit der ältesten dieser Handschriften18 in Umfang und Reihenfolge der Paulusbriefe exakt übereinstimmen. Eine Ausnahmeerscheinung stellt in gewisser Weise P46 dar. Der Papyruskodex ist das älteste19 handschriftliche Zeugnis einer Sammlung von Paulusbriefen. Damit spielt er in jeder der unterschiedlichen Theorien zur Genese des Corpus Paulinum eine zentrale Rolle. Zwei Besonderheiten sind auffällig: das scheinbare Fehlen der Pastoralbriefe und die Stellung des Hebräerbriefes. Auf beide Phänomene soll hier kurz eingegangen werden.
Die Annahme, dass die Pastoralbriefe in P46 fehlten, gründet sich auf der Beobachtung, dass der Text des (einlagigen) Kodex bei 1 Thess 5,28 abbricht. Die letzten Seiten fehlen also. Ob diese fehlenden Seiten ausreichten, um neben 2 Thess und Phlm auch Platz für die drei Pastoralbriefe zu bieten, ist in der Forschung strittig bzw. wird letztlich offen gelassen.20 Allerdings konnte DUFF zuletzt aufzeigen, dass P46 mit einiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich alle kanonischen Paulusbriefe beinhaltete (oder beinhalten sollte) – auch die Pastoralbriefe.21
Die zweite Besonderheit betrifft den Hebräerbrief. In den meisten bekannten Manuskripten findet er sich entweder zwischen den Gemeindebriefen und denen an Einzelpersonen (konkret dann also zwischen 2 Thess und 1 Tim)22 oder aber ganz am Ende der Sammlung (also nach Phlm).23 In P46 taucht er dagegen bereits an zweiter Position (also zwischen Rm und 1 Kor) auf – eine Stellung, die sich sonst nirgends wiederfinden lässt. Diese variierende Stellung des Hebräerbriefes24 deutet darauf hin, dass der Text gleichsam eine Sonderstellung innerhalb des Corpus Paulinum einnimmt. Denn für keinen der anderen 13 Briefe lässt sich ein ähnlicher Befund ausmachen. TROBISCH erklärt daher den Hebr als einen späteren (sekundären) Anhang.25 Unstrittig ist, dass die Authentizität des Hebräerbriefes bereits früh in Frage gestellt wurde. Dies belegen die zahlreichen patristischen Diskurse über den Hebräerbrief.26 Allerdings muss die Infragestellung der paulinischen Verfasserschaft nicht zwingend auf die Existenz einer Vorstufe der 14-Briefe-Sammlung hindeuten, die ohne den Hebr auskam.27
Fazit: Im 2. Jh. existieren also (mindestens) zwei Sammlungen von Paulusbriefen. Es sind die beiden frühesten Fixpunkte, auf die sich die Forschung mit hinreichender Sicherheit berufen kann: die 10-Briefe-Sammlung und die 14-Briefe-Sammlung.28 Einigkeit besteht darin, dass diese beiden Textsammlungen in einem literarischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Unklar bleibt zunächst jedoch, wie dieses literarische Abhängigkeitsverhältnis tatsächlich aussieht. Diese Frage spielte in der bisherigen Forschungsgeschichte jedoch nur eine marginale Rolle. Denn im Kontext der Forschungen zu Marcion und seinen Texten wurde der Fokus vornehmlich auf das Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums gelegt.29 Die dabei entwickelten drei möglichen Optionen lassen sich allerdings unschwer auf die Frage nach dem literarischen Abhängigkeitsverhältnis der beiden Briefsammlungen zueinander übertragen (Übersicht 1):
A1 Die 10-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Verkürzung) der 14-Briefe-Sammlung dar. In der Evangelienforschung ist diese Annahme als Patristic-Hypothesis bzw. (in Anlehnung an ihre wirkmächtigsten Verfechter) als Zahn/Harnack-Hypothese bekannt.30 A2 Die 14-Briefe-Sammlung stellt eine redaktionelle Bearbeitung (in erster Linie eine Erweiterung) der 10-Briefe-Sammlung dar. Diese Option wird in der Frage nach dem redaktionellen Verhältnis des durch Marcion bezeugten Evangeliums und des kanonischen Lukasevangeliums als Schwegler-Hypothese bezeichnet.31 A3 Beide Sammlungen gehen auf eine gemeinsame Vorlage zurück, die unabhängig voneinander und in ganz unterschiedlicher Weise redaktionell bearbeitet wurde. Die Evangelienforschung kennt diese Möglichkeit als Semler-Hypothese.32Übersicht 1: Möglichkeiten des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen 10- und 14-Briefe-Sammlung
2.2. Die Priorität der 10-Briefe-Sammlung
Die heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit liefert KLINGHARDTs ausführliche und umfangreiche Arbeit zum Evangelium innerhalb der durch Marcion bezeugten Bibelausgabe. Hinsichtlich des redaktionellen Verhältnisses zum kanonischen Lukasevangelium konnte er nachweisen, dass – entgegen der Lesart der Häresiologen – der durch Marcion bezeugte Evangelientext (Mcn) nicht als redaktionelle Verkürzung des Lukasevangeliums (Lk), sondern vielmehr Lk als eine redaktionelle Überarbeitung von Mcn zu verstehen ist. Dieses anonyme, durch Marcion bezeugte, proto-lukanische Evangelium (Mcn) stellt somit das älteste uns bekannte Evangelium dar.1 HEILMANN bemerkt in diesem Zusammenhang treffend, dass diese Erkenntnis „auch die Koordinaten für die weitere Erforschung der Sammlung der paulinischen Briefe im 1. und 2. Jh.“2 verändert. Es ist nun also zu überprüfen, in welcher Weise das tatsächlich der Fall ist. Mit anderen Worten: Ist das, was für das durch Marcion bezeugte Evangelium nachgewiesen werden konnte, auch auf die Paulusbriefe übertragbar? Legen also die textlichen Differenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung und der 14-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe nahe, dass Letztere als (vornehmlich) ergänzende Überarbeitung der Ersteren zu verstehen ist? Lässt sich möglicherweise ein übergreifendes, kohärentes redaktionelles Konzept dieser Überarbeitung plausibilisieren?
Aufgrund der Bedeutung für den Argumentationsgang der vorliegenden Arbeit werden die von KLINGHARDT ausführlich dargelegten Argumente hier noch einmal kurz repetiert. Gegen die traditionelle Ansicht der Lk-Priorität gegenüber dem durch Marcion bezeugten Evangelientext sprechen demnach v. a. zwei Beobachtungen:
1 „die häufig beobachtete Inkohärenz der angeblichen Bearbeitung Marcions, die sich nicht zu einem erkennbaren redaktionellen Konzept fügt und […]
2 die zahlreichen Berührungen zwischen dem für Mcn durch die Häresiologen direkt bezeugten Text und den Varianten in den kanonischen Lk-Handschriften.“3
Nun stellt sich unweigerlich die Frage, ob die beiden Argumente KLINGHARDTs auch auf den Apostolos zutreffen.
Hinsichtlich der redaktionellen Inkonsistenz einer angenommenen marcionitischen Redaktionstätigkeit wurden schon vielfach Zweifel angemeldet. Bereits Tertullian räumte ein, dass sich in Marcions Text oftmals Passagen befinden, die dessen eigener Theologie eigentlich widersprechen. Die Beweisführung der Häresiologen ist ja genau darauf ausgelegt, solcherlei Inkonsistenzen zwischen Marcions Text und Marcions Theologie aufzuzeigen. Tertullian kann dafür letztlich zahlreiche Beispiele (Textstellen) anführen. Doch genau dies sollte eigentlich stutzig machen. Denn wenn man der Annahme Glauben schenkt, Marcion habe den ihm vorliegenden Text aus theologischen Gründen bearbeitet, so sollte diese Art der Beweisführung eigentlich scheitern. Falls nicht, müsste man Marcions Textrevision zumindest als sehr oberflächlich und mangelhaft ausgeführt verstehen.4 Auf diese Aporie weist Tertullian auch selbst hin, erklärt das Phänomen aber damit, dass Marcion absichtlich einige Textpassagen unberührt ließ, die eigentlich seinen theologischen Motiven entgegenstehen. Demnach wollte Marcion so gleichsam Spuren seiner eigenen Textrevision verwischen5 – zu Recht bezeichnet KLINGHARDT dies als „höchst gewundene Erklärung“, die wenig plausibel erscheint. Zuletzt konnte BEDUHN ausführlich darlegen, dass die Annahme einer aus theologischen Gründen motivierten Redaktionstätigkeit Marcions nicht aufrecht erhalten werden kann. Die inhaltlichen Motive der angeblich gestrichenen bzw. verbesserten Textpassagen lassen sich, wie oben angedeutet, an vielen Stellen des für Marcions Apostolos bezeugten Textes (also für den Text, den Marcion mutmaßlich nicht veränderte) trotzdem nachweisen.6 Beschuldigt man Marcion also der Streichung und Verbesserung der seiner Theologie zuwiderlaufenden Textstellen, so wäre er hierbei überaus inkonsequent vorgegangen, ja hätte die Texte teilweise sogar entgegen seinen eigentlichen inhaltlichen Interessen verändert.7 Daher ist es unplausibel, die 10-Briefe-Sammlung schlicht als eine aus theologischen Gründen motivierte Verkürzung der 14-Briefe-Sammlung anzusehen.
Das zweite Phänomen bestätigt dies nicht nur, sondern trägt lt. KLINGHARDT noch größeres argumentatives Gewicht.8 Daher wird das Argument hier besonders ausführlich dargelegt und erläutert. Die zentrale Beobachtung ist, dass zahlreiche,9 unter der Vorannahme einer marcionitischen Redaktion bisher als marcionitische Textänderungen identifizierte, genealogisch signifikante10 Lesarten auch in anderen Handschriften der neutestamentlichen Textüberlieferung auftauchen, insbesondere denen, die ehemals unter dem Kürzel „westlicher Text“ subsumiert wurden. Hierbei handelt es sich v. a. um die altlateinische und altsyrische Textüberlieferung, die hier einen reichen Fundus bietet.11 Allerdings lässt sich eine Vielzahl „marcionitischer“ Varianten erstaunlicherweise auch in zahlreichen griechischen Unzialhandschriften,12 aber auch diversen Minuskeln finden. Man muss also konstatieren: analog zum durch Marcion bezeugten Evangelientext hat auch der Text des marcionitischen Apostolos zahlreiche Spuren in allen Bereichen der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen. Dabei lässt sich keine regionale Zuordnung plausibilisieren.
Diese Beobachtung ist insofern verwunderlich, als zu fragen ist, wie ein von so vielen Kirchenvätern als „Ketzerwerk“ gebrandmarkter und „verstümmelter“ Text einen derart starken Einfluss auf die „reguläre“ handschriftliche Überlieferung haben konnte. HARNACKs Lösung für dieses Phänomen lautete, dass Marcion einen westlichen Text als Vorlage hatte (den er dann redaktionell bearbeitete) und die Lesarten, die durch seine Redaktionstätigkeit verändert wurden, wiederum in jene Handschriften Einzug gehalten haben. Er rechnet also mit einer wechselseitigen Beeinflussung zwischen dem westlichen und dem marcionitischen Text.13 Schon ZAHN hatte diese Annahme als „undenkbar“14 eingeschätzt, KLINGHARDT bezeichnet sie sogar als „halsbrecherisch“15. Die meines Erachtens weitaus plausiblere Antwort muss lauten: Es handelt sich gar nicht um einen Ketzertext, der die neutestamentliche Überlieferung so stark beeinflusst hat. Die 10-Briefe-Sammlung ist also nicht das Werk eines Häretikers. Sie ist keine Verkürzung bzw. Verstümmelung der 14-Briefe-Sammlung, sondern eine ältere Textsammlung der Paulusbriefe, die spätestens ab der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Umlauf war und die handschriftliche Textüberlieferung der Paulusbriefe maßgeblich beeinflusste (A2).16
Diese Arbeitshypothese fungiert als heuristische Grundlage der vorliegenden Arbeit. In der Folge wird angestrebt, diese Hypothese zu erhärten. Das methodische Vorgehen verlangt einen Rekurs auf die forschungsgeschichtlich einflussreichste Arbeit zum marcionitischen Apostolos der jüngeren Zeit, die von Ulrich SCHMID aus dem Jahr 1995 stammt. Seine Textrekonstruktion hat sowohl methodisch als auch hinsichtlich des Ergebnisses neue Maßstäbe etabliert. SCHMIDs methodische Prämissen müssen hier kurz erläutert werden, da sie auch die vorliegende Studie stark beeinflusst haben.
So legt SCHMID in seiner Arbeit erstens besonderen Wert auf die Analyse der Zitiergewohnheiten der Kirchenväter, die als Quelle für die Rekonstruktion des Apostolos dienen (in erster Linie also Tertullian und Epiphanius).17 Zweitens rechnet er sehr viel stärker (als z.B. HARNACK und ZAHN) mit mechanischen Fehlern im Überlieferungsprozess. Zu Recht geht er also davon aus, dass für den Text des Apostolos die gleichen textkritischen Phänomene18 auftreten können, die auch im Rahmen der sonstigen neutestamentlichen Textüberlieferung belegt sind. Lassen sich Varianten anhand gängiger Abschreibephänomene erklären, braucht Marcion nicht mehr als Urheber der Lesart herhalten. Und drittens legt er besonderen Wert darauf, scheinbar spezifisch marcionitische Lesarten in den neutestamentlichen Handschriften bzw. der nicht-marcionitischen Textüberlieferung aufzuspüren. Finden sich nämlich solcherlei Belege bzw. Spuren davon, so muss, lt. SCHMID, die von den Häresiologen behauptete marcionitische Herkunft der Lesart konsequent hinterfragt bzw. ernsthaft angezweifelt werden, da Marcion sie schlicht aus seiner Vorlage übernommen haben könnte.19
In dieser methodischen Herangehensweise folgt SCHMID John CLABEAUX. Dieser beschäftigte sich bereits vor SCHMID mit dem Text des marcionitischen Apostolos und diente ihm, nicht nur hinsichtlich der Methodik, als wichtiger Wegbereiter. So betont CLABEAUX als erster die Wichtigkeit der Frage, inwieweit eine vormals unhinterfragt (allein aufgrund der häresiologischen Bezeugung) als marcionitisch identifizierte Lesart auch in anderen Bereichen der handschriftlichen Überlieferung nachweisbar ist.20 Er bezeichnet dies als criterion of attestation elsewhere und erklärt prägnant:
„The existence of the reading in other authors independent of the author in question increases the likelihood that the variant was a part of the text he cited and not his own creation.“21
Die untersuchte Variante wäre in einem solchen Fall also nicht durch Marcions Redaktionstätigkeit entstanden, sondern sie existierte schlichtweg schon, nämlich in der 10-Briefe-Sammlung. Die drei oben erläuterten Kriterien, die also maßgeblich sind für die Frage, ob eine Lesart tatsächlich von Marcion erzeugt oder doch nur durch ihn bezeugt ist, werden – in Anlehnung an CLABEAUX – im weiteren Verlauf wie folgt bezeichnet:
Kriterium 1: citation habits Kriterium 2: failure in tradition Kriterium 3: attestation elsewhereWie bereits oben angedeutet, ist es demnach geboten, eine neutrale Bearbeitungssprache zu verwenden und terminologisch sauber zu differenzieren zwischen durch Marcion bezeugte und durch Marcion erzeugte Varianten. Für die letztere Kategorie kommen demnach grundsätzlich nur noch diejenigen Textvarianten in Frage, die durch alle drei Raster fallen. Ihr Zustandekommen darf sich also weder aufgrund der Zitiergewohnheit ihres Zeugen (also des bzw. der jeweiligen Häresiologen) noch aufgrund eines Abschreibefehlers im Überlieferungsprozess erklären lassen. Zusätzlich dürfen sie in keinem anderen neutestamentlichen Manuskript auftauchen bzw. Spuren hinterlassen haben. Demnach können durch Marcion erzeugte Varianten nur aus dem Pool der marcionitischen Singulärlesarten kommen, also all diejenigen, die sich nirgends innerhalb der sonstigen handschriftlichen Überlieferung nachweisen lassen.
Unter Anwendung der beschriebenen methodischen Herangehensweise kam SCHMID zu dem Ergebnis, „daß der Anteil Marcions am Zustandekommen seines Textes sehr viel geringer ist, als bislang angenommen wurde.“22 Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien bei der Überprüfung der ursprünglich als „marcionitisch“ angenommenen Varianten sind offensichtlich deutlich weniger Varianten übrig geblieben, als dies in allen bisherigen Rekonstruktionsversuchen des Apostolos der Fall war. Somit entlastete SCHMID Marcion an vielen Stellen zwar vom häresiologischen Textverstümmelungsvorwurf. Trotzdem hielt er an seiner Grundannahme fest, dass der marcionitische Paulustext eine redaktionelle Bearbeitung darstellt.23
Tatsächlich beschränkt sich Marcions redaktioneller Beitrag lt. SCHMID nur noch auf einige wenige, zwar relativ umfangreiche, aber präzise eingrenzbare Textabschnitte, die nach der Anwendung der drei oben genannten Kriterien übrig bleiben.24 Diese umfangreichen Textdifferenzen – hier ist es nicht mehr sinnvoll, von textkritischen Varianten zu sprechen – treten v. a. im Römerbrief auf. Nach SCHMIDs Rekonstruktion des Apostolos handelt es sich um Rm 2,3–11, Rm 4 und Rm 9–11, die in dem von Marcion bezeugten Text des Römerbriefes fehlen.25 Ein angenommener Wegfall dieser jeweils thematisch in sich zusammenhängenden Textabschnitte lässt sich weder mit Hilfe der Zitiergewohnheiten der Zeugen, noch anhand gängiger textkritischer Phänomene26 plausibilisieren. Da (außer bei Marcion) auch in der bisher untersuchten handschriftlichen Überlieferung des Römerbriefes nichts auf ein Fehlen der Abschnitte hinweist,27 führt auch Kriterium 3 (attestation elsewhere) hier nicht zum Ausschluss. Für SCHMID ergibt sich folgerichtig „kein Grund […] anzunehmen, Marcion sei nicht der Urheber dieser Textänderungen.“28 Somit fällt für ihn die der Schwegler-Hypothese entsprechende Option A2 weg, die von ihm gar nicht diskutiert wird. Da SCHMID aber gleichzeitig die Beobachtung des starken Einflusses des Textes des marcionitischen Apostolos auf die reguläre Überlieferung ernst nimmt, kommt für ihn auch Option A1 nicht in Frage. Folglich ist er gleichsam gezwungen, sich mit Option A3 zu behelfen und eine vormarcionitische Paulusbriefedition zu postulieren, die einerseits Einfluss auf die reguläre Überlieferung genommen hat, und die andererseits aber auch die Vorlage für Marcions Textrevision darstellt.29
Der gängige Argumentationsstrang, der davon ausgeht, Marcion als Textbearbeiter zu verstehen (dem also auch SCHMID teilweise folgt), stellt sich schematisch wie folgt dar:

14Pls → 10Pls
Die vorliegende Arbeit wird einen methodischen Weg aufzeigen, der diese Grundannahme einer marcionitischen Redaktion des Römerbrieftextes (und damit auch der übrigen Paulusbriefe) in Frage stellt und stattdessen deutlich macht, dass die Priorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung die plausiblere Option darstellt.30
2.3. Methodisches Vorgehen
Aus den beschriebenen Überlegungen ergibt sich folgende methodische Herangehensweise: Untersucht werden die drei umfangreichsten, zusammenhängenden Textdifferenzen zwischen der 10-Briefe-Sammlung (bezeugt durch Marcions Apostolos) und der 14-Briefe-Sammlung innerhalb des Römerbriefes.1 Dabei handelt es sich um Rm 4, Rm 9–11 und Rm 15–16. Letzterer Textabschnitt spielt hier deswegen eine Rolle, da das damit verbundene Problem des Römerbriefschlusses unter der heuristischen Grundannahme der vorliegenden Arbeit eine neue Lösung verspricht. Darüber hinaus ist es das zentrale textkritische Problem des Römerbriefes und darf daher an dieser Stelle nicht ignoriert werden. Dagegen wird auf die Untersuchung von Rm 2,3–11 verzichtet, da die Evidenz, auf der SCHMID sein Urteil gründet, dass die besagten Verse im von Marcion verwendeten Römerbrief fehlten, nach meinem Dafürhalten nicht plausibel genug sind.2
Im Detail gestaltet sich die Vorgehensweise wie folgt: Zunächst wird der Text der 10-Briefe-Sammung für den untersuchten Textabschnitt genau erfasst. Dazu ist es geboten, den Text des Römerbriefes in Marcions Apostolos (10Rm) anhand der häresiologischen Bezeugung zu rekonstruieren, genau genommen die Differenz zwischen der 10- und der 14-Briefe-Sammlung so genau wie möglich zu erfassen. Anschließend ist anhand der genannten Kriterien zu prüfen, ob es sich tatsächlich (wie immer behauptet) um marcionitische Sonderlesarten (also durch Marcion erzeugte Varianten) handelt oder ob sie doch nur als durch Marcion bezeugt gelten dürfen. In diesem Fall müsste man die Entstehung der jeweiligen Lesart also auf mindestens eines der bekannten Kriterien zurückführen können. Das Zustandekommen der Lesart wäre also (1) aufgrund des Zitierverhaltens des jeweiligen Häresiologen zu erklären, oder geht (2) auf einen üblichen Fehler im Überlieferungsprozess zurück oder ist (3) auch anderweitig bezeugt.
Da die Entstehung der besagten Textdifferenzen zwischen dem durch Marcion bezeugten Römerbrief und dem katholischen Text (also zwischen 10Rm und 14Rm) aufgrund ihres großen Umfangs kaum durch die Zitiergewohnheiten der Häresiologen (citation habits) zu erklären sind, bleibt das zweite (failures in tradition) und v. a. das dritte methodische Kriterium (attestation elsewhere) zu überprüfen. Dabei trägt Letzteres zweifelsohne das meiste argumentative Gewicht.3 Es wird also in erster Linie darum gehen, zu überprüfen, ob nicht auch andere Teile der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments das Fehlen von Rm 4 bzw. Rm 9–11 nahe legen. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so würden auch die letzten Textabschnitte entfallen, die bisher als Beleg der Annahme einer theologisch motivierten marcionitischen Textrevision angeführt wurden.4 Folglich wäre es dann auch absolut legitim, ja sogar methodisch geboten, von der Annahme einer redaktionellen Bearbeitung Marcions und damit auch der Posteriorität der 10-Briefe-Sammlung gegenüber der 14-Briefe-Sammlung (A1) abzusehen.5 Stattdessen müsste man das redaktionelle Gefälle zwischen den beiden Briefsammlungen umkehren (A2) und prüfen, ob so die vielschichtigen textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Phänomene nicht besser erklärt werden können, als es die herkömmliche Hypothese zu tun im Stande ist.