Über die Textgeschichte des Römerbriefs

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Darüber hinaus zeigt sich ein schwerwiegendes überlieferungsgeschichtliches Problem: Sollten die Prologe tatsächlich auf Marcioniten zurückgehen, wie (und wann) hätten sie dann bedenkenlos in zahlreiche katholische Bibelausgaben übernommen und somit für rechtgläubig erklärt werden können? HARNACKS Lösung muss hierfür als äußerst problematisch erachtet werden: Dieser datiert die Paulusprologe bzw. ihr partielles Eindringen in den Text des Corpus Paulinum bereits in die zweite Hälfte des 2. Jh., da sie dem Verfasser des Muratorischen Fragments vorlagen.12 Der Behauptung des Eindringens tatsächlich marcionitischer Prologe in den katholischen Paulustext zu einem solch frühen Zeitpunkt, zu dem – wie das Zeugnis der Häresiologen unschwer erkennen lässt – die Auseinandersetzung mit der marcionitischen Kirche in vollem Gange war, muss mit größter Skepsis begegnet werden. Besonders pointiert formuliert FREDE:
„Ob man aber schon im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts, als der Kampf gegen den Marcionitismus seinen Höhepunkt erreichte, wirklich marcionitische Prologe, von deren Existenz Tertullian um 215 offenbar nichts weiß, ohne den geringsten Argwohn in eine katholische Paulusbriefausgabe hat übernehmen können, ist eine Frage, die sich wohl nur mit einem ungewöhnlichen Maß an Kühnheit positiv beantworten läßt.“13
Gleichzeitig lässt wiederum die Bezeichnung der Adressaten des „Epheserbriefes“ als Laodizener sowie v. a. die weite Verbreitung der altlateinischen Paulusprologe in der handschriftlichen Überlieferung auch eine Spätdatierung – etwa gegen Ende des 4. Jh.14 – überaus unwahrscheinlich erscheinen.15
Die fehlende Plausibilität der Antwort HARNACKs ist offenkundig, sodass die späteren Advokaten eines marcionitischen Ursprunges der Prologe die eben zitierte Frage FREDEs entweder ignorieren oder aber einräumen, dass sie das Problem nicht lösen können. So formulierte schon BLACKMAN in wünschenswerter Deutlichkeit:
„Nevertheless [scil. trotz des Schweigens Tertullians über die Prologe in Adv. Marc. 5], the supposition of an early origin is necessary to explain the wide dissemination of the prologues in the West. It is one of the paradoxes of history [!] that these prologues were taken up into the Catholic New Testament and their motif unrecognized.“16
Zuletzt stellt auch JONGKIND die Frage, wie diese Prologe dann eigentlich (trotz ihres angeblich häretischen Hintergrunds) Einzug in die lateinische Texttradition gehalten haben konnten bzw. so lange in dieser überlebt haben. Seine bezeichnende Antwort lautet: „we simply do not know how […].“17
Nimmt man nun von der Annahme des marcionitischen Ursprungs der altlateinischen Paulusprologe Abstand und versteht sie stattdessen als Beleg für die Existenz einer nur zehn Briefe umfassenden Edition von Paulusbriefen,18 löst sich das zuvor beschriebene Paradoxon (BLACKMAN) elegant in Luft auf: Die weite Verbreitung der argumenta innerhalb der lateinischen Textüberlieferung basiert nicht auf der Missachtung bzw. der der zeitlichen Distanz geschuldeten Blindheit bzgl. ihres häretischen (marcionitischen) „Pferdefuß[es]“19 – sie hatten schlicht nichts Häretisches an sich. Tertullian hatte demnach auch gar keine Veranlassung, sich im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Marcions Apostolos mit den Prologen zu beschäftigen, denn sie waren mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Teil der ihm geläufigen Bibel. JONGKINDs Einschätzung, eine frühe, unbekannte Sammlung von Paulusbriefen anzunehmen stelle keinerlei Vorteil dar,20 da sie keine forschungsgeschichtlichen Probleme lösen könne, ist folglich in keiner Weise nachzuvollziehen. Tatsächlich ist die Briefsammlung, auf die die altlateinische Prologreihe mit großer Wahrscheinlichkeit ursprünglich zurückgeht, alles andere als unbekannt, sondern wird u. a. durch Marcions Apostolos bezeugt.
3.3.4. Die altlateinischen Prologe und die Überlieferungsgeschichte des Corpus Paulinum
Die bisherigen Studien zu den altlateinischen Paulusprologen kreisten in erster Linie um die Frage, ob sie marcionitischen Ursprungs sind oder nicht. Die Konzentration auf diesen Fragehorizont erscheint jedoch unangebracht. So haben die vorangegangenen Überlegungen deutlich gemacht, dass die notwendigen Kriterien, die in dieser Frage zu einer validen Entscheidung führen könnten, gar nicht erfüllt werden können. Zwar entspricht die den Prologen zugrunde liegende Paulusbriefsammlung formal – d.h. in Reihenfolge und Umfang – dem marcionitischen Apostolos. Dagegen musste festgestellt werden, dass der Textbefund inhaltlich nicht wirklich ausreicht, um eindeutig auf eine marcionitische Verfasserschaft zu schließen – die frühkatholischen Pauluskommentare machen deutlich, dass eine ähnliche Paulusexegese auch außerhalb marcionitischen Einflusses möglich, ja vielleicht sogar üblich, war.1 Die Annahme eines marcionitischen Ursprungs der argumenta ist anhand der zugrunde liegenden Texte zunächst also weder eindeutig be- noch widerlegbar.2
Die Untersuchungen zu den Prologen auf die Frage nach der marcionitischen oder nicht-marcionitischen Verfasserschaft zu reduzieren, stellt somit eine Sackgasse dar. Diese Sackgasse ist jedoch keinesfalls alternativlos. DAHLs Neuansatz hat eine Richtung aufgezeigt, der auch die vorliegende Arbeit nachgeht. Der Fokus liegt nun nicht mehr auf den Prologen selbst. Stattdessen muss die Perspektive erweitert werden, um hinter die Prologe zu schauen und nach der Briefsammlung zu fragen, für welche die argumenta ursprünglich verfasst wurden.
Alle vorangegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass die Prologe auf eine Edition der Paulusbriefe zurückgehen, die folgende Merkmale aufweist:
1 Sie umfasst zehn Briefe (beinhaltet also keine Pastoralbriefe und keinen Hebräerbrief);
2 statt des Epheserbriefes beinhaltet sie einen Brief an die Laodizener;
3 der enthaltene Römerbrief ist kürzer als die kanonische Version (mit einiger Wahrscheinlichkeit fehlen die Kapitel 15 und 16);
4 die Reihenfolge der enthaltenen Briefe lautet Gal, 1 (2) Kor, Röm, 1 (2) Thess, Laod, Kol, (Phlm), Phil, (Phlm).
Es ist unstrittig, dass die durch Marcion bezeugte 10-Briefe-Sammlung genau diese Merkmale aufweist. Die Annahme, die Prologe gingen auf eine vormarcionitische Sammlung zurück, ist erst statthaft, wenn belegt werden kann, dass Marcion tatsächlich Veränderungen an den ihm vorliegenden Texten vorgenommen hat. Solange dies allerdings nicht der Fall ist, müssen die Prologe schlicht als ein weiterer Beleg (neben Marcions Apostolos) für die Existenz der 10-Briefe-Sammlung verstanden werden.
3.4. Fazit und Zwischenbilanz
Die paratextuellen Beigaben (Kapitelverzeichnisse und Prologe) spielen für die Erforschung der Textgeschichte der Paulusbriefe eine wichtige Rolle, die bisher weitgehend unterschätzt wurde. Insbesondere die Prologe haben sich als ein (von Marcions Apostolos unabhängiger) Beleg der 10-Briefe-Sammlung der Paulusbriefe erwiesen. Insofern sind sie – ebenso wie als auch die Kapitelverzeichnisse – für die Verhältnisbestimmung der 10-Briefe-Sammlung zur 14-Briefe-Sammlung von wichtiger Bedeutung.
Darüber hinaus müssen die paratextuellen Zeugnisse, insofern sie sich als unabhängig von ihrem tatsächlichen Bezugstext erweisen haben, als separate Bezeugung von Lesarten angesehen und textkritisch ausgewertet werden. Unter diesem Blickwinkel stellen die Paratexte einerseits einen wichtigen Baustein zur Erforschung der textgeschichtlichen Überlieferung und Entstehung des Corpus Paulinum dar. Andererseits können sie möglicherweise auch dazu beitragen, einige undurchsichtige textkritische Problemfelder desselben (z.B. die Frage nach dem Schluss des Römerbriefes) zu erhellen.
Mit dem in Kapitel 2 und 3 dargelegten methodischen Rüstzeug ist es jetzt möglich, ausführlich die drei genannten Abschnitte des Römerbriefes zu untersuchen, in denen umfangreiche, textliche Differenzen zwischen 10Rm und 14Rm identifiziert werden konnten.1
IV. Rm 4 – Das fehlende Abrahamkapitel
Die erste umfangreiche Textdifferenz zwischen 10Rm und 14Rm betrifft Rm 4 – das sogenannte Abrahamkapitel. Thematisch geht es in dem besagten Kapitel v. a. darum, die Abrahamskindschaft als erwählungstheologisches Konzept zu etablieren, das entstehende Christentum also in die Heilsgeschichte Gottes mit Israel einzuschreiben. Um die Textgestalt des von Marcion verwendeten Römerbriefes in diesem Abschnitt genau zu erfassen, ist zunächst die häresiologische Bezeugung zu analysieren.1
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