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Es gibt jedoch ein noch tieferes Verstehen, eines, das auf unseren eigenen Erwägungen und Überlegungen basiert: »Ich habe dies durch sorgfältige Analyse erkannt. Ich verstehe, wie es funktioniert.« Durch Nachdenken kann man sehr vieles verstehen. Aber gibt es vielleicht eine Ebene des Verstehens, die auch darüber noch hinausgeht? Was geschieht, wenn wir selbst anfangen, uns grundlegende Fragen über unser Leben zu stellen? Was ist Liebe? Was ist Freiheit? Solche Fragen sind weder durch Wissen aus zweiter Hand noch durch Gedankenakrobatik zu beantworten. Der Buddha entdeckte – und nach ihm unzählige Generationen von Menschen, die seine Lehren auf ihr Leben übertrugen –, daß es eine Möglichkeit gibt, Antworten auf diese schwierigen und zugleich wundervollen Fragen zu finden. Dazu müssen wir die Fähigkeit entwickeln, klar und direkt zu sehen – und so entsteht ein intuitives, stilles Wissen.
Doch wie sollen wir beginnen? Nach der buddhistischen Überlieferung entwickelt sich diese Art des Verstehens, wenn wir an drei Aspekten unseres Seins arbeiten: an der Grundlage der bewußten Lebensführung, an der Beständigkeit von Herz und Geist und am Klarblick oder an der Weisheit.
Bewußte Lebensführung Fünf Empfehlungen für den Übungsweg
Der erste Aspekt, bewußte Lebensführung, bedeutet, daß wir unser Leben in der Welt harmonisch und achtsam gestalten. Damit sich unsere spirituelle Praxis entwickeln kann, müssen wir in unserem Leben eine grundlegende sittliche Haltung ent-wikkeln. Wenn wir an Aktivitäten beteiligt sind, die bei uns selbst oder bei anderen Schmerz und Konflikte hervorrufen, kann unser Geist nicht zur Ruhe kommen, sich sammeln und sich auf die Meditation konzentrieren, und dem Herzen ist es dann unmöglich, sich zu öffnen. In einem Geist, der in Unei-gennützigkeit und Wahrheit verwurzelt ist, können sich Kon-zentration und Weisheit leicht entwickeln.
Buddha hat fünf grundlegende Bereiche sittlichen Verhaltens benannt, die zu einem bewußten Leben führen. Diese Empfehlungen werden allen ans Herz gelegt, die dem Pfad der Achtsamkeit zu folgen wünschen. Sie sind nicht als absolute Gebote zu verstehen, sondern als praktische Orientierungshilfen, die zu einer harmonischeren Lebensführung, zu geistigem Frieden und zu geistiger Kraft verhelfen sollen. Wenn wir diese Hilfen beherzigen, entdecken wir, daß sie universellen Charakter haben, da sie in allen Kulturen und zu jeder Zeit gültig sind. Sie sind Bestandteile der grundlegenden Achtsamkeitsübung und können im Zusammenhang mit unserem spirituellen Leben entwikkelt werden.
Die erste Empfehlung lautet, nicht zu töten. Wir werden angehalten, alles Leben zu achten und nicht aus Haß oder Abneigung Dinge zu tun, die irgendeiner lebenden Kreatur schaden. Es geht hier darum, das Leben in allen seinen Formen zu achten und sich ihm liebevoll zuzuwenden. Im Rahmen des Achtfachen Pfades wird dies als ein Aspekt des Vollkommenen Handelns bezeichnet.
Diese Empfehlung mag uns als Selbstverständlichkeit erscheinen, doch vergessen wir im Alltag nur zu leicht, was sie bedeutet. Vor einigen Jahren fand ich während der Jagdsaison im New Yorker einen Cartoon, in dem ein Hirsch zu einem anderen sagt: »Warum, zum Teufel, dünnen sie nicht ihre eigenen verdammten Herden aus?« Wir haben stets Entschuldigungen bei der Hand wie: »Es gibt sowieso zu viele Hirsche.« Wenn wir bewußter werden und eine stärkere Verbindung zum Leben entwickeln, wird uns klar, daß wir anderen kein Leid zufügen sollten, schon allein deshalb nicht, weil wir uns selbst Schmerzen zufügen, wenn wir töten. Und den Opfern ist es ganz sicher nicht recht, auch die winzigsten Kreaturen wollen nicht sterben. Durch das Befolgen dieser Empfehlung lernen wir, anderen und uns selbst keinen Schmerz zuzufügen.
Die zweite Empfehlung fordert uns auf, nicht zu stehlen, uns nichts anzueignen, was uns nicht gehört. Nicht zu stehlen wird als grundlegendes Nicht-Schädigen bezeichnet. Wir müssen unsere Gier loslassen und uns abgewöhnen, zuviel haben zu wollen. Positiv ausgedrückt bedeutet dies, Dinge sensibel und liebevoll zu benutzen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, daß wir dieses Leben, diesen Planeten mit vielen anderen teilen. Um selbst leben zu können, brauchen wir die Pflanzen, die Tiere, ja sogar die Insekten. Alle Wesen dieser Welt müssen sich die Schätze der Erde teilen. Unser Planet gleicht einem Schiff von begrenzter Größe mit einer ungeheuren Zahl von Passagieren. Unser Leben ist mit dem der Bienen, der Insekten und der Regenwürmer verbunden. Gäbe es keine Regenwürmer, die den Boden auflokkern, und keine Bienen, die die Blüten befruchten, so würden wir verhungern. Wir brauchen Bienen, wir brauchen Insekten. Alle Lebensformen sind miteinander verbunden. Wenn wir lernen, die Erde zu lieben, können wir glücklich sein bei allem, was wir tun, und dieses Glück basiert auf Zufriedenheit. Dies ist die Grundlage wahrer Ökologie. Entsprechend ist es die Grundlage des Weltfriedens, wenn wir erkennen, daß wir nicht von der Erde abgetrennt sind, sondern daß wir alle von ihr abstammen und alle miteinander verbunden sind. Aus diesem Gefühl der Verbundenheit heraus kann sich das Bedürfnis zu teilen entwickeln, der Wunsch, der Welt mit Hilfsbereitschaft und Großmut zu begegnen. Großmut zu entwickeln und zu praktizieren ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil eines spirituellen Lebens. Wie man üben kann, den Empfehlungen für den Übungsweg zu folgen und die Meditation zu praktizieren, so kann man auch üben, Großmut walten zu lassen. Wenn wir dies tun, prägt ihr Geist unser Handeln, und unser Herz wird stärker und unbeschwerter. Dies kann uns zu einem tiefen Loslassen und zu großem Glück führen. Der Buddha hob die Bedeutung der Großmut hervor, indem er sagte: »Wenn ihr soviel über die Macht des Gebens wüßtet wie ich, würdet ihr keine einzige Mahlzeit zu euch nehmen, ohne sie auf irgendeine Weise mit anderen zu teilen.«
Traditionell werden drei Arten des Gebens beschrieben, und es wird uns empfohlen, Großmut so zu üben, wie unser Herz es uns eingibt. Zunächst gibt es das versuchsweise oder zögernde Geben. Wir schauen uns ein Objekt an und denken: »Wahrscheinlich brauche ich es ohnehin nicht mehr. Ich könnte es weggeben. Aber vielleicht warte ich doch besser noch bis zum nächsten Jahr. Ach nein, ich verschenke es.« Sogar diese Art des Gebens ist positiv. Uns selbst macht sie ein wenig Freude, und außerdem wird jemand anderem geholfen. Wir teilen und stellen eine Beziehung zu anderen Menschen her.
Die zweite Ebene der Großmut ist das freundliche Geben, so wie wir es einem Bruder oder einer Schwester gegenüber tun. »Bitte nimm von dem, was ich habe, und genieße es so wie ich.« Großzügig zu geben von unserer Zeit, unserer Energie und dem, was wir besitzen, ist noch befriedigender. Es ist wunderschön, dies zu tun. Wir brauchen nicht viel Besitz, um glücklich zu sein. Unsere Beziehung zum ständig sich wandelnden Leben bestimmt, ob wir glücklich oder deprimiert sind. Glück kommt aus dem Herzen.
Die dritte Ebene des Gebens ist das königliche Geben. Wir nehmen etwas, das uns gehört – unsere Zeit, unsere Energie oder ein Objekt, das uns besonders wertvoll ist –, geben es frohen Herzens jemandem und sagen: »Bitte, nimm es, auch du sollst dich daran erfreuen.« Wir geben dem anderen etwas und machen uns eine Freude daraus, es zu teilen. Diese Art des Gebens zu erlernen ist wundervoll.
Wenn wir großzügiger werden, mehr von unserer Zeit, unserer Energie, unserem Besitz und unserem Geld geben, lernen wir, dies nicht nur zu tun, weil es einem bestimmten Selbstbild gerecht wird oder einer äußeren Autorität gefällt, sondern weil es eine Quelle echten Glücks in unserem Leben ist. Natürlich bedeutet das nicht, daß wir alles weggeben sollen. Das wäre exzessiv, denn wir müssen auch uns selbst gegenüber mitfühlend und fürsorglich sein. Daß wir die Kraft kennenlernen dürfen, die dieser Art von Offenheit innewohnt, ist eine besondere Gunst. Es ist geradezu ein Privileg, daß wir diese Großmut in unserem Leben praktizieren können.
Die dritte Empfehlung für eine bewußte Lebensführung ist, sich falscher Rede zu enthalten. Im Rahmen des Achtfachen Pfades wird dies als Vollkommene Rede bezeichnet. Das bedeutet: Lüge nicht; sprich Dinge nur aus, wenn sie wahr sind und wenn es nützlich ist, sie auszusprechen; rede weise, verantwortlich und im geeigneten Augenblick. Vollkommene Rede konfrontiert uns ständig mit der Frage, ob wir uns dessen bewußt sind, wie wir die Energie unserer Worte benutzen. Wir verbringen ungeheuer viel Lebenszeit damit, zu analysieren, zu diskutieren, zu klatschen und Pläne zu schmieden, und der größte Teil dieses Redens ist weder von Bewußtsein noch von Gewahrsein geprägt. Man kann auch die Sprache für das Erwachen nutzen. Wir können achtsam dem gegenüber sein, was unsere Worte bewirken, was unsere Motivation beim Reden ist und wie wir uns dabei fühlen. Auch beim Zuhören können wir Achtsamkeit üben. Wir können es uns zum Kriterium machen, ob das, was wir sagen, wahr, gütig und hilfreich ist. Üben der Achtsamkeit kann uns helfen, die Macht des Redens zu erkennen und zu verstehen.
Einst wurde ein Meister gerufen, urn ein krankes Kind durch ein kurzes Gebet zu heilen. Ein Skeptiker unter den Anwesenden beobachtete den Vorgang und gab seinen Zweifeln Ausdruck, da er diese Art des Heilens für ziemlich oberflächlich hielt. Der Meister wandte sich ihm zu und sagte: »Du verstehst nichts von diesen Dingen; du bist ein unwissender Narr!« Da wurde der Skeptiker sehr wütend. Sein Gesicht lief rot an, und er zitterte vor Wut. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, fragte ihn der Meister: »Wenn ein Wort die Macht hat, dein Gesicht rot anlaufen zu lassen und dich wütend zu machen, warum soll dann nicht ein anderes Wort die Macht haben können zu heilen?«
Unsere Rede ist mächtig. Sie kann destruktiv oder erleuchtend wirken, dummes Geschwätz oder mitfühlende Kommunikation sein. Wir werden aufgefordert, achtsam zu sein und aus dem Herzen zu sprechen. Wenn wir aussprechen, was wahr und hilfreich ist, fühlen sich die anderen Menschen zu uns hingezogen. Achtsamkeit und Ehrlichkeit machen unseren Geist ruhiger und offener und unser Herz glücklicher und friedvoller.
Die vierte Empfehlung ist, sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden. Dies erinnert uns daran, unseren sexuellen Begierden nicht auf eine Weise nachzugehen, die anderen Leid zufügt. Wir werden angehalten, in sexuellen Beziehungen verantwortlich und ehrlich zu sein. Die Sexualität ist eine machtvolle Energie. In unserer Zeit verändern sich die Beziehungen schnell, und die sexuellen Werte sind einem rapiden Wandel unterworfen. Angesichts dieser Situation werden wir aufgefordert, mit der Macht der Sexualität bewußt umzugehen. Wenn diese Energie in unserem Leben mit Haben-Wollen und Gier, mit Ausbeutung und Triebhaftigkeit verknüpft ist, fügen wir durch unser Handeln – wie zum Beispiel durch Ehebruch – anderen und uns selbst Leid zu. Im Gegensatz zu diesem Leiden kann die einfache Abwesenheit solcher Handlungen zu großem Glück führen.
Der Sinn dieser Empfehlung besteht darin, daß wir uns die Motive unseres Handelns vergegenwärtigen. Wenn wir (als Laien) auf diese Weise Aufmerksamkeit üben, können wir entdecken, wie Sexualität mit dem Herzen verbunden werden kann, und wir können sie dann zum Ausdruck von Liebe, Fürsorge und echter Vertrautheit werden lassen. Wir haben uns fast alle zu irgendeinem Zeitpunkt in unserem sexuellen Leben wie Narren aufgeführt, doch haben wir auch alle irgendwann schon einmal das Bedürfnis verspürt, mittels der Sexualität das Wunderbare in einem anderen Menschen zu berühren und so in tiefen Kontakt mit ihm zu treten. Bewußte Sexualität spielt in einem Leben, das der Entwicklung der Achtsamkeit gewidmet ist, eine wichtige Rolle.
Die fünfte Empfehlung beinhaltet, den achtlosen Umgang mit Rauschmitteln zu unterlassen. Wir sollten Rauschmittel nie in einem solchen Maße konsumieren, daß unser Geist unklar wird und sie unser Leben bestimmen – auf Kosten der Entwicklung von Klarheit und Wachheit. Wir haben nur diesen einen Geist, deshalb müssen wir ihn sorgsam hüten. In Amerika gibt es Millionen von Alkoholikern und anderen Menschen, die ihr Leben durch Drogenmißbrauch zerstört haben. Unbewußter und aus Angst geborener Rauschmittelkonsum verursacht bei den Betroffenen selbst, in ihren Familien und bei allen Menschen ihrer Umgebung großes Leid. Bewußt zu leben ist nicht leicht – es bedeutet, daß wir uns häufig mit Ängsten und Schmerzen konfrontieren müssen, die unser Herz auf die Probe stellen. Rauschmittelmißbrauch ist eindeutig kein heilsamer Weg.
In das Reich des Menschseins einzutreten, die Grundlage für ein spirituelles Leben zu schaffen erfordert, daß wir Gewahrsein in alle unsere Handlungen hineintragen; dies gilt für den Rauschmittelkonsum ebenso wie für unser Reden sowie für alles andere, das wir tun. Eine von Sittlichkeit getragene und harmonische Beziehung zur Welt erfüllt das Herz mit Wohlbehagen und Leichtigkeit und den Geist mit einer unerschütterlichen Klarheit. Eine grundlegende Sittlichkeit wirkt schon an sich sehr beglückend und befreiend, doch außerdem ist sie die Voraussetzung für wahre Meditation. Sie ist die Grundlage für ein bewußtes Leben, welches das außergewöhnliche Glück einer menschlichen Geburt nicht ungenutzt verstreichen läßt, die Chance, in unserem Leben durch die Entwicklung von Mitgefühl und echtem Verstehen zu wachsen.
Geistige Sammlung
Auf der Grundlage der bewußten Lebensführung, der ersten Stufe des Weges der Achtsamkeit, erwächst der zweite Schritt auf diesem Weg, die Entwicklung von Samādhi oder der Beständigkeit und Sammlung des Geistes. So wie wir unser äußeres Leben mit der Anmut und Harmonie der Sittlichkeit erfüllen können, können wir auch in unserem Inneren eine Ordnung schaffen, ein Gefühl des Friedens und der Klarheit. Dies ist der Bereich der formellen Meditation, bei der zunächst Herz und Geist in der Sammlung geübt werden. Der Geist wird gesammelt, Geist und Körper werden vereinigt, die Aufmerksamkeit wird auf die eigene Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick konzentriert. Die Fähigkeit der Sammlung und Beruhigung des Geistes ist die Grundlage aller Arten von Meditation und außerdem grundlegend für alle menschlichen Bestrebungen, ganz gleich, ob es um Sport, um das Programmieren von Computern oder um Selbsterkenntnis geht. Bei der Meditation wird die Konzentrationskraft systematisch geübt. Dies kann mittels einer Vielzahl von Objekten geschehen, unter anderem mittels der Atmung, der Visualisation, mittels eines Mantra oder eines bestimmten Gefühls wie etwa der Herzensgüte. In späteren Kapiteln wird die Kunst der geistigen Sammlung wegen ihrer zentralen Bedeutung ausführlicher dargestellt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um ein einfaches Ausrichten der Aufmerksamkeit auf ein Objekt wie zum Beispiel auf den Atem. Voraussetzung hierfür ist, daß wir unsere Gedanken über Vergangenheit und Zukunft, unsere Phantasien und Anhaftungen loslassen und den Geist wieder auf das lenken, was tatsächlich geschieht, auf den Augenblick des Empfindens, auf das Fühlen des Atmens so, wie es ist. Samādhi tritt nicht einfach von selbst ein, sondern erfordert Übung. Dem Buddha und allen großen Yogis haben wir die wundervolle Entdeckung zu verdanken, daß man den Geist tatsächlich üben kann.
An der Tür eines Spielkasinos in Las Vegas ist ein Hinweisschild mit folgender Aufschrift angebracht: »Wer gewinnen will, muß persönlich anwesend sein.« Das gleiche gilt auch für die Meditation. Wenn wir die Natur unseres Lebens erkennen wollen, müssen wir wirklich präsent, gewahr und wach sein. Die Entwicklung von Samādhi ähnelt dem Polieren einer Linse. Wenn wir die Zellen und Funktionen des Körpers mit einer Linse untersuchen wollen, die nicht präzise genug geschliffen ist, werden wir kaum etwas klar erkennen. Um die Natur von Geist und Körper durchdringen zu können, müssen wir unsere Kräfte sammeln und konzentrieren und mit einem beständigen und ruhigen Geist beobachten. Genau das tat der Buddha: Er saß, sammelte seinen Geist und schaute nach innen. Um ein Yogi zu werden, ein Erforscher des Herzens und des Geistes, müssen auch wir diese Fähigkeit entwickeln.
Weisheit
Auf der Grundlage der Sammlung wächst die dritte Stufe vom Buddha-Weg des Erwachens: Klarblick und die Entwicklung von Weisheit. In unserem Leben gibt es vieles, das wir nicht sehen. Entweder sind wir zu geschäftig, um zu sehen, oder wir haben die Fähigkeit, auf präzise Weise zu sehen, vergessen beziehungsweise erst gar nicht entwickelt. Durch ruhiges und gewissenhaftes Beobachten des Körpers, des Herzens und des Geistes wachsen Verstehen und Weisheit.
Weisheit entsteht, wenn wir direkt die Grundlage unserer Erfahrung beobachten. Wir lernen in dem Maße, in dem wir in der Lage sind, völlig im Jetzt zu leben, statt uns in Träumen, Plänen, Erinnerungen und inneren Selbstgesprächen zu verlieren. Ob man eine Tasse Tee trinkt und dabei völlig bei der Sache ist oder ob man unterdessen an fünf andere Dinge gleichzeitig denkt, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Einen Spaziergang im Wald zu machen und wirklich dort zu sein, ist etwas völlig anderes, als beim Gehen unentwegt zu plaudern, über einen Besuch in Disneyland nachzudenken, das Menü fürs Abendessen zu entwerfen oder sich Geschichten auszumalen, die man später seinen Freunden erzählen will, um zu beweisen, was für ein großartiger Waldspaziergang dies doch war. Nur wer ganz und gar im gegenwärtigen Augenblick verweilt, kann die grundlegenden Fragen des Herzens beantworten: Nur im zeitlosen Augenblick können wir uns jener intuitiven, stillen Erkenntnis der Wahrheit nähern, und nur durch diese intuitive Weisheit können wir uns befreien.
Erforschen und Beobachten
Weisheit erwächst aus dem klaren Sehen in jedem Augenblick. Wir sehen dann das Entstehen und Vergehen unserer Erfahrung und auch, wie wir uns dazu verhalten. Dies geschieht durch sanftes und gewissenhaftes Untersuchen der Vorgänge in Körper und Geist und durch unvoreingenommenes Erforschen der Beziehung dieses Körpers und Geistes zur gesamten Umwelt. Einsicht kann sich nur entwickeln, wenn dieses Beobachten und tiefe Fragen stets an erster Stelle steht. Zunächst geht es darum, den Geist zu sammeln und zu beruhigen, doch dann müssen wir ihn beobachten, prüfen, seine Eigenarten und Gesetze untersuchen.
Durch Meditation lernen wir mehr über die Begierde, wir erkennen ihre Wurzeln, erkennen, ob sie angenehm oder leidvoll ist, und wir sehen, wie sie entsteht und unser Leben beeinflußt. Ebensogut können wir Augenblicke der Stille und Zufriedenheit beobachten. Das gleiche gilt für die inneren Prozesse von Ursache und Wirkung, die Gesetze des Karma. Auch das Gesetz der Unbeständigkeit kann sich uns im Lichte unserer Aufmerksamkeit enthüllen, und wir können erkennen, ob es irgend etwas in unserer Erfahrung gibt, das sich nicht verändert. Während die Dinge sich verändern, können wir weiterhin beobachten, wie das Anhaften wirkt und wie Spannungen und Festhalten-Wollen in unserem Körper und Geist entstehen. Wir können beobachten, was unser Herz verschließt, und herausfinden, wie wir es öffnen können. Vielleicht entdecken wir im Laufe der Zeit bisher unbekannte Tiefen der Stille in uns, und Lichter, Visionen oder andere neuartige innere Erfahrungen erschließen sich uns. Auch unseren Schatten können wir erforschen, indem wir unser Gewahrsein auf unsere Ängste und Schmerzen und auf die tiefen Gefühle richten, die wir so lange unterdrückt haben. Einsichten über die psychischen Muster, die unser Leben bestimmen, können auftauchen, und die Funktionsweise jenes ununterbrochen kreisenden Rades kann sich offenbaren, das wir als Persönlichkeit bezeichnen. Wenn wir diesen Geist des Erforschens und des Gewahrseins auf alle unsere Beziehungen zur Welt ausdehnen, kann uns unsere Beobachtung zeigen, daß unsere Grenzen in Wahrheit Illusionen sind, und uns den Weg weisen, wie wir das Innere und das Äußere wahrhaft miteinander verbinden können.
Darüber hinaus führt uns unser Forschen zu den grundlegendsten spirituellen Fragen, nämlich denen über unser eigenes Wesen. Wenn alles, was wir beobachten, sich verändert, was können wir dann in diesem Prozeß als »ich selbst« definieren? Wir können erkennen, welche Konzepte oder Körperbilder oder welches tiefe Selbstgefühl wir als »ich« oder »mein« ansehen, also als das, was wir sind, und dann diese ganze Struktur in Frage stellen. Und vielleicht gelangen wir – wenn wir ganz ruhig werden – zu etwas, das über unser begrenztes Selbstgefühl hinausgeht, zu etwas, das still, zeitlos und universal ist.
Weisheit ist weder eine bestimmte Erfahrung noch eine Folge von Ideen oder Erkenntnissen, die gesammelt werden müssen. Vielmehr handelt es sich um einen fortlaufenden Entdeckungsprozeß, der sich entfaltet, wenn wir in innerem Gleichgewicht und mit vollem Gewahrsein in jedem Augenblick leben. Er erwächst aus unserer Aufrichtigkeit und aus unserer echten Offenheit und kann uns in eine völlig neue Welt der Freiheit führen.
Einsichtsmeditation ist ein Weg des Entdeckens, geradlinig, direkt und ohne Schnörkel. Dieser Weg ist zwar einfach, aber keineswegs leicht. Obgleich die Formen variieren, ist die authentische Übung der Einsichtsmeditation eine stets gleichbleibende Suche: Es geht darum, eine Grundlage für harmonisches Handeln zu schaffen, Geist und Körper zu sammeln und die Gesetze des Lebens durch die eigene, wahrhaftige, gewissenhafte und direkte Beobachtung zu erkennen. Wenn wir die Methode des Übens verstanden und erkannt haben, daß ein meditatives Leben den gesamten Prozeß des Erwachens umfaßt, bleibt uns nur noch eins zu tun: Wir müssen uns an die Arbeit machen.
J. K.
Übung: Aus den Fünf Empfehlungen lernen
Wählen und üben Sie eine oder mehrere der fünf grundlegenden Empfehlungen und versuchen Sie, sie zur Entwicklung und Stärkung der Achtsamkeit zu nutzen. Arbeiten Sie mit jeder Empfehlung gewissenhaft eine Woche lang, überprüfen Sie anschließend, was dies bewirkt hat, und wählen Sie dann für die folgende Woche eine andere Empfehlung. Hier ein paar Vorschläge für die Arbeit.
1. Nicht töten: Achtung dem Leben gegenüber. Versuchen Sie eine Woche lang, keiner lebenden Kreatur absichtlich in Gedanken, Worten oder Taten Leid anzutun. Werden Sie sich insbesondere der lebenden Wesen in Ihrer Umgebung bewußt (der Menschen und Tiere und sogar der Pflanzen), die Sie gewöhnlich ignorieren, und entwickeln Sie auch ihnen ge-genüber ein Gefühl der liebevollen Zuwendung und Achtung.
2. Nicht stehlen: sorgfältiger Umgang mit materiellen Gütern. Bemühen Sie sich eine Woche lang, jeden Gedanken der Großmut, der spontan Ihrem Herzen entspringt, in die Tat umzusetzen.
3. Enthaltung falscher Rede: aus dem Herzen sprechen. Bemühen Sie sich eine Woche lang, nicht zu klatschen (ganz gleich, ob im Guten oder im Bösen) und nicht über Menschen zu sprechen, die nicht anwesend sind.
4. Sexuelles Fehlverhalten vermeiden: Bewußtheit in der Sexualität. Bemühen Sie sich eine Woche lang, gewissenhaft zu beobachten, wie oft sexuelle Gefühle und Gedanken in Ihrem Bewußtsein auftauchen. Achten Sie jedesmal darauf, welcher Geisteszustand damit verbunden ist, ob es Liebe, Spannung, innere Getriebenheit, Zuneigung, Einsamkeit, Bedürfnis nach Kommunikation, Gier, Lust, Aggression oder was auch immer ist.
5. Rauschmittel nicht exzessiv konsumieren. Bemühen Sie sich eine Woche oder einen Monat lang, alle Rauschmittel und suchtauslösenden Mittel zu meiden (Wein, Marihuana, sogar Zigaretten und Koffein, wenn Sie wollen). Beobachten Sie die Impulse, diese Stoffe zu benutzen, und werden Sie sich dessen bewußt, was im Herzen und im Geist vorgeht, wenn die Impulse auftreten.
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Warum meditieren?
Anfängern in der Meditation und manchmal auch Meditierenden mit langjähriger Übungserfahrung stellt sich hin und wieder die Frage: »Warum üben wir eigentlich?« Regelmäßiges Meditieren erfordert soviel Anstrengung und Hingabe, daß die Frage nach dem Wert und Sinn der Meditation durchaus ihre Berechtigung hat. Meditation zielt darauf zu öffnen, was in uns verschlossen ist, auszugleichen, was reaktiv ist, und zu erforschen, was verborgen ist. Dies ist die Antwort auf die Frage, warum wir üben. Wir üben, um uns zu öffnen, um einen Gleichgewichtszustand in uns zu schaffen und um uns zu erforschen.
Öffnen, was verschlossen ist
Was ist verschlossen in uns? Unsere Sinne sind verschlossen, unser Körper ist verschlossen. Wir verbringen einen so großen Teil unserer Zeit verloren in Gedanken, Urteilen, Phantasien und Tagträumen, daß wir der unmittelbaren Erfahrung unserer Sinne kaum Aufmerksamkeit schenken – dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und in unserem Körper empfinden. Da wir häufig zerstreut sind, ist unsere Sinneswahrnehmung getrübt. Werden Gewahrsein und Konzentration durch die Meditation stärker, so verbringen wir nicht mehr so viel Zeit in Gedanken, wodurch wir unsere Sinneseindrücke sensibler und feiner wahrzunehmen vermögen.