- -
- 100%
- +
Damit begannen die fünf besten Jahre meines Lebens. Ich schlug nicht gleich ein, wie das Sling seinerzeit gelungen war; ich mußte mich erst zurechttasten und für diese Art von Schreiberei meinen Stil finden. Die Aufsichtsinstanzen des Verlages überwachten mich scharfen Auges und zu Tadel gern bereit. Indessen ich setzte mich durch. Nach einer gewissen Zeit war nicht mehr die Rede davon, daß ich durch einen anderen abgelöst werden könnte. Daß ich mit Sling verglichen wurde, ließ sich nicht vermeiden. Manche zogen ihn vor; andere fanden mich besser. Im Übrigen versuchte ich in keiner Weise, ihn nachzuahmen; sondern, indem ich die überlieferte Art im Ganzen beibehielt, machte ich meine Sache so, wie es meinem Wesen und meiner Begabung entsprach. Allmählich wurde auch aus mir ein Erfolg, und ich glaube, er stieg mit den Jahren; wenn ich auch nie Slings Popularität erreichte. Denn er unterstützte sein literarisches Werk durch persönliche Verbindungen, während ich aus der Isolierung nie völlig herauskam. In mancher Beziehung machte ich dieselben Erfahrungen wie er. Auch bei mir wuchs die Hochachtung vor dem deutschen Strafrichter, je länger ich ihn beobachtete. Umso größer freilich war dann die Enttäuschung, als er vor den Machthabern des Dritten Reiches überall völlig versagte. Auch ich empfand nach einer gewissen Zeit: jetzt ist es genug, ich sollte mich auf ein neues Gebiet werfen. Denn literarisch gesprochen waren schließlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Man sollte nicht glauben, daß etwa Totschläge aus Eifersucht einförmig werden können. Aber sie spielen sich ab wie über den selben Leisten geschlagen. Alle möglichen Fälle waren wiederholt und immer noch einmal vorgekommen, aus dem ganzen Strafgesetzbuch hatte ich schließlich nur zwei Verbrechen nicht erlebt: Verursachung einer Überschwemmung und Sodomie. Das erste stand einmal zur Verhandlung an, aber es wurde nichts daraus. Das zweite kam nie in Sicht. Einen Ersatz für meine Gerichts-Inquits zu finden, wäre auch für mich nicht leicht gewesen; aber auch mir wurde die Entscheidung abgenommen.
*
Wenn ich gefragt würde, was ich über diese Art von Journalistik denke und ob ich sie wieder aufnehmen möchte, so ist die Antwort nicht ganz einfach. Die Regel, daß Gerichte öffentlich verhandeln, in allen Kulturstaaten anerkannt, bedeutet keine bloße Formalität. Ihr Sinn ist vielmehr, daß die Richter in ihrer schicksalsvollen Tätigkeit kontrolliert werden sollen. Aber das Publikum, das in beschränkter Zahl zugelassen wird und sich auf ein paar Bänken im Hintergrunde drängt, von denen aus es meist nicht deutlich sehen noch verstehen kann, hat garkeine kontrollierende Macht. Sollte es sich einfallen lassen, Zustimmung oder Widerspruch zu äußern, so droht der Vorsitzende mit Räumung, die er ohne Weiteres durchführen kann. Sogar darf er Störenfriede kurzer Hand vor die Schranken rufen und bestrafen. Eine wirksame Öffentlichkeit stellt nur die Presse dar, und eine wirksame Kontrolle kann nur von ihr ausgehen.
Wenn es jemals wichtig war, die deutschen Gerichte unter Kontrolle zu nehmen, so ist es heute der Fall, nämlich um nachzuprüfen, wie sie jetzt, nach dem Dritten Reich, arbeiten und ob sie zum Recht zurückgefunden haben. Aber jene unbeschränkte Kritik, die wir uns damals herausnehmen durften, weckt doch starke Bedenken. Es gehört nämlich nicht viel dazu, ein Urteil abfällig zu kritisieren. Der Journalist, der das tut, verfügt zunächst einmal nicht über den vollen Umfang der erreichbaren Information, selbst wenn er der Verhandlung von Anfang bis zu Ende beigewohnt hat und selbst wenn ihm kein Wort entgangen sein sollte. Denn ihm steht nicht das Recht des Fragens zu, das er hätte ausüben dürfen, wenn er selbst ein Mitglied der Urteilskammer gewesen wäre. Ferner aber: es ist kinderleicht, als Außenstehender ohne richterliche Verantwortung milder zu sein als das Gericht, oder auch strenger. Wer weiß, wie der Spruch dieses selben Menschen ausgefallen wäre, wenn er mit von ihm abgehangen hätte, in seiner Eigenschaft als Richter unter seiner Berufspflicht oder als Geschworener oder Schöffe unter seinem Eid; ein Spruch, den er vor seinem Gewissen verantworten müßte. Kritik ist gewiß im Ganzen heilsam, nicht, weil Richter das Recht zu beugen pflegen, sondern weil das, was sie für göttliches Recht halten, abhängt von ihren sozialen Vorurteilen und ihren polischen Anschauungen. Daß ihre Welt nicht die ganze Welt bedeutet, und daß ihre Zeit nicht ewig dauert, das sollte ihnen immer wieder ins Bewußtsein gerufen werden. Aber um dieses Amt auszuüben, dazu gehört ein überlegener, unvoreingenommener und höchst gewissenhafter Mensch. Ich glaube, daß Sling mit seiner wohlwollenden Überwachung im Wesentlichen Gutes gestiftet hat, und ich darf vielleicht dasselbe für mich in Anspruch nehmen. Indessen daß ungeprüft jeder, den irgendeine Redaktion auf die Gerichte schickt, ohne Beschränkung kritisieren darf, sogar noch bevor ein Urteil gefällt worden ist – in angelsächsischen Ländern völlig undenkbar –, das heißt denn doch wohl, den Grundsatz übertreiben. Öffentlichkeit der Gerichte ist heilsam und notwendig, aber Schutz der Richter darf darunter nicht leiden.
Denn obwohl in einer Verhandlung manches sich abspielt wie auf der Bühne, so ist doch das Gericht kein Theater. Und grade darin liegt die Hauptgefahr der unbeschränkten Kritik: sie kann den Richter dazu verleiten, für die Presse zu spielen. Es gibt Richter, denen es völlig gleichgültig ist, was die Zeitungen sagen. Aber es fehlt auch nicht an solchen, die erstens in der Zeitung überhaupt erwähnt und zweitens gelobt sein wollen; namentlich wenn sie sich eine günstige Wirkung auf ihre Karriere versprechen davon, daß sie mit einem gewissen Strom der öffentlichen Meinung übereinstimmen oder übereinzustimmen scheinen. Ich war schließlich im Moabiter Kriminalgericht bekannt, und man wußte im Großen und Ganzen, wie ich über Dinge und Menschen dachte. Nicht ganz selten habe ich bemerkt, wie der Verhandlungsleiter, wenn ich den Saal betrat, seinen Ton gegenüber dem Angeklagten änderte.
Aber es bleibt für den Journalisten im Gerichtssaal noch eine andere Aufgabe, die ich für außerordentlich wichtig halte und von deren geschickter und verständnisvoller Lösung ich eine höchst segensreiche Wirkung erwarte; nicht auf das Gericht, aber auf die Leser. Der Bürger im Allgemeinen ist überzeugt, er sei unbestraft, weil er nie gegen die Gesetze verstoßen habe; und er habe nie gegen sie verstoßen, weil er ein anständiger Mensch sei. Er teilt infolgedessen seine Mitbürger in zwei Klassen: die Guten, die man daran erkennt, daß sie unbestraft sind; und die Bösen, das sind die Vorbestraften, mit denen man nichts zu tun haben darf. Ihm muß klar gemacht werden, daß er vielleicht nur deswegen nie gegen die Gesetze verstoßen hat, weil er nie in Versuchung geführt worden ist; und man muß ihm einen Begriff geben von der Schwierigkeit und Härte des Lebens, das diejenigen zu führen gezwungen sind, denen es nicht so gut geht wie ihm, besonders das Proletariat oder auch die untere Beamtenschaft, die eine Familie zu ernähren und Kinder aufzuziehen haben mit einem monatlichen Einkommen von 150 oder 120 Mark (nach Maßstäben vor dem Dritten Reich). Man muß diesen Bürger auch darüber aufklären, daß die Strafe nicht damit abgetan ist, daß der Verurteilte auf eine gewisse Zeit eingesperrt wird; daß vielmehr das Martyrium erst anfängt, wenn er wieder ins Leben tritt und die Gesellschaft in Feindseligkeit und Mißtrauen verschlossen findet. Der ahnungslose Hochmut der Unbescholtenen drängt den Menschen, der einmal gestrauchelt ist, erbarmungslos ins Verbrechen zurück. Vor dem Dritten Reich bemühten sich in Deutschland warmherzige Menschen, hier helfend einzugreifen, indem sie Aufklärung zu verbreiten suchten und dem Strafentlassenen materiell und moralisch beistanden. Unter den Nazis, mehr unter ihrer Dummheit als unter ihrer Rohheit, sind alle diese Anfänge wahrscheinlich zerstört worden. Doch braucht nicht Deutschland allein solche öffentliche Schulung, auch anderswo weiß der Bürger zu wenig von den Zusammenhängen zwischen Not und Verbrechen. Die Gerichtsberichterstattung nach der soziologischen Seite hin zu erweitern, bleibt also eine dringende und lohnende Aufgabe. Aber auch hierfür müßten die Schreiber mit Sorgfalt ausgewählt werden. Denn es darf auch wieder nicht auf eine zu große Nachsicht oder gar auf eine Verherrlichung des Rechtsbrechers hinauslaufen, auf eine neue Art von Räuberromantik.
*
Es konnte nicht fehlen, daß, während ich das Kriminalgericht in seinem Tagewerke mit meiner Feder begleitete, die Zeitgeschichte sich widerspiegelte. Da war die große Arbeitslosigkeit, für ungezählte Tausende die Jugendzeit ohne Hoffnung und Freude. Da war der schwelende Bürgerkrieg zwischen den Angehörigen dieser Jugend, von denen die einen in den Radikalismus von rechts, die anderen in den Radikalismus von links gerieten, niemand wußte zu sagen, nach welchem Gesetz der Auswahl. Da waren die Prominenten der Nazis, zynisch und selbstgewiß auf den nahen Tag wartend, der sie an die Macht bringen würde. Nicht wenige von ihnen habe ich in Moabit auftreten sehen. Hitler selbst erschien einmal als Angeklagter, in einem belanglosen Prozeß wegen eines Pressevergehens, einmal als Zeuge für eine Gruppe halbwüchsiger Anhänger, die einen Überfall auf eine Gruppe der Gegenseite verübt hatten. Dabei fanden die Anwälte Gelegenheit, dem nichtsahnenden und hilflosen Gericht auf der Nase herumzutanzen, zur höhnischen Freude der Parteigenossen im Zuschauerraum. Goebbels wurde vernommen, von Anhängern bei der Ankunft und bei der Abfahrt mit Jubel gefeiert, durfte reden, was ihm beliebte, während niemand ihn zu zwingen wagte, auf die Fragen zu antworten, die ihm vorgelegt wurden. Gregor Strasser mußte sich verteidigen, auch wegen Pressevergehens, und außer daß er sich nicht zu schade war, die jüdischen Anwälte der Gegenseite mit billigen antisemitischen Flegeleien zu ärgern, machte er den Eindruck eines Kumpanen, mit dem sich gut arbeiten und gut pokulieren läßt. Graf Helldorf, im Dritten Reich Polizeipräsident von Berlin, stand vor Gericht als Anführer des Landfriedensbruches am Kurfürstendamm, mit dem die nahe Zukunft wetterleuchtete. Er setzte gegen seine Ankläger eine kalte Gleichgültigkeit, die ihm im Kugelregen wohl angestanden hätte; warum man sich so aufregte, fragte er verwundert, es wären „doch blos ein paar alte Juden verprügelt worden“. Frank, der spätere Reichsjuristenführer, wiegte sich selbstgefällig in wohlberechneter Urbanität der Umgangsformen und ließ von Zeit zu Zeit in beliebig markierter Entrüstung seine orgelartige Stimme dröhnen. Auch der entsetzliche Freisler plädierte, damals nichts als ein unbedeutender Anwalt aus Kassel, später Präsident der berüchtigten Volksgerichte; ein aufgeregter Psychopath ohne Geist und Würde.
Die Zeitgeschichte spiegelte sich auch in solch beklagenswerten Prozessen wie dem Familienstreit zwischen dem preußischen Geheimrat Caro und dem tschechischen Kohlenmagnaten Petschek, wobei die beiden Gegner sich auf wohlerzogene Weise mit Dreck bewarfen. Geheimnisvoll kündigte sich hier das Verhängnis an, das sich über der europäischen Judenheit entladen sollte. Und eine Vorahnung der Zukunft lag auch über dem Bruderzwist im Hause Ullstein, bei dem Georg Bernhard, übel beraten, sich auf die falsche Seite stellte. Er bereitete sich eine Niederlage, die ihn seine Stellung kostete. Damit schied er nicht nur von der „Vossischen Zeitung“ und dem Ullsteinhaus, sondern von der Presse überhaupt, wenn er auch mit Artikeln noch hier und da zu Worte kam. Vor den Nazis floh er nach Paris, dann gelang es ihm, ihnen ein zweites Mal nach New York zu entkommen. Dort starb er jämmerlich in einem Hospital des Negerviertels Harlem.
Übrigens beschränkte sich meine Tätigkeit nicht auf das Moabiter Kriminalgericht. Vergebens freilich bemühte ich mich, den Zivilprozeß für unsere Art von Betrachtung zu erobern. Aber dabei stieß man gegen zu viele private Interessen, und der Versuch mußte bis auf gelegentliche Spezialfälle aufgegeben werden. Indessen da waren die vortrefflichen, unparteiischen und weitsichtigen Arbeitsgerichte, aus deren Verhandlungen man meistens Belehrung und Genugtuung davontrug. Sie blieben unparteiisch und weitsichtig auch, als sie schon über Entlassungen unerwünschter Personen durch die Nazis, zum Beispiel aus dem Rundfunk, zu entscheiden hatten. Vor dem Bühnenschiedsgericht durfte ich die vollkommenen, damals noch völlig unberühmten, aber schon großherzig zur Schau gestellten Beine der jungen Marlene Dietrich bewundern, die sich zu verantworten hatte wegen eines Kontraktbruches, zu dem sie sich gezwungen glaubte, um ihr erstes Engagement in Hollywood anzutreten. Sie mußte Konventionalstrafe zahlen, aber wenn sich je eine Ausgabe gelohnt hat, so war es diese. Gerichte der Behörden zog ich in meinen Kreis, gelegentlich bot das Kammergericht einen geeigneten Fall. Dem wieder aufgenommenen Prozeß gegen Bullerjahn, einen kleinen Angestellten, der wegen Landesverrates furchtbar hart verurteilt worden war, wohnte ich vor dem Reichsgericht in Leipzig bei und war Zeuge des Freispruches. Wichtige Kriminalprozesse führten mich in die Provinz. Im Landgericht Essen, während eines Aufsehen erregenden Mordprozesses, stand eine Gruppe von Presseleuten auf dem Flur in Bereitschaft für die Telephonverbindung mit ihren Redaktionen. Da trat ein älterer Herr ohne Hut und Mantel, also offenbar zum Hause gehörig, möglicher Weise der Gerichtspräsident, auf uns zu, zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf mich und redete mich im schroffsten Ton eines unzufriedenen Vorgesetzten an: „Sind Sie Inquit?“ – Ich schreibe unter der Chiffre Inquit. – „Sind Sie Jurist?“ – Nein, ich bin nicht Jurist. –“ Was sind Sie denn?“ – Von Studium bin ich Germanist. – „Treiben Sie diesen Beruf schon lange?“ – Seit ein paar Jahren. – „Macht Ihnen das denn Spaß?“ – Ich habe viel Freude daran. – Und dann, immer mit der Stimme vorwurfsvoller Gereiztheit: „Lese Ihre Berichte stets mit dem größten Vergnügen. Morjen!“ Drehte sich um und ließ mich verblüfft stehen.
*
Am 30. Januar 1933 war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden. Ahnungslos über das, was bevorstand, fuhren wir alle in unserer täglichen Arbeit fort, und so schrieb ich auch weiter meine Gerichts-Inquits. Am 31. März, etwa einen Monat nach dem Reichstagsbrand, zog ein nationalsozialistischer Stoßtrupp durch die Berliner Gerichte und trieb die Juden aus, jüdische Richter, jüdische Ankläger, jüdische Rechtsanwälte, jüdische Pressevertreter. Der Vorsitzende übt bekanntlich die Sitzungspolizei aus. Er hätte zum Schutze seiner Verhandlung bewaffnete Hilfe herbeirufen müssen, er hätte es wenigstens versuchen sollen. Nichts dergleichen geschah irgendwo. An manchen Stellen wurde der körperliche Hinauswurf vollzogen, anderwärts kam der Gerichtshof dem schändlichen Schauspiel zuvor, schloß die Sitzung und machte sich davon.
Eine Gunst des Himmels bewahrte mich davor, persönlich die Schmach zu erdulden: zufälliger Weise war ich an jenem Tage nicht in Moabit. Wie ich mich verhalten hätte, ob ich gegangen oder eigensinnig geblieben wäre, bis sie mich die Treppe hinunter schmissen, vermag ich hinterher nicht zu sagen. Von dieser Stunde an war das Betreten des Gerichts den jüdischen Pressevertretern untersagt.
Immer noch nicht im Bilde über den brutalen Ernst der Lage, schlug ich Goetz vor, ich würde wieder zum Dienst der Lokalredaktion antreten. Er stimmte zu, vorbehaltlich der Einwilligung des Verlages. Der Verlag ließ mir sagen, er sei keineswegs einverstanden, ich könnte „sowieso nicht bleiben“, ich möchte Vorschläge für mein Ausscheiden machen.
Das hieß Vernichtung meiner Existenz ohne die Möglichkeit, in Deutschland irgendeinen Unterschlupf zu finden. Meine Lebenshaltung war sofort aufs Äußerste zu reduzieren, aber die Wohnung und sonstige Verpflichtungen konnte ich nicht einfach loswerden. Meine Vorschläge stützten sich auf den Vertrag mit Ullstein, wonach Kündigung nur möglich war, zu einem bestimmten Termin mit einer Frist von sechs Monaten. Die daraus sich ergebende Summe hielt ich für den Mindestbetrag, den ich fordern mußte, um mich abzuwickeln und den Übergang zu einem neuen Leben zu finden. Das Haus Ullstein, vertreten durch seinen völlig unsentimentalen Verlagsdirektor Richard A. Müller, ging keineswegs darauf ein, zeigte keinerlei Verständnis für meine Lage, leugnete mir ins Gesicht, daß diese Maßnahme antisemitisch wäre, und bot mir schließlich eine Pauschalabfindung von 6000 Mark, weniger, als mir rechtlich zustand. Es blieb mir nichts übrig als zuzustimmen. Am 4. Mai packte ich in der Redaktion meinen Kram zusammen, eine Bureaujacke, ein bißchen Geschirr, einen Seifenbehälter, ein paar Skripturen, und ging. Mit merkwürdig wenig Erschütterung; aber die niedergehende politische Katastrophe und die persönliche Sorge um die Zukunft füllten das Bewußtsein und ließen keinen Raum für Gefühle der Wehmut.
Ich war einer der ersten oder vielleicht überhaupt der erste im Ullsteinhaus, die unter dem Druck der Nazis ausschieden. Mein letzter Gerichtsbericht trug die ominöse Überschrift „Wie schlecht ist ein Mensch?“ Er handelte von einem kleinen Mädchen, das ein Bösewicht in seine Wohnung gelockt hatte, um einen Lustmord an ihm zu begehen. Das Kind besorgte ihm auf seinen Wunsch Zigaretten und ahnte nicht im Entferntesten, wie schlecht ein Mensch sein kann. Aber auch wir Erwachsenen ahnten es damals noch nicht.
Damit hörte ich auf, von Berufs wegen zur Presse zu gehören. Im Ausland, abgesehen von ein paar gelegentlichen Beiträgen, habe ich den Anschluß nicht wieder gefunden.
Ein Mensch wie ich, Autobiographie, 1948 (Auszug)
Anmerkungen
Rundreise durch Holland ] Vgl. Goldsteins Schilderungen „Pfannkuchen in Westkapelle“ (Vossische Zeitung, Nr. 128, 30. 5. 1928), „Das kleine Land am Meer“ (ebd., Nr. 277, 14. 6. 1928) sowie „Das kleinste Haus von Amsterdam“ (Berliner Morgenpost, Nr. 143, 16. 6. 1928).
Sling ] Paul Felix ‚Sling‘ Schlesinger (1878–1928) trat nach 1900 als Musikkritiker in den Ullstein-Konzern ein, seit 1916 bei der Vossischen Zeitung, im Ersten Weltkrieg als Korrespondent in Genf. – Schlesingers stilbildende Reportagen und Feuilletons erschienen gesammelt in Das Sling-Buch (Berlin 1924), Richter und Gerichtete (Berlin 1929) sowie in Der Fassadenkletterer vom „Kaiserhof“ (Berlin 1990) und Die Nase der Sphinx oder wie wir Berliner so sind (Berlin 1987). Zum Verhältnis zwischen Inquit und Sling siehe unten, Nachwort.
Die elf Scharfrichter ... Frank Wedekind ] Wedekind (1864–1918) trat nach seiner Haft wegen Majestätsbeleidigung (1901–1903) als Chansonnier dem Münchner Kabarett bei. Die sog. ‚Exekutionen‘ der Truppe um Leo Greiner, Robert Kothe und Rudi Weinhöppel umfaßten Gedichtrezitationen, Chansons, Bänkelgesänge, Sketche, Puppenspiele usw.
Katastrophe von Echterdingen ] Das Luftschiff LZ 4 mußte während einer Probefahrt am 5. August 1908 notlanden, havarierte und verbrannte in Anwesenheit von 50.000 Schaulustigen. Der Unfall erregte weltweites Aufsehen.
Theaterstücke ... Roman, Kinderbücher ] Vgl. Paul Schlesinger, Urlaub von der Liebe. Roman (Berlin, Wien 1918), Das Kopierbuch der Liebe. Ein Roman auf Seidenpapier (München 1921), Stefan und Elsa Hirrlinger. Ein Roman aus der Zeit vor dem Kriege (Berlin 1922), Kasper beim Teufel (Berlin 1923), Kasper bei den Menschenfressern (Berlin 1923), Kasper am Nordpol. Eine lustige Geschichte (Berlin 1923), Der dreimal tote Peter. Eine Komödie nach dem alten Pitaval (Berlin 1927), Tausch im Ring. Roman (Berlin 1927).
Richter und Gerichtete ] Siehe Inquits Besprechung der Sammlung, unten.
Julius Elbau ] 1881–1965, Redakteur der Heilbronner Zeitung (1901–1903), bis 1914 Chefredakteur der Kleinen Presse, im Ersten Weltkrieg Herausgeber der bei Ullstein erscheinenden ‚Wochenchronik‘ Kriegs-Echo; 1918 Wechsel zur Vossischen Zeitung, seit 1920 Stellvertreter des Chefredakteurs Georg Bernhard, dessen Posten er 1930 übernahm. 1938 Emigration in die USA, ebenda freier Publizist, Übersetzer und Mitarbeiter am New Yorker Staats-Zeitung und Herold sowie Aufbau. – Goldstein und Elbau blieben das gesamte Exil hindurch in freundschaftlichem Kontakt.
Franz Ullstein ] 1868–1945, dritter der fünf Söhne der Konzerngründers Leopold Ullstein (1826–1899), seit 1894 im Unternehmen. Neben Hans (1859–1935) und Louis Ullstein (1863–1933), den Rechts- bzw. Wirtschaftsleitern, sowie Rudolf (1874–1964) und Hermann Ullstein (1875–1943), den Herstellungs- bzw. Buchverlagsleitern, galt Franz Ullstein als eigentlicher Chef, der die zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften des Hauses koordinierte. Einen Abriß der Familien- und Verlagsgeschichte der Ullsteins gibt Goldstein in „Rudolf Ullstein. Der letzte der ‚Großen Fünf‘„, Aufbau, 5. 3. 1954, S. 7–8.
Vom Tagewerk der Justiz ] Siehe unten.
Georg Bernhard ] 1875–1944, Bankbeamter, Buchhalter und Börsenvertreter, seit 1898 im Ullstein-Verlag, ab 1916 Dozent für Bank- und Börsenwesen an der Berliner Handelshochschule. 1920–1930 Chefredakteur der Vossischen Zeitung, daneben Vertreter zahlreicher öffentlicher Ämter. 1933 Emigration nach Frankreich, Mitglied verschiedener Exilorganisationen und Gründer bzw. Leiter des Pariser Tageblatts, später Pariser Tageszeitung, in der Goldstein 1939 eine Reihe Artikel veröffentlichte (s. unten, Nachwort).
Banderolen ] Siehe unten.
Hitler ... als Zeuge ] Siehe unten, „Adolf Legalité. Hitlers Bekenntnis“.
Goebbels ] Siehe unten, „Goebbels – Theater vor Gericht“.
Gregor Strasser ] Siehe unten, „Der hochwertige Teil. Der Nationalsozialist Strasser vor Gericht“.
Graf Helldorf ] Siehe unten, „Stolz und aufrecht. Widersprüche im Helldorf-Prozeß“ sowie „Zauberlehrling am Kurfürstendamm. Die Urteilsbegründung im Helldorf-Prozeß“. Ein weiteren Prozeß gegen Helldorf dokumentierte Inquit in „Graf Helldorfs Zusammenstoß“, unten.
Frank ] Hans Frank (1900–1946), ab 1927 Verteidiger in NS-Prozessen, 1930 Leiter der Rechtsabteilung der NSDAP-Reichsleitung, 1933 bayerischer Justizminister und Präsident der Akademie für deutsches Recht. Als ‚Generalgouverneur‘ von Polen seit 1939 verantwortlich für die Enteignung, Verschleppung und Ermordung von Hunderttausenden von Juden und Polen.
Freisler ] Roland Freisler (1893–1945), Anwalt in Kassel, seit 1925 Parteimitglied, wie Frank wiederholt Verteidiger in NS-Prozessen. 1934 Staatssekretär im Reichsjustizministerium, ab 1942 Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes.
Caro ... Petschek ] Nikodem Caron (1871–1935), Chemiker und Unternehmer, mit Adolf Frank Entwickler der wegweisenden Kalkstickstoffsynthese, Schwiegervater des Sohnes von Ignaz Petschek (1857–1934), tschechoslowakischer Montanunternehmer, Ende der 1920er Jahre einer der bedeutendsten Braunkohleförderer Deutschlands.
Bruderzwist im Hause Ullstein ] In einem Prozess Ullstein vs. Ullstein hatte Georg Bernhard gefälschtes Beweismaterial zusammengetragen, um die Entlassung des damaligen Verwaltungsratsvorsitzenden Franz Ullstein durchzusetzen. Ende 1930 mußte Bernhard daraufhin das Amt des Chefredakteur der Vossischen Zeitung niederlegen.
Entlassungen ... aus dem Rundfunk ] Siehe unten, „‚Nicht geeignet‘. Die Niederlage der Funkstunde“.
Marlene Dietrich ] Siehe unten, „Sex Appeal. Marlene Dietrich vor dem Bühnenschiedsgericht“.
Bullerjahn ] Walter Bullerjahn, Verwalter bei den Berlin-Karlsruher Industriewerken, war unter dem Vorwurf, der Interalliierten Militärkommission die Existenz illegaler Waffenlager verraten zu haben, 1925 nach einem spektakulären, die Rechte des Angeklagten grob verletzenden Indizienprozeß zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Rehabilitation 1932.
Goetz ] Fritz Goetz (1876–1957), seit 1904 im Ullstein-Konzern, Chefredakteur für Lokales bei der Vossischen Zeitung sowie Redakteur bei der Berliner Morgenpost; Dozent am Berliner Institut für Zeitungswissenschaft und Vorsitzender der Kommunalpolitischen Pressekonferenz. 1933 zeitweise im KZ Dachau, Emigration nach Frankreich, 1938 Übersiedlung nach Palästina.





