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Bei dem letzten theoretischen Text in dieser Anthologie handelt es sich um ein Fragment aus der Legende des Jungen Polens (1909), neben Ideen (1910), dem wichtigsten theoretischen Werk Brzozowskis, in dem er viele seiner früheren Äußerungen zur Kultur der Jahrhundertwende und insbesondere zur polnischen Literatur revidiert. Eines der Hauptprobleme, die in der Legende des Jungen Polens verhandelt werden, ist die Frage nach der Authentizität, die hinsichtlich verschiedener Aspekte diskutiert wird und eine Vielzahl an Themenbereichen umfasst: Religiosität, Humor und Komik, Autonomie und das Erbe der Romantik in der polnischen Kultur. Das Fragment ROMANTIK UND MODERNE rückt eine Gegenüberstellung der Romantik und des „Jungen Polens“ (wobei als „Junges Polen“ die modernistische polnische Literatur verstanden wird) in den Mittelpunkt, bei der die kraftvolle Authentizität und Individualität der polnischen Romantik von dem Epigonentum des „Jungen Polens“ kontrastiert wird. Die polnische Romantik war ein kulturelles Phänomen, mit dem Brzozowski Zeit seines Lebens in einem ständigen Dialog blieb, indem er versuchte ihre Vielfalt und Originalität intertextuell erfahrbar zu machen: Das letzte Kapitel seines frühen Buches über Fjodor Dostojewski16 ist dem romantischen Mystiker Andrzej Towiański (1799–1878) gewidmet, in der Dialogschrift Einführung in die Philosophie (Wstęp do filozofii, 1906) tritt der romantische Philosoph August Cieszkowski (1814–1894) als Gesprächspartner auf, der Roman Flammen – die Geschichte über Revolutionär:innen im Zarenreich – beinhaltet mehrere Anspielungen auf das Werk von Adam Mickiewicz (1798–1855) und Seweryn Goszczyński (1803–1876).17 Laut Brzozowski ist es der polnischen Romantik gelungen die polnische Geschichtserfahrung samt der historischen Besonderheiten Ost- und Mitteleuropas in den Rang moderner Weltliteratur zu erheben. In Werken von Goszczyński, Mickiewicz, Juliusz Słowacki oder Antoni Malczewski stellen lokale Themen aus Belarus oder der Ukraine keine Exotik dar, sondern eine authentische Abbildung harter Lebens- und Geschichtserfahrungen, in denen sich die moderne conditio humana widerspiegelt. Die polnische Romantik thematisierte auf eigene Weise die Grundprobleme der Moderne: nicht nur jene Daseinszustände, die zukünftig als „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) oder „transzendentale Obdachlosigkeit“ (György Lukács) bezeichnet werden,18 sondern sie warf auch die Frage nach Emanzipationsmöglichkeiten auf. Dies kennzeichnete auch die romantische Vorstellung des ‚Polentums‘ in bezeichnendem Maße und verlieh ihr eine Dimension (selbst-)ironischer Ambivalenz. Mit der Zeit aber, so Brzozowskis Diagnose, wurde die polnische Romantik in der populären Vorstellung auf einen kuriosen Nationalismus reduziert, der für eine besondere Rolle Polens in der Weltgeschichte plädiere, jedoch außer pathetischen Standardfloskeln keine Errungenschaften mit sich bringe. Stattdessen führe er intellektuelle Faulheit und Ausreden herbei, um den kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne (insbesondere der Entfremdung) entkommen zu können.
Die Romantik war die Bewahrung des Glaubens in der realen Qual. Heute macht man aus ihr ein um des eigenen Stolzes willen täglich erneuertes Passionsspiel; die eigene unfruchtbare Existenz. Ich kann nichts tun, trotzdem aber glaube ich, rief die Romantik. Seht nur, wie ich glaube, ich tue ja nichts, wiederholen heute ihre Epigonen. Dort war Golgatha, hier Oberammergau. Dort war das Märtyrertum, hier der Wunsch, sich durch die „Qual“ vor der Arbeit zu drücken. (S. 81)
In ROMANTIK UND MODERNE ist auch eine Anspielung auf das Dramastück Die Ungöttliche Komödie (veröffentlicht 1835) des romantischen konservativen Dichters und Denkers Zygmunt Krasiński (1812–1859) zu finden, den Brzozowski wertschätzte. Die Handlung dieses Dramas spielt in einer imaginierten Zukunft, in der es zu einer demokratisch-atheistischen Revolution gegen die christlich-konservative Aristokratie kommt. Einerseits zeichnet Krasiński das schonungslose Porträt einer im Verfall begriffenen ‚alten Welt‘, andererseits porträtiert er die Revolutionär:innen als einen primitiven, zynischen und gewaltbereiten Mob, der sogar ihr eigener Anführer tief verachtet. Manch einer (wie Czesław Miłosz) vermochte in Krasińskis Drama die Hauptannahmen der geschichtsmaterialistischen Dialektik oder sogar eine Prophezeiung der kommunistischen Revolution zu erkennen.19 Der Kampf zwischen reaktionären und revolutionären Kräften wird in Die Ungöttliche Komödie sehr abstrakt dargestellt, ohne Verweise auf ein konkretes Land oder eine bestimmte Zeitperiode. Brzozowski beruft sich auf Krasińskis Werk als Beispiel für eine aufrichtige Auseinandersetzung mit den real konkurrierenden Weltanschauungen. Mit der romantischen Bereitschaft, die unterschiedlichen Weltbilder entschlossen neu zu durchdenken, wird die jungpolnische „Ohnmacht“ kontrastiert:
Hinter den hochmütigen Worten zu den Aufgaben der [heutigen] Literatur verbirgt sich feige Huldigung für geistige Laster und Schwächen, die fast absolute Unfähigkeit, sich angesichts der historischen Aufgaben klar und männlich auszusprechen. Wo gibt es eine Antwort auf die Frage nach unserem Verhältnis zum Christentum, zum Katholizismus, zur Demokratie, zu den Problemen der Befreiung der Arbeit[?] Das Junge Polen lebt am Körper seiner Gesellschaft, die in den großen, geschichtlichen Organismus des sich wandelnden Europa eingewachsen ist, […]– und hat sich kein einziges Mal bemüht, in diesem entsetzlichen Chaos eine klare und rücksichtslose Orientierung zu finden. (S. 88)
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Der Roman Flammen. Aus den hinterlassenen Aufzeichnungen des Michael Kaniowski (Płomienie. Z papierów po Michale Kaniowskim, 1908) ist das einzige vollendete Prosastück Brzozowskis und gilt als sein meistgelesenes Werk. Die Geschichte über einen polnischen Adligen, der ein Mitglied der russischen narodniki-Bewegung wird und sich an dem Attentat auf den Zaren Alexander II. (1881) beteiligt, wurde zwar zunächst als „russophil“ kritisiert, erwarb jedoch sehr schnell einen Kultstatus, und zwar nicht nur unter radikalen polnischen Intellektuellen; Flammen gehörte beispielsweise zu den wichtigsten Generationsromanen der radikalen zionistischen Jugend vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, in Galizien und in Palästina (Ryszard Löw erwähnt in diesem Kontext die Pfadfinderbewegung Hashomer Hatzair und die paramilitärische Gruppe Lechi).20 Der Vorwurf der Russophilie lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass Brzozowski eine Identifizierung des Fortschritts mit dem idealisierten ‚Westen‘ ablehnte und stattdessen Russland – von Polen zur damaligen Zeit vor allem mit der Freiheitsberaubung und Diskriminierung assoziiert – als ein alternatives Modernisierungsmodell darstellte. In Flammen zeigt er auf wie Russland, durch die Entstehung radikaler Bewegungen wie Narodnaja Wolja, an einem Geschichtsprozess teilnahm, der für die Formung einer modernen, selbstständigen Gesellschaft notwendig gewesen sei. Die einzigartige, durchdachte und opferbereite Radikalität war für ihn ein Beweis dafür, dass Russland Polen im Hinblick auf die angestrebte „geschichtliche Reife“ der sozialen und kulturellen Entwicklungen überboten habe. In diesem Sinne kann Brzozowskis Roman als ein Beitrag für die Diskussion über multiples modernities angesehen werden, indem er die Frage aufwirft, ob die Modernisierung tatsächlich immer nach „westlicher Art“ stattfinden muss.21
Für diesen Band werden vier charakteristische Fragmente des Romans ausgewählt, die nicht nur die Vielfalt der Themen illustrieren, die in Flammen vorkommen (Religion, Politik, sexuelle Gewalt, moderne Entzauberungsfrage), sondern auch Brzozowskis Verwurzelung in der russischen Kulturwelt. Flammen gehört, zusammen mit Dostojewskis Böse Geister (1873) und Joseph Conrads Under Western Eyes (1911), zu denjenigen politischen Romanen, denen es auf literarische Weise gelingt die Entstehung und Motivation radikaler, gewaltbereiter Gruppen im Zarenreich zu thematisieren und zugleich die Hauptsymptome des Unbehagens in der Moderne zu illustrieren.
Im ersten Kapitel wird einerseits ein idealisiertes Bild von einer lokalen Gemeinschaft entworfen und andererseits, auf geistreiche und emotional ergreifende Weise, ein sexueller Missbrauch mitsamt seiner schwerwiegenden Konsequenzen geschildert (Kapitel KATJA). Brzozowski, dessen Verständnis von der Rolle der Arbeiterbewegung durch Georges Sorels Philosophie geprägt wurde, porträtiert französische Arbeiter:innen als eine „echte Elite von Menschen, le pur sang der modernen Gesellschaft“ (S. 94). Sie sind nicht nur selbstbestimmte politische Kämpfer:innen, sondern auch gebildet, tolerant, empathisch und – last but not least – frei von jeglicher Verbitterung und Ressentiments, was ihnen erlaubt ein wahrhaft glückseliges Leben zu führen. Die Idylle endet mit dem Ausbruch eines Skandals: Es wird bekannt, dass im lokalen Kloster Kinder missbraucht wurden. Die Empörung auf Seiten der Dorfbewohner:innen führt zu einem Ausbruch von Gewalt und zur Plünderung des Klosters unter der Führung von Katja Moroschkin, einer Exilantin, die vor ihrem sadistischen Mann aus Russland geflohen war. Die Problematik des Kindes- und Frauenmissbrauchs erlaubt Brzozowski mehrere Anspielungen auf Fjodor Dostojewskis Werke anzubringen, insbesondere auf die Romane Böse Geister (1873) und Die Brüder Karamazow (1880). In dem kurzen Fragment werden die Fragen angesprochen, die an den Großinquisitor oder Stawrogins Beichte denken lassen: Kindesmissbrauch und das Leid Unschuldiger als Argumente für den Atheismus sowie das akute menschliche Bedürfnis nach Wundern („Bringt euren Jesus heraus, er soll unsere Kinder wieder gesund machen. Wenn er es nicht kann, dann ist alles Lüge!“, S. 97). Den Text dominiert ein längerer Monolog von Katja (NB, lange Monologen sind für Brzozowskis Prosa charakteristisch), in dem sie die verübte sexuelle Gewalt mit einem Mordfall in Verbindung bringt. So wird die Situation von Frauen im Zarenreich, in dem Roman Flammen, vielschichtig thematisiert. In dem ausgewählten Fragment konzentriert sich Brzozowski insbesondere auf das lebenslange Trauma und die psychosomatischen Folgen einer Vergewaltigung:
„Euch Männern wagt niemand so etwas anzutun: man kann euer Leben nicht so vollkommen, so bis in die tiefen Wurzeln hinein vergiften. Es ist, als verwandelte sich jeder Tropfen Blut zu Gift, als wäre jede Seelenfaser zertreten und in den Kot gezerrt. […] [W]erde ich jemals diese Erinnerung aus mir herausreißen können? Vergessen kann man das, was man selbst getan, nie aber das, was man mit uns gemacht hat, was in uns hineingewachsen ist. Das ist doch eine Erinnerung, das ist kein Gedanke, nicht etwas, was ich von mir werfen kann, das ist mein Blut, mein Ich.“ (S. 101)
Im Roman Flammen tritt als größter Befürworter der Frauenrechte eine authentische Person auf, der anarchistische Ideologe und Revolutionär Sergei Netschajew (1847–1882). Netschajew, ein Vertreter des Nihilismus, war in Russland nicht nur wegen seines Plädoyers für eine amoralische Rücksichtslosigkeit im Namen des revolutionären Kampfes bekannt,22 sondern auch für den brutalen Mord, den seine Anhänger begingen. Jenes Ereignis wurde zum Schlusspunkt des Romans Böse Geister, in dem Netschajew von Dostojewski als abstoßender Pjotr Werchowenski porträtiert wird. Brzozowski polemisiert in Flammen gegen Dostojewskis literarischer Darstellung, indem er aufzeigt, dass Netschajews Hass und konsequenter Immoralismus aus einer Empörung über die sozialpolitischen Missstände in Russland resultierten und sich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen lassen. In dem Fragment SPARTAKUS UND SIMON DER SÄULENHEILIGE stehen Studierende im Mittelpunkt, die in Petersburg einen progressiven Bildungskreis leiten, illegal Flugblätter veröffentlichen und sich mit Netschajew ideologisch auseinandersetzen. Dieser erhebt gegenüber den jungen Enthusiasten den Vorwurf, dass ihr sozialer Hintergrund es ihnen nicht erlaube das Ausmaß der Grausamkeiten in Russland zu begreifen („Ihr lebt in einer privilegierten Welt. Ihr habt Zutritt zur Wissenschaft, zum Licht, euere Frauen sind rein, euere Herzen sind nicht vergiftet vom Ekel gegen euch selbst“, S. 114). Brzozowski folgt hier dem Gedanken Georges Sorels, dass einem revolutionären Engagement der oberen Schichten (Bourgeoisie, Adel, Intelligenz) mit Misstrauen begegnet werden müsse, da ihre Motivation nicht aus unmittelbarer Erfahrung resultiere und daher nur bedingt vorhanden sei (unter polnischen Denkern vertrat der Intelligenz-Kritiker Jan Wacław Machajski, 1866–1926, eine ähnliche Position). Brzozowskis Netschajew hebt beispielsweise hervor, dass eine Romantisierung des Proletariats (und des Volkes im Allgemeinen) von Naivität zeuge, die die Lebensverhältnisse in Russland und ihre Konsequenzen, die Verrohung der Gesellschaft, ausblende:
„Wisst ihr denn überhaupt, was Russland ist? Wisst ihr auch, dass hier ein Mensch, eine Idee nichts, gar nichts gilt? Dass wir alle Sklaven sind? […] Und wisst ihr, wie viele Tausende von Menschen Hungers sterben, wisst ihr, wie viele man zu Nikolaus‘ Zeiten totgeprügelt, wie viele man in Schlüsselburg lebendig eingemauert hat? […] Hier herrscht blinde Gewalt, Angst, Finsternis. Wenn man euch hängen wird, wird der Mob schreien, man soll euch vierteilen, wie er unter Obrutschews Galgen geschrien hat. Ihr wollt um Menschenrechte kämpfen für Tiere, und diese Tiere wird man auf euch hetzen, und sie werden euch in Stücke reißen.“ (S. 113)
Als Illustration dieses Grauens schildert Netschajew die Situation der Frauen:
„Ich komme aus der Welt der Verdammten. Dort leben die, die eure Welt zerstampft hat. Dort verkaufen Frauen ihren Leib und werden geschlagen. Hört ihr’s? Hört ihr’s? Frauen werden geschlagen. Es könnte doch eure eigene Schwester so geschlagen werden. Für einen lumpigen halben Rubel schleppt so ein besoffenes Tier sie in das Hinterzimmer einer Kneipe und schlägt auf sie los mit allem, was ihm nur in die Hand gerät, mit dem Stock, mit der Faust, mit dem Stiefelabsatz. Und ihr wisst, dass so eine geschändete, angespiene, grün und blau geschlagene Frau irgendwo, in einem verfaulten, stinkenden Winkel ein Kind haben kann? Und ihr wollt leben, wollt lernen, wollt denken? Solange auch nur ein Mensch in der Welt zugrunde geht, solange auch nur ein Menschenleben so in den Dreck gezerrt wird, solange verlohnt es sich nicht, zu leben. Nur ein Leben gibt es: den Kampf! Überall fließt Blut, überall Menschenblut. Mit rotem Blut sind die Bücher eurer Gelehrten geschrieben, und eure Gesetze mit den Tränen hungernder Kinder. Eure Tugend hat ihr Gewand vom Blut nicht reinwaschen können. Von Aas lebt eure Welt. Ihr wundert euch, dass ich so zu euch rede, dass ich keine glatten, feinen Worte habe. Nein, ich gehöre nicht zu euren Kreisen. Ich will nicht lernen, ich will mich nicht vervollkommnen, ich kenne nichts, nur den Kampf.“ (S. 114-115)
Netschajew thematisiert in Brzozowskis Roman die sexuelle Ausbeutung und den Missbrauch von Frauen und prangert die Prostitution als eine Form der in Russland noch de facto existierenden Leibeigenschaft an. In seinen Augen fehlte eine solche ernsthafte Wahrnehmung der geschilderten Problematik linksliberalen Denker:innen, wie Alexander Herzen (1812-1870):
„Die Seele eines Plantagenbesitzers hat dieser Mensch gehabt, wenn er schreiben konnte, eine Lorette [Prostituierte] habe mit Kalbskoteletten das gemeinsam, dass man sich an beiden ergötzen könne, aber nicht von ihnen reden dürfe. Eine Lorette war für ihn kein Mensch mehr, das war schon ein anderer, gefallener Mensch. Und da wollt ihr mir noch sagen, die seien nicht in Leibeigenen-Harems aufgewachsen? Einen Menschen mit Koteletten zu vergleichen!“ (S. 119)
Obwohl Netschajew nur eine Nebenfigur ist, echoen seine Diagnosen durch den gesamten Roman, wenn auch zumeist auf subtilere Weise. Flammen schildert die Entwicklung eines Mitglieds der illegalen politischen Zirkel zu einem entschlossenen revolutionären Terroristen; im Verlauf des Romans mündet diese Radikalisierung in einer Rechtfertigung von Gewalt. Ein ganzes Kapitel (ORCIO –eine erneute Anspielung auf Krasiński; in der Ungöttlichen Komödie trägt der Sohn des Protagonisten diesen Namen) ist in der spezifischen Form einer Meditation des Haupthelden verfasst, die seine Empörung über die unerträglichen Lebensbedingungen in Russland und seine Enttäuschung über den ‚liberalen‘ (gewaltfreien) Weg zum Ausdruck bringt und mit dem Gefühl des modernen Unbehagens verknüpft wird. Seine umfassende Enttäuschung drängt den Protagonisten zu einer neuen Sinnsuche und weckt in ihm die Bereitschaf einen Terrorattentat zu verüben.
So sehr verlogen ist der moderne Mensch, dass er sogar die eigene Freiheit nur durch Verrat erkaufen mag. Wir sehen es ganz klar, dass diese liberale Weltanschauung, die sich insgeheim den eigenen Triumph einzureden versucht, wenn die Gewalt unter unseren Schlägen erzittert, dass sie uns hetzen, verfolgen würde wie eine Meute Hunde, dass sie unsere Körper in gehässiger Weise zerfleischen würde. Knechte ihrer eigenen Feigheit, verhüllten sie ihr eigenes Elend mit Bastionen von Sophismen vor sich selbst. Sittlichkeit, Ablehnung von Gewalt, gleich immer in welcher Form, das alles sollte zur Entschuldigung dienen. Als gäbe es hier noch irgendetwas zu retten. (S. 142)
Das Kapitel endet mit einem längeren, pathetischen und philosophisch-dichterischen Stück, einem Beispiel für Brzozowskis charakteristischen „poetischen Kommentar“ (komentarz poetycki, eine Bezeichnung von Marta Wyka),23 der davon zeugt, wie weit Brzozowskis Stil durch die Ästhetik des „Jungen Polens“ und des Fin de Siècle geprägt war.
Das letzte Fragment aus Flammen, das in diesem Band in dem Kapitel LEICHEN zu finden ist, spielt in der Zeit kurz nach der Ermordung von Alexander II. Der Protagonist des Romans besucht die Vorlesung eines angesehenen Religionsphilosophen, der gegen eine Todesstrafe für die Attentäter:innen plädiert, und wird Zeuge der späteren Auseinandersetzung dieses Philosophen mit dem Oberprokurator des Heiligsten regierenden Synods, dem die Orthodoxe Kirche in Russland untergeordnet war. Brzozowski porträtiert in diesem Kapitel zwei historische Personen: den Philosophen, Dichter und Mystiker Wladimir S. Solowjow (1853–1900), im Roman in ‚Worobjew‘ umbenannt, und Konstantin P. Pobedonoszew (1827-1907), der seit 1880 als Oberprokurator des Synods tätig war. Solowjow gehört zu den wichtigsten russischen Philosophen des 19. Jahrhunderts und gilt als ein Vordenker der christlichen Ökumene. Er plädierte für eine Annäherung des Orthodoxen Christentums und des römischen Katholizismus (zu seinen Korrespondenten zählte u. a. der kroatische katholische Theologe und Humanist Josip Juraj Strossmayer, 1815–1905) und für eine utopische „freie Theokratie“, in der die Macht der Kirche und des Staates nicht durch Gewalt und Obskurantismus, sondern durch Freiheit und Liebe garantiert werden sollte. In dem Zeitraum 1878–1880 hielt Solowjow eine Reihe religionsphilosophischer Vorträge, die u. a. Fjodor Dostojewski inspirierten und gesammelt unter dem Titel Vorlesungen über das Gottmenschentum herausgegeben wurden. Solowjows Denken bleibt aufgrund seiner Originalität und seines irenischen Geistes bis heute ein wichtiger Referenzpunkt in religionsphilosophischen Debatten.
Pobedonoszew hingegen war für seine erzkonservative Weltanschauung und Politik bekannt, so heißt es bei Andrzej Walicki: His name will always be associated with the oppressive, all-encompassing triumph of reaction in Russia during the reign of Alexander III. [...] In this post he encouraged anti-Semitism, persecuted Old Believers and Sectarians, and pursued a policy of Russification that systematically restricted the religious rights of national minorities.24 Geffen Bryn und Theofanis G. Stavrou fügen hinzu: He was earnest, hard-working, incorruptible, unrepentantly cynical, and misanthropic. Despised by the radical and not-so-radical intelligentsia, he survived at least five attempts on his life. For Pobedonostsev, Orthodox Christianity was a conservative ideology opposed to change and new ideas.25 Auf diese Weise wird Pobedonoszew auch von Brzozowski porträtiert: „Ich habe niemals einen Menschen gesehen, bei dem die Bezeichnung schrecklich so angebracht gewesen wäre wie bei ihm. Von ihm ging eine Furcht aus, wie von Etwas dem menschlichen Dasein vollkommen Fremden“ (S. 171). Im Weiteren gibt Brzozowski die Diskussion zwischen Solowjow und Pobedonoszew wieder, deren Ausgangspunkt eine eventuelle Begnadigung der Zarenmörder:innen bildet. So entsteht ein Dialog, in dem nicht nur Verweise auf Solowjows und Pobedonoszews, sondern auch auf Dostojewskis Werke (Böse Geister, Brüder Karamazow) zu finden sind:
„Der Zar hat das Urteil bereits unterschrieben“, sagte Pobedonoszew. […]
„Glauben Sie wirklich, dass die Sache damit beendet ist?“ fragte Worobjew. „Blut erzeugt Blut.“
„Jenes, das auf eure Köpfe fallen wird“, sagte Pobedonoszew mit giftiger Stimme. „Ihr seid schuld daran, denn ihr verkündet Wahrheiten, wiederholt Papageienworte, redet von Verstand, Freiheit, Liebe, Wissenschaft. Russland muss seine eigene Wissenschaft, seinen eigenen Verstand haben, der Gott gehorcht und schweigt. Und so wird es sein, so wird es bleiben. Ich nehme die Verantwortung auf mich. Man wird mich hassen. Ich weiß, was Russland will. Wer hat in den russischen Seelen Aufruhr gesät? Die Belinskis, Tschernyschewskis, ihr alle. Der Verstand. Der Verstand soll nur ein Vollstrecker sein, soll dienen…“
„Wem?“
„Dem großen und mächtigen Russland.“
„Und Russland?“
„So darf man nicht fragen. Wagen Sie es nicht! Russland ist ein Wahnsinn Gottes. Das ist es. Die Welt wird sagen: Russland, das Reich Gottes. Gottes, nicht des Menschen, ja.“ (S. 174–175)
Das Kapitel Leichen ist vor diesem Hintergrund umso bemerkenswerter, da es deutlich vor Augen führt, dass sich ein tiefgründiges Interesse an Religion (und ein religionsbedingtes Verständnis von Politik) durch das gesamte Werk Brzozowskis zieht.
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Dieser Band verfolgt die Absicht, die Vielfalt und Originalität von Brzozowskis Denken zu veranschaulichen und gleichzeitig eine Einführung in sein Werk darzustellen. Darüber hinaus verfasste Schriften des heterodoxen Marxisten warten noch auf eine Übersetzung aus dem Polnischen.
München, im Frühling 2021
Sekundärliteratur auf Deutsch und Englisch
Baer, Joachim T.: „Stanisław Brzozowski and his ‘Legenda Młodej Polski’”.The Polish Review 21 (1/2), 1976.
Bielik-Robson, Agata: „Another Conversion. Stanisław Brzozowski’s ‘Diary’ as an Early Instance of the Postsecular Turn to Religion“. Studies in East European Thought 63 (4), 2011.
Bielik-Robson, Agata: „Das Romantische Syndrom. Stanisław Brzozowski und die Revision der Romantik“. In: Gall, Alfred et al. (Hrsg.): Romantik und Geschichte. Polnisches Paradigma, europäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive. Harrassowitz: Wiesbaden 2007.
Dziedzic, Anna: „Stanisław Brzozowski on the Ideal of the Modern Man“. Studies in East European Thought 63 (4), 2011.
Goślicki, Jan: Der junge Brzozowski. Das Werk von Stanislaw Brzozowski bis 1906. Juris: Zürich 1980.
Hanisch, Klaudia: Links in Polen: Krytyka Polityczna und die Tradition der osteuropäischen Intelligenz. Ibidem-Verlag: Stuttgart 2013.
Herlth, Jens/Swiderski, Edward M. (Hrsg.): Stanisław Brzozowski and the Migration of Ideas. Transnational Perspectives on the Intellectual Field in Twentieth-Century Poland and Beyond. transcript: Bielefeld 2019.
Herlth, Jens: „‘Wo in dieser Welt ist Platz für uns?‘ Stanisław Brzozowski, das russische Imperium und die polnische Nation“. Zeitschrift für Slavische Philologie, 69 (2), 2012/2013.
Herlth, Jens: „Around the Nation’s Mystic Core: Interactions between Political Concepts and the Literary Imagination in the Works of Stanisław Brzozowski“. Studies in East European Thought 63 (4), 2011.
Herlth, Jens: „Making Sense in a Modern World. Terrorism in Stanisław Brzozowski’s ‘Płomienie’ (‘The Flames’)“. In: Austenfeld, Thomas et al. (Hrsg.): Terrorism and Narrative Practice. LIT Verlag: Zürich 2011.