- -
- 100%
- +
Alper meint, Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die es uns ermöglichen, dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen, würden zeigen, dass das, was wir als spirituell, als mystisch und als transzendent erleben, sich auf Gehirnprozesse reduzieren lasse. Außerdem könne man religiöse Erlebnisse durch Drogen wie Meskalin und Psilocybin erzeugen. Die Azteken nannten Peyote, ein Kakteengewächs, den „göttlichen Boten“ und Psilocybin „Fleisch Gottes“. Es gebe keinerlei Beweise für die Existenz einer geistigen Wirklichkeit, doch es gebe genügend Beweise dafür, dass spirituelle Erfahrungen ihrer Natur nach rein physiologisch sind. Wir besitzen keine unsterbliche Seele, wohl aber ein physisches Gehirn. Dem Neurobiologen Steven Rose zufolge ist es äußerst wahrscheinlich, dass wir eines Tages die „mystische Erfahrung“ mittels der Neurobiologie erklären können; es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Neurobiologie jemals mittels der „mystischen Erfahrung“ erklärt werden wird (vgl. Alper 2008, 154).
Alper versucht, auch die heilende Kraft des Gebetes rein naturalistisch zu erklären. Es müsse physiologische Mechanismen geben, die dafür verantwortlich sind. Meditation und Gebet seien aufs Engste mit der religiösen Funktion verbunden. Wenn wir beten, richten wir unsere Bitten an Gott oder an eine höhere Macht. Dabei verändere sich die Physiologie unseres Körpers derart, dass Angst und Stress abnehmen und Heilungsprozesse angeregt werden. Es gebe sogar Belege dafür, dass wir durch Gebet die Zeit verkürzen können, die für die Genesung von Krankheiten und chirurgischen Eingriffen notwendig ist. Wir Menschen neigen von Natur aus dazu, an übernatürliche Wesen zu glauben, die eine Macht besitzen, die unsere eigenen Möglichkeiten bei Weitem übersteigt. In Zeiten der Not wenden wir uns an sie um Hilfe. Wenn wir zu Gott beten, dann glauben wir, dass er uns helfen wird, ähnlich wie unsere Eltern uns geholfen haben, für uns da waren, sich um uns sorgten und uns beschützten.
Der bloße Glaube daran, dass unser Flehen und Bitten erhört werden wird, mindere unser Angstniveau, befreie uns weitgehend von psycho-biologischen Belastungen und wirke sich heilend auf unseren gesamten Organismus aus.
Der Ursprung psychosomatischer Krankheiten liege im Gehirn und nicht in den erkrankten Organen. Menschen, die an solchen Krankheiten leiden, werden in der Regel nicht durch herkömmliche Behandlungen und Medikamente geheilt, sondern eher dadurch, dass sie von ihren überstarken Ängsten, die sich negativ auf den Körper auswirken, befreit werden. Wird jemand durch Gebet geheilt, dann ist die Heilung nicht auf ein Wunder zurückzuführen, sondern darauf, dass sein Angstniveau gesenkt wurde. Da alle Kulturen von der heilenden Kraft des Gebets sprechen, nimmt Alper an, dass wir Menschen gebetssensible Mechanismen im Gehirn besitzen. Er bezeichnet sie mit dem Ausdruck „Gebets-Funktion“ (vgl. Alper 2008, Book II, 12).
Wenn es einen göttlichen Teil des Gehirns gibt: Warum gibt es dann Atheisten? Alle genetisch vermittelten Merkmale wie Intelligenz, Musikalität, mathematische Begabung, Körpergröße und die Qualität des Gehirns seien in der Bevölkerung normal verteilt. Es gebe durchschnittliche Menschen, außergewöhnlich Begabte, Menschen mit Behinderungen sowie Menschen, bei denen ein Merkmal völlig fehlt wie bei den Blindgeborenen. Es gebe auch Unterschiede in der Förderung der Begabung durch die Umgebung. Die Umgebung könne eine vorhandene Begabung jedoch nur so weit fördern, als es das angeborene Potenzial gestattet. Spiritualität und Religiosität seien gleichfalls Merkmale, die in der Bevölkerung normal verteilt sind. Am einen Ende der Verteilungskurve gebe es religiös und spirituell sehr Begabte, wie die Zeloten und die Propheten, am anderen Ende solche mit einer unterentwickelten religiösen Funktion. Letztere haben nie das Bedürfnis zu beten, zu meditieren, über Gott, über die Seele oder über ein Leben nach dem Tod nachzudenken. Es sei eher unwahrscheinlich, dass sie jemals spirituelle Erlebnisse haben. Alper nennt sie die religiös Behinderten unserer Gesellschaft. Er postuliert eine neurophysiologische Ursache für die Neigung, Atheist, Ungläubiger, Rationalist oder Säkularist zu werden. Natürlich sei der Atheismus nicht rein genetisch vermittelt, das Aufwachsen in einer atheistischen Umgebung könne die religiöse Funktion verkümmern lassen. Zudem gebe es Menschen, die von der organisierten Religion so enttäuscht sind, dass sie ihre angeborene religiöse Neigung unterdrücken (vgl. Alper 2008, Book II, 14).
In allen Kulturen gebe es nicht nur ein religiöses, sondern auch ein moralisches Bewusstsein. Moralisches Bewusstsein sei die Tendenz des Menschen, jede Handlung danach zu beurteilen, ob sie das Wohlergehen der Gemeinschaft fördert oder behindert. Was für die Gemeinschaft als förderlich gilt, werde als gut, und was für die Gemeinschaft als schädlich gilt, werde als schlecht bezeichnet. Die Unterscheidung von gutem und schlechtem Verhalten zeige sich darin, dass alle Kulturen Regeln und Gesetze entwickelten, um gutes Verhalten zu belohnen und schlechtes zu bestrafen. Wer sich nicht an die Regeln und Gesetze hält, werde bestraft oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ohne die Entwicklung einer moralischen Funktion wäre die Menschheit längst in Anarchie versunken. Ähnlich wie bei der Sprache entwickelten unterschiedliche Kulturen ganz spezifische Gesetze und Regeln. Allen gemeinsam sei das Verbot von Inzest und Mord. Wir Menschen seien so gebaut, dass wir derartige Handlungen als äußerst abstoßend empfinden. Dieses Empfinden deuten wir als Beweis dafür, dass diese Handlungen in sich (inhärent) schlecht sind. Wir betrachten Aussagen wie „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“, als selbstevidente Wahrheiten, von denen wir meinen, sie seien von einer transzendenten Autorität festgelegt worden. Das moralische Bewusstsein sei wie das religiöse Bewusstsein nichts anderes als das Ergebnis eines genetisch vermittelten Merkmals. „Gut“ und „Böse“ gründen nicht in einer transzendenten Wirklichkeit, sondern in der Art und Weise, wie wir aufgrund der Bauweise unseres Gehirns bestimmte Erfahrungen deuten. Menschen mit Schädigungen im Bereich des Stirnhirns (Präfrontalkortex) zeigen asoziales Verhalten. Sie erleben keine Schuldgefühle, die sie dazu brächten, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Alper verweist auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die zeigen, dass eine bestimmte Region im Stirnhirn (Brodmann-Areal 10) bei moralischen Urteilen und Aussagen besonders aktiv ist. Ist diese Region zerstört, dann zeigen die Betroffenen asoziales Verhalten.
Wir neigen dazu, unsere religiösen Einstellungen auf unsere moralischen Einstellungen zu projizieren. Gott sehe mit Wohlgefallen auf Handlungen, die wir als gut bezeichnen. Sie gelten im religiösen Kontext als „fromm“ und „heilig“. Gott verdamme aber böse Handlungen, und diese gelten im religiösen Kontext aller Kulturen als „teuflisch“. Der Glaube an eine teuflische Macht und an teuflische Wesen wie Dämonen sei transkulturell, ebenso die Vorstellung von einem Ort, an dem die bösen Seelen ewige Verdammnis erleiden. Fast alle Kulturen kennen den Glauben daran, dass die guten Seelen mit einem Leben nach dem Tod belohnt werden. Sie kommen in den Himmel, in das Nirwana, in die ewigen Jagdgründe, in die Walhalla oder in die elysischen Gefilde.
Altruistische Tendenzen entstanden zum Ausgleich selbstsüchtiger Neigungen. Wie jedes Merkmal sei auch der altruistische Impuls in der Bevölkerung normal verteilt: Es gibt Kriminelle und Heilige, Egoisten und Altruisten. Die Schuld-Funktion sei ein weiteres Merkmal, das sich entwickelt habe, um den Selbst-Instinkt zu zügeln. Schuldgefühle bringen uns dazu, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Sie seien eine Art Selbstbestrafung, eine Internalisierung der Gebote und Verbote der Umgebung. Wie bei allen Merkmalen gebe es auch beim Schuldgefühl individuelle Unterschiede. Soziopathen werden mit einer unterentwickelten Schuld-Funktion geboren. Sie erleben keine Schuldgefühle und besitzen kein moralisches und soziales Bewusstsein. Im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die von exzessiven Schuldgefühlen geplagt werden, unabhängig davon, ob sie etwas Schlechtes getan haben oder nicht. Sie zerfleischen sich mit Selbstkritik und verdammen sich selbst. Diese Menschen würden an einer neurophysiologischen Störung leiden.
Wenn wir etwas Verkehrtes tun, dann fühlen wir uns nicht nur den Opfern unserer Missetat gegenüber schuldig, sondern auch gegenüber Gott. In allen Kulturen gebe es die Vorstellung von Sünde und Sühnepraktiken. Übertretungen von Gesetzen und Regeln unserer Gemeinschaft nennen wir Verbrechen, Übertretungen der Gesetze unserer Götter bezeichnen wir als Sünde. In unserem Gehirn gebe es je eigene Schaltkreise für Moral, Spiritualität und Religion. Atheisten seien nicht notgedrungen Psychopathen; viele von ihnen bezeichnen sich als säkulare Humanisten. Religion sei mit Moral ebenso wenig gleichzusetzen wie Atheismus mit Amoral (vgl. Alper 2008, Book II, 18).
Reduktionistische Deutung des religiösen Erlebens und Verhaltens
Die Wirklichkeit an sich werden wir nie erkennen, die absolute Wahrheit und ein absolutes Wissen werden wir nie erreichen. Wenn wir die Wirklichkeit verstehen wollen, so Alper, dann müssen wir zuerst begreifen, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Der in allen Kulturen feststellbare Glaube an Gott, an eine Seele und an ein Leben nach dem Tod sei nichts anderes als die Art, wie wir Menschen Informationen verarbeiten und die Wirklichkeit deuten. Gott sei kein übernatürliches Wesen, sondern ein von unserem Gehirn erzeugtes subjektives Phänomen. Natürlich sei es für viele schwer, eine reduktionistische, evolutionäre und neurobiologische Interpretation des Glaubens an Gott zu akzeptieren. Wenn wir aber erkennen, dass unser religiöses Erleben und Verhalten bloß die Folge der Art und Weise ist, wie unser Gehirn funktioniert – was dann? Wenn uns dämmert, dass die natürliche Selektion uns dazu programmiert hat, an eine geistige Wirklichkeit zu glauben – was dann? Wenn wir begreifen, dass religiöse Erfahrungen nichts anderes sind als die Wirkung eines neuronalen Schaltkreises, der in unserem Gehirn eingebaut ist – was dann? Um seine These zu verdeutlichen, fordert Alper uns zu einem Gedankenexperiment über die Beziehung zwischen Bild und Linse auf:
Stellen Sie sich vor, Sie schauen in einen Spiegel, der Ihnen ein klares und makelloses Bild Ihrer selbst bietet. Nun stellen Sie sich vor, dass zwischen Ihnen und dem perfekten Spiegelbild mehrere unsichtbare Linsen eingebaut sind, die Ihr perfektes Bild verzerren. Da Sie nicht wissen, dass es diese Linsen gibt, haben Sie keine Möglichkeit herauszufinden, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist. Obwohl Sie glauben, ein einwandfreies Bild von Ihnen vor sich zu haben, werden Sie in Wirklichkeit falsch informiert. Solange Sie nicht merken, dass es diese Linsen gibt, und solange Sie diese nicht beseitigen, werden Sie nie ein wahres Bild von sich selbst erhalten. Alper glaubt, die menschliche Spiritualität sei eine solche Linse, die unsere Sicht der Wirklichkeit verzerrt. Sie lasse uns eine geistige Wirklichkeit wahrnehmen, obwohl nichts Derartiges existiere. Interessanterweise verzerre diese Linse die Wahrnehmung der Philosophen und Wissenschaftler ebenso wie die aller anderen. Was wäre, wenn uns bewusst würde, dass es eine solche Linse gibt? Was wäre, wenn wir diese Linse beseitigten, unsere Wahrnehmung von spirituellen Verzerrungen befreiten und uns eine klarere Sicht der Wirklichkeit leisteten? Das spirituelle Bewusstsein sei eine Notlüge der Natur, eine eingebaute Fehlwahrnehmung, die uns Menschen helfen soll, unsere Angst vor dem Tod zu verringern. Würde die Natur tatsächlich so etwas tun, so eine Programmierung vornehmen? Die Natur kümmere sich lediglich darum, Organismen mit einer größeren Überlebenschance zu erzeugen. Richard Dawkins, der Autor des Buches Das egoistische Gen, drückt es so aus: „Wir und alle anderen Tiere sind von unseren Genen konstruierte Maschinen. Wir sind Überlebensmechanismen, Roboterfahrzeuge, blind darauf programmiert, die Moleküle zu erhalten, die als Gene bekannt sind.“ (zit. nach Alper, 2008, 230) Alper fragt, ob irgendetwas zu gewinnen sei durch ein Leben der bewussten Verleugnung unserer wahren Umstände. Liege es nicht in unserem besten Interesse, die Realität unserer Situation anzuerkennen? (vgl. Alper 2008, Book II, 19)
Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens an Gott zu gewinnen?
Nehmen wir an, es gibt keinen Gott und alle unsere Vorstellungen von ihm sind nur kognitive Phantome, die in unser Gehirn eingebaut wurden. Wäre in einer gottlosen Welt jeder Sinn notwendigerweise verloren? Wohin könnten wir uns wenden, um einen Sinn für unser Leben zu finden? Ist es möglich, Sinn auf eine neue Weise zu entdecken und ihn dazu zu nutzen, um unsere Existenz zu verbessern? Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens und der Religion zu gewinnen? Um diese Fragen beantworten zu können, meint Alper, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was wir gewinnen wollen und welches Ziel wir im Leben erreichen möchten. Gibt es ein universelles Lebensziel, und wenn ja, kann dieses unabhängig von der Existenz Gottes erreicht werden? Alper beruft sich auf die Aussage des griechischen Philosophen Aristoteles, dass jeder Mensch nach dem höchstmöglichen Glück im Leben strebt. Dieses Prinzip habe seine Gültigkeit, und zwar unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Ohne Gott sei folglich nicht alles verloren. Ziel alles menschlichen Handelns sei es, das höchstmögliche Glück zu erreichen und Leid und Schmerz zu minimieren. Wie könnten wir dieses Ziel in einem gottlosen Universum erreichen? Der Schlüssel zum Glück liege im Erwerb von Wissen. Darin würden alle Philosophen übereinstimmen. Selbsterkenntnis sei die höchste Form des Wissens. Verstünden wir beispielsweise die neurobiologischen Grundlagen destruktiver Tendenzen besser, dann könnten wir ihre Energien in konstruktivere Bahnen lenken. Vor allem sollten wir uns bemühen, die neurobiologische Grundlage der Spiritualität zu verstehen. Kein Merkmal sei perfekt, auch nicht die religiöse Funktion. Negative Folgen der Religion seien z. B. Menschenopfer, Rassenhass, Kinderopfer, Kannibalismus und religiöse Kriege. Kinderopfer und Kannibalismus seien in den gegenwärtigen Hauptreligionen und ihren Riten nicht mehr zu finden. Jeder Religion wohne aber die Ablehnung anderer Religionen inne. Wenn mein Gott der wahre Gott ist – wie kann es dann der deine sein? Jedes Glaubenssystem empfinde andere Glaubenssysteme als Bedrohung. Wenn wir begriffen, dass unsere religiös bedingte Angst und Antipathie nur die Wirkung eines angeborenen Impulses sind, dann könnten wir diesen Impuls, der zu so vielen religiösen Kriegen geführt hat, zügeln. Es sei „hoch an der Zeit, Spiritualität und Religiosität den Philosophen, Metaphysikern und Theologen aus der Hand zu nehmen und diese Phänomene zu biologisieren“ (Alper 2008, 239). Es gehe nicht darum, Spiritualität auszurotten, sondern sie aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Der religiöse Impuls besitze eine wichtige Funktion für uns, sonst hätte die Natur ihn nicht selektiert. Er helfe uns, die Angst zu vermindern und unsere Gesundheit zu verbessern; doch seine Exzesse stellen eine Bedrohung dar.
Nehmen wir an, wir seien bloße Körperwesen, Zufallskombinationen von Molekülen, ohne jeden Zweck und ohne jede Bedeutung, und der Tod sei in der Tat das Ende unseres Bewusstseins. In welcher Form auch immer die Materie, aus der wir zur Zeit bestehen, nach unserem Tod im unermesslichen All verstreut sein wird, ob als Erde, als Gas oder als kosmischer Staub: Sie wird niemals mehr in einer Beziehung zu dem stehen, was oder wer wir heute sind. Wir werden niemals in genau der gleichen Molekülzusammensetzung existieren. Folglich werden wir auch nie mehr die gleichen bewussten Erfahrungen machen. Wenn die Teile nicht mehr funktionieren, dann funktioniert auch das Ganze nicht länger. Der Tod, ob wir das glauben oder nicht, ist höchstwahrscheinlich das Ende unserer persönlichen Identität, und zwar für immer. Es gebe für uns nur zwei Möglichkeiten: entweder alles zu tun, um das Leben zu erhalten, oder es zu zerstören. Wir haben die Mittel, das Leben zu zerstören. Haben wir auch die Kraft, es zu erhalten? Es gebe bereits den Vorschlag, man möge den „göttlichen Teil“ des Gehirns chirurgisch entfernen, um die negativen Folgen der Religion zu beseitigen – eine Methode, die den Namen „Godectomy“ trägt (Alper 2008, 246). Vielleicht stehen uns eines Tages sogar Medikamente zur Verfügung, um die exzessiven religiösen Impulse chemisch zu bändigen. Alper meint allerdings, Diplomatie, Geduld und Vernunft seien wohl die besten Mittel, um dieses Problem zu lösen.
Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, so Alper, verfügen wir über eine rationale Erklärung des Glaubens an Gott. Unsere alten religiösen und metaphysischen Paradigmen können wir berechtigterweise als illusionäre Hindernisse auf dem Weg zu mehr Fortschritt und Wohlstand über Bord werfen. Wir sollten uns als das akzeptieren, was wir sind, und das Beste daraus machen. Es gebe keinen Gott, keine Seele und kein Leben nach dem Tod. Vielleicht hilft uns diese Erkenntnis, die Prioritäten vom Jenseits auf das Diesseits, auf das Hier und Jetzt, zu verlagern, zukünftige Kriege zu vermeiden, Schmerz und Leid zu lindern und die Chance zu erhöhen, für alle das größtmögliche Glück zu erreichen. Dies erhofft Alper sich mehr als alles andere von einer neurobiologischen Interpretation der Spiritualität und des Glaubens an Gott (vgl. Alper 2008, Book II, 20).
Hier, resümiert Alper, endet meine lebenslange Suche nach Gott. Obwohl ich für die Möglichkeit offen bleibe, dass es eine transzendente Wirklichkeit gibt, vertraue ich in der Zwischenzeit auf die Lösung, die ich für mich gefunden habe. Ich hätte es vorgezogen, wenn ich auf meiner Suche einen Beweis für die Existenz Gottes, für einen transzendenten Bereich, in dem mein bewusstes Ich ewig leben würde, gefunden hätte. Natürlich hätte ich die Unsterblichkeit dem unausweichlichen Tod vorgezogen. Doch wie sicher bin ich? Möchte ich tatsächlich unsterblich sein? Was würde es bedeuten, ewig zu leben? Es wäre wie ein Rennen ohne Ende, wie ein Kampf ohne Gewinner und Verlierer, Existenz bloß um der Existenz willen. Vielleicht ist es besser so: lieber schnell und hell verbrennen als für immer dahindämmern.
Also, was nun? Ich weiß, ich bin dazu bestimmt, alt zu werden, zu sterben, alles zu verlieren, was ich je besaß und liebte, auch mich selbst. Manchmal frage ich mich, wozu überhaupt weiterleben, warum nicht einfach Schluss machen, hier und jetzt.
Wenn es mir nicht gut geht, tröste ich mich mit dem Gedanken: Wenn es tatsächlich keinen Gott, keine Seele und auch kein Leben nach dem Tod gibt, dann habe ich die ganze Ewigkeit dafür, nicht zu existieren und die Launen dieses Lebens nicht ertragen zu müssen. Mit solchen Überlegungen im Hinterkopf sage ich mir: Warum nicht das Beste aus den flüchtigen Erfahrungen machen, die wir Leben nennen, solange es mir noch zur Verfügung steht? Vielleicht ist die bloße Tatsache, dass wir überhaupt in der Lage sind, etwas zu erleben, Grund genug zum Feiern. Wie viele andere Kombinationen von Materie können das? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass wir bloß geistlose Atome sind, die im Leeren herumschwirren, so sind wir immerhin die höchste, die komplexeste Form der Materie, ihre Crème de la Crème. Welche anderen Atomverbindungen besitzen die Fähigkeit zu lieben, zu lachen, zu fragen, Kunst zu bewundern, Literatur und Musik zu schaffen, über die eigene Existenz nachzudenken, zu hoffen und zu träumen? Selbst wenn das, was wir Glück nennen, nur neurophysiologische Prozesse sind: Erleben wir Glück deshalb weniger intensiv? Ob ich sterblich, unsterblich, ein geistiges Wesen oder eine geistlose organische Maschine bin: Sind das nicht meine Erlebnisse? Übrigens: Die bloße Tatsache, dass ich niemals weiß was die nächsten Augenblicke bringen werden, bedeutet, dass mein Leben, so mechanisch es auch sein mag, immer ein staunenswertes und schönes Geheimnis bleibt (vgl. Alper 2008, Epilogue).
Zusammenfassung
Für Alper sind religiöse Erfahrungen ihrer Natur nach rein biologische Vorgänge, die sich mit den Begriffen der Neurobiologie erklären lassen. Sie sind die Folge der Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Alper vergleicht das religiöse Bewusstsein mit einer „Linse“, die unsere Sicht der Wirklichkeit trübt und uns spirituelle Phänomene wahrnehmen lässt, die es gar nicht gibt. Es sei hoch an der Zeit, Spiritualität und Religiosität den Theologen, Philosophen und Metaphysikern aus der Hand zu nehmen und diese Phänomene zu biologisieren.
Gegen Alpers Thesen lassen sich mehrere Fragen und Einwände erheben: Ist seine eingeschränkte biologische Deutung religiöser Erfahrungen nicht auch die Folge der Art, wie sein Gehirn Informationen verarbeitet? Verzerrt eine „reduktionistisch-materialistische Linse“ nicht auch seine Sicht der Wirklichkeit? Was spricht dagegen, dass seine Thesen ebenfalls bloß kognitive Phantome sind, die von einem in seinem Gehirn eingebauten organischen Programm erzeugt werden?
Alpers Deutung blendet die reiche Erlebnisvielfalt religiöser Erfahrungen aus. Diese sind, wie alle Erfahrungen, keine Merkmale, die Wissenschaftler von außen am Gehirn beobachten und messen könnten. Mit seiner neurobiologischen Deutung religiöser Phänomene erweckt Alper den Eindruck, es handle sich um eine wissenschaftliche Erklärung. In seinem Buch finden sich jedoch keinerlei Hinweise darauf, wie objektiv beschreibbare Gehirnmechanismen subjektive Erlebnisse wie ein Gefühl der Heiligkeit, der Wonne und des Friedens hervorbringen. Alper scheint sich auch des Problems nicht bewusst zu sein, dass wir nicht die leiseste Ahnung davon haben, wie aus elektrochemischen Vorgängen im Gehirn Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle und natürlich auch religiöse Erlebnisse entstehen. Es klafft stets eine Erklärungslücke zwischen dem bewussten Erleben auf der einen und den Hirnprozessen, die damit einhergehen, auf der anderen Seite. Erst dann, wenn wir wüssten, warum und auf welche Weise Hirnprozesse bewusste Erlebnisse erzeugen, könnten wir diese Erklärungslücke schließen. Dieses bis heute ungelöste Problem bildet die größte Herausforderung für die Neurowissenschaften (vgl. Goller 2003). Es gibt keinen empirischen Beweis für die Annahme, dass das Bewusstsein und damit auch religiöse Erfahrungen und spirituelle Erlebnisse nur neurobiologische Phänomene sind.
Um die These, religiöses Bewusstsein sei rein biologischer Natur, wissenschaftlich beweisen zu können, müsste Alper zunächst zeigen, dass die Erlebnisvielfalt religiöser Erfahrungen sich mit den Begriffen der Neurobiologie genauso gut, wenn nicht sogar treffender, beschreiben ließe als mit den religiösen Begriffen unserer Alltagssprache. Er müsste außerdem erklären, warum jemand notgedrungen ein religiöses Erlebnis hat, wenn sein Gehirn sich in einem bestimmten Zustand befindet. Zudem müsste er das schwierigste Problem des Bewusstseins lösen, indem er für die Erlebnisqualität religiöser Erfahrungen, für die Art, wie diese sich für die erlebende Person anfühlen, eine rein neurobiologische Erklärung vorlegt. Mit dem bloßen Hinweis, es gebe einen göttlichen Teil des Gehirns oder besondere Schaltkreise für Spiritualität, Gebet, Moral und Religion im Allgemeinen, ist die Frage nach der neurobiologischen Grundlage religiöser Phänomene keineswegs beantwortet. Von einer Biologisierung der Spiritualität und Religiosität kann keine Rede sein.
Religiöse Erfahrungen und spirituelle Erlebnisse sind nicht auf ihre neurobiologische Grundlage reduzierbar. In den ungeheuer komplexen elektrochemischen Vorgängen des Gehirns lässt sich nichts entdecken, was religiösen Überzeugungen, frommen Gefühlen und mystischen Erlebnissen auch nur im Entferntesten ähnlich wäre. Der erlebenden Person sind diese Phänomene jedoch unmittelbar gegeben. Ausgangspunkt jeder Suche nach der neurobiologischen Grundlage religiöser Erfahrungen sind stets die Erlebnisberichte der Betroffenen, und nicht die Aufzeichnungen der elektrischen Aktivität ihres Gehirns oder Aufnahmen mit bildgebenden Verfahren.
Im Epilog seines Buches lässt Alper immerhin verhalten anklingen, dass er Erlebnissen doch eine eigene Form der Wirklichkeit zuerkennt. Er fragt: Selbst wenn Glück etwas rein Biologisches sein sollte – erleben wir es deshalb weniger intensiv? Die bloße Tatsache, dass wir überhaupt etwas erleben, sei Grund genug zum Feiern. Sein Leben bleibe stets ein staunenswertes Rätsel. Dem kann man vorbehaltlos zustimmen.






