Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Tisiphone wirft anschließend zwei Schlangen, die Athamas und Ino nicht außen, sondern innen beschädigen sollen. Es gibt keine äußerliche Wunde: mens est, quae duros sentiat ictus (499)163. Wie in den Fasten (VI 493–494)OvidFast. VI 493–494 wird nicht nur Athamas, sondern auch Ino vergiftet. In dieser Beschreibung der Metamorphosen hat man den Eindruck, dass Vergil (Vgl. Aen. VII 350–356VergilAen. VII 350–356) wieder einmal Ovids Vorbild ist. Sowohl der Genitiv von Inos Name (Inoos) wie der von Athamas (Athamanteos) sind ungewöhnliche Bildungen. Inous kommt auch in Met. III 722OvidMet. III 722 und in AA. III 176OvidAA. III 176164 vor. Es scheint, dass Vergil der erste ist, der inVergilG. I 437G. I 437165 so schreibt. Athamanteos erscheint so zum ersten Mal in der lateinischen Literatur; es könnte eine ovidische Erneuerung sein. Andere Autoren haben diese Form danach auch verwendet, wie Statius166 und Martial167 .
Und damit nicht genug hat Tisiphone ein starkes, flüssiges Gift mitgebracht; Vergil begnügt sich mit der Wirkung der Schlangen von Allekto. Diese Szene ist nach Bömer eine „barocke Übertreibung …, sowohl im Ausdruck als auch in der Vorstellung“168. Haupt meint ebenfalls, „die Hervorhebung und Schilderung des Grausigen entspricht dem alexandrinischen Charakter der ovidischen Poesie“169. Halm-Tisserant glaubt, „l’interprétation que le poète latin offre de l’épisode (500–509) retient l’intérêt, parce que ne laissant pas vraiment place à la mania, elle associe la démence à la magie“170. Tisiphone erreicht ihr Ziel mit Hilfe von Drogen. Ovid trägt die Verschreibung dieses Gebräus nach dem hellenistischen Verständnis vor; Bömer bemerkt treffend: „In Wahrheit sind die im folgenden genannten uenena durchaus nicht alle liquida“171.
Der Schaum zeigt den WahnsinnWahnsinn an, obwohl er ein den Epileptikern zugehöriger Hinweis ist. Der scheußliche Geifer Echidnas deutet auf ihren fabelhaften Ursprung „à moitié jeune fille et à moitié serpent“172 hin; aus ihr und Typhon wurde Kerberos geboren. Der herumschweifende Wahn und die Verstörung der verblendeten Sinne, zusammen mit dem Vergessen, gehören zum furor. In der Mordlust und in den Tränen mischen sich Ursache und Wirkung. Das frische Blut belebt und verstärkt das Gift. Der Schierling ist das Gift par excellence jener Zeit. Das Gebräu wurde Anderson gemäß wie bei den Hexen gekocht und mit frischem Schierling verrührt. Dieses Gift wird Bernbeck nach ausführlich beschrieben, „weil die Bestandteile eine wesentliche Vorstellung von seiner Wirkung vermitteln“173. Bömer behauptet, indem er diese uenena mit Tisiphones Begleitung vergleicht: „Diese Phantasie greift an unserer Stelle sehr viel kühner aus als bei den üblichen Konkretisierungen abstrakter Begriffe, die im allgemeinen auf Personifikationen hinauslaufen, für die es zahlreiche Vorbilder gibt (IV 484ff.), und daher leichter vorstellbar sind als diese „neutralen“ oder „unpersönlichen“ Konkretisierungen“174. Athamas‘, nicht Inos Geist wird verwundet; sein Leib wird davon nicht berührt. Wie Cicero schreibt175, werden Seele und Leib unterschieden; der Wahnsinn, vor allem, der furor, gehört zur Seele, nicht zum Leib.
Es gibt eine andere Variante für den Vers 506, die eine bestimmte von Anderson vorgeschlagene Interpretation gestattet oder verhindert: uergit o uertit. Anderson nimmt das zweite Wort176 in Teubners Ausgabe an und meint, man solle hier den Kernausdruck der Metamorphose sehen: uertere in + Akkustiv. Er erklärt dies so: „But instead of saying the Fury turned their hearts into poison, he says that she turned poison into their hearts“177. Diese Deutung ist m.E. falsch, auch wenn die Lektüre uertit angenommen wird. Die Verwandlung, auf die Ovid im Mythos von Athamas hinweisen will, ist die von Ino und Melikertes in Götter und die der sidonischen Frauen in Standbilder aus Stein bzw. in Vögel. Meiner Meinung nach ist es nicht zutreffend, dass Ovid sich Athamas’ Wahnsinns-Prozess als eine bleibende Veränderung vorstellt. Die Prozesse sind irreversibel, Athamas’ Wahnsinn aber ist, im Prinzip, nicht für immer verhängt. Darüber hinaus haben die Metamorphosen bei Ovid eine physische Verwandlung zur Folge und dies ist bei Athamas nicht der Fall.
Bömer erklärt, dass furiale uenenum (506) „die faktitive Bedeutung ,ad insaniam compellens‘“178 hat. Das Gift wirkt in pectus, denn da ist der Sitz der Vernunft und der Gefühle des Menschen. In Verg. Aen. VI 472VergilAen. VI 472 wird von praecordia intima gesprochen. Dies ist das Bild des Wahnsinns: Der Irrsinn wird von der Gottheit verursacht – eben wenn sie sich einer Mittelsperson bedient –, aber er wirkt von innen, von den Lebensorganen des Menschen heraus. Dies ist m.W. der im Laufe der Zeit entstandene Kompromiss für das schwierige Dilemma über den Ursprung des WahnsinnWahnsinns: Kommt er von den Göttern oder von einer Fehlfunktion der menschlichen Organe? Padel äußert sich im selben Sinne, „‘Coming from god’ does not have to mean ‘from outside’: daemons are in us as well as outside us“179. Auf jeden Fall hat der Irrsinn seinen Ursprung in der göttlichen Welt, obwohl seine natürliche Ursache leicht erklärbar ist. Schließlich besiegelt Tisiphone alles mit dem Feuer ihrer Fackel (Met. IV 508–509OvidMet. IV 508–509): Tum face iactata per eundem saepius orbem / consequitur motis uelociter ignibus ignes.
Viarre meint, „quant aux émotions humaines qu’Ovide met en rapport avec le feu, elles sont, elles aussi, la plupart du temps, mauvaises et meurtrières“180. Möglich ist, dass Ovid sich von Vergil181 beeinflussen ließ, denn „in der Aeneis stößt Allecto Turnus die Fackel in die Brust und entflammt ihn zu kämpferischem Wahnsinn (VII 456 ff)“182. Anderson aber glaubt, „Ovid’s insistence on literary allusion and on allegory give his scene a distinctly non-Vergilian quality“183. Jedenfalls schließt Ovid Tisiphones’ Eingriff mit dem ersten Mittel aus, nämlich der Fackel aus Feuer, die sie aus der Unterwelt mitgenommen hatte.
Obwohl Ovid sich nicht so sorgfältig wie Vergil um die Gesamtheit des Werkes und die Harmonie der Teile kümmert, sind Bernbecks Behauptungen m.E. ein wenig übertrieben: „Um die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten der Ökonomie und der Zweckmäßigkeit für die Handlung ist er unbekümmert. Die Hauptsache ist ihm die bildhafte Anschaulichkeit der Einzelvorstellungen“184. Meiner Ansicht nach hat Ovid ein anderes Interesse und eine andere Erzählart, die als unzusammenhängend betrachtet werden könnte, die aber einen großen Vorteil hat: Sie ist sehr anschaulich.
Andererseits ist es seltsam, dass alle Attribute Tisiphones von Blut durchtränkt sind, während Athamas und Ino davon nicht betroffen sind: Kein Blutstropfen des Aioliden bzw. seiner Frau wird vergossen. Man hat eher den Eindruck, dass dieses Blut eine Metapher für das Blut ist, das Athamas vergießen wird, wenn er seinen Sohn tötet.
Tisiphone hat ihr Wort gehalten, sie kommt als uictrix185 zum Königreich von Ditis186 zurück und legt ihre Kleidung ab. Diese Beschreibung gehört eigentlich zur Epik: „Wenn eine Person ihre Mission erfüllt hat, tritt sie ausdrücklich von der Bühne ab“187. Dieser Titel, uictrix, wird auch auf Allekto in Aen. VII 544VergilAen. VII 544 zurückgeführt; der Unterschied liegt darin, dass „Tisiphone returns to the underworld unbidden at 4. 510–11 while Allecto must be ordered to go (AenVergilAen. VII 544–571. 7. 544–571)“188.
5’) Athamas’ Jagd (512–519)
Das Gift tut Wirkung und seine Folgen treten unmittelbar ein. Athamas wird furibundus. Es scheint, dass Athamas’ WahnsinnWahnsinn nach Bömer in die attische TragödieTragödie zurückversetzt werden kann, obwohl dieser Forscher zugibt, „die Fragmente der Tragiker geben keinen Anhaltspunkt“189. Haupt behauptet seinerseits, „eine bestimmte Quelle vom Wahnsinn des Athamas und der Ino (vgl. zu 4, 420) läßt sich nicht nachweisen“190, auch wenn sich einige Züge in Kallimachos’ Werk erkennen lassen191. Dieser letztere Gelehrte denkt, dass das Platzieren des Anfangs von Athamas’ Wahnsinn vor seinem Palast entweder eine Erfindung von Ovid oder, vielleicht, die Kopie eines thebanischen Mythologienhandbuchs sein könnte. Selbst das Motiv der Jagd ist vor Ovid192 nicht ganz sicher; es könnte auch eine Erfindung des lateinischen Dichters sein.
Man befindet sich in Athamas’ Haus – bis jetzt war der Standort der Handlung etwas dunkel – und der Aiolide beginnt Befehle zu erteilen, wie es Pentheus in Met. III 562–563OvidMet. III 562–563 oder Agave in Met. III 713OvidMet. III 713 berichten. Ovid ist der einzige Autor, der die von Athamas gesehenen Tiere als eine Löwin mit ihren zwei Jungen identifiziert hat. Das bedeutet, dass Athamas nicht nur Learchos mit einem Tier verwechselt, sondern auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder, was die spätere Verfolgung von Ino und Melikertes rechtfertigen würde. Zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur werden Ino und ihre Kinder mit einer Löwin und ihren Jungen verglichen193. In Bezug auf dieses Bild könnte man sich auf das berühmte Frg. 1a Kannicht / SnellTragica AdespotaFrg. 1a Kannicht / Snell von Adespota: βρυαζούσης λεαίνης und Lac.Pl. Stat.ThebLactantius PlacidusStat.Theb. I 230. I 230 stützen; es erklärt, der Aiolide leonem se putaui occideret, obwohl es eigentlich sein Sohn war194.
Der Ausdruck uisa est mihi (514) ist, wie Anderson sagt, „a nice example of ironically ambivalent Latin“195: Als Passiv bedeutet es, dass Athamas sie wirklich gesehen hat; mit der Bedeutung ‚So habe ich es gesehen‘ = ‚Es sieht so aus‘ wurde dem Leser ein Hinweis darauf gegeben, was wirklich passiert war. Wenn man aber den Text eingehend analysiert, bemerkt man eine gewisse Ungereimheit in Ovids Versen: Wenn sich die Auswirkung des Arzneitranks unmittelbar (protinus) ereignete, wie konnte Athamas dann sagen, dass er kurz vorher (modo) eine Löwin mit ihren Jungen gesehen hatte?
Dann folgt die Jagdszene. Der Leser erinnert sich sofort an einen sehr ähnlichen Kontext für Aktaion und Pentheus mit seinem tragischen Ergebnis. Aber Athamas verfolgt diesesmal nicht Learchos, sondern Ino; der Grund dafür ist offensichtlich: Learchos kann noch nicht laufen, er ist ein schutzloses Kleinkind. Erwähnenswert ist, dass Ovid das Alter der Kinder von Ino verändert: Wenn Learchos ein Kleinkind ist, ist Melikertes ein Neugeborener. Aber Bacchus ist ein Erwachsener196, was unmöglich ist, wenn man der in Nonnos’ Dionysiaka197 (D. IX 53–91Nonnos von PanopolisD. IX 53–91) überlieferten Tradition folgt, nämlich dass Dionysos und Melikertes gleichzeitig von Ino gestillt worden sind. Die Änderung der Perspektive, und zwar dass Ino und nicht Learchos gejagt wird, „steigert das Ausmaß der Raserei“198.
Eine ähnliche Szene wird bei Nonnos (Nonnos von PanopolisD. X 68–73D. X 68–73) geschildert, aber nicht mit Learchos, sondern mit Melikertes. Dort fleht dieser seinen Vater an; da streckt Learchos, als Kleinkind, seinem Vater die Ärmchen liebevoll entgegen. In Bezug auf die Metamorphosen betont Anderson: „Ovid describes the pathetic actions of the object of the main verb in a series of participial clauses, without revealing the violent verb that nullifies the child’s gestures“199. Seine Grausamkeit ist grenzenlos. Vor den Augen seiner Mutter schwingt Athamas seinen Sohn200 nach Art einer Schleuder201 durch die Luft, bis er dessen Kopf am harten Gesteine zerschmettert202. Es sieht so aus, als werfe er einen Stein, aber es ist nicht so. Das Schwingen in der Luft hatte nur das Ziel, mehr Geschwindigkeit zu gewinnen, um den Stoß am Gesteine noch kräftiger werden zu lassen203. Ovid wird diese Szene im Fall von Herkules und des jungen Lichas wiederholen204; auch Seneca übernimmt diese grausame Darstellung für seinen Herkules, denn dieser Held bringt eines seiner Kinder um, indem er es an einem harten Gestein zerschmettert (Sen. HFSenecaHF. 1005–1007. 1005–1007). Bömer erläutert treffend Ovids Inkongruenz mit dem Begriff ‚Jagd‘, „denn kein Jäger wird es für ratsam erachten, das Junge einer Löwin auf diese Weise zu töten“205.
Zur Grausamkeit des Aioliden – es ist das einzige Mal, dass Learchos’ Tod so beschrieben wird – kommt noch das zarte Kindesalter von Learchos hinzu: Dies macht Athamas’ Tat noch erbamungsloser. Und als ob das nicht genug wäre, streckt das Kind seinem verbrecherischen Vater die Arme lächend entgegen, eine Szene, die, wie bereits erwähnt, Melikertes’ Tod bei Nonnos beeinflussen sollte206. Weil Learchos ein Kleinkind war, konnte Athamas möglicherweise nicht die Pfeile verwenden. In dieser Textstelle wird Athamas als furibundus (512), amens (515) und ferox (519) angesehen.
6’) InoIno und MelikertesMelikertes’ FluchtFlucht (519–530)
Ovid präsentiert eine sehr realistische Meinung: Ino wird wahnsinnig, wahrscheinlich aufgrund des Giftes von Tisiphone; aber welche Mutter würde nicht halbverrückt angesichts einer solchen von Ovid geschilderten Darstellung, nicht tief verstört aus Angst und Schmerz, nicht umnachtet vor der geschauten Szene? Dieser Meinung ist Bernbeck: „Sie verhält sich daher zunächst nicht anders, als man von einer Mutter, die der Ermordung ihres Kindes zusehen muß, erwarten kann“207.
Ino flieht, wahnsinnWahnsinnig geworden. Das Geschrei, die ungeordnete Flucht, die fliegenden Haare208 sind physische Hinweise einer Störung ihrer Vernunft. Der Aufschrei könnte eine Äußerung ihres aufgeregten Zustandes sein, aber „it can also prepare us for her Bacchic fantasy“209. Bei Seneca (HFSenecaHF. 1009. 1009) flüchtet Megaira furenti similis, nachdem Herkules seine zwei Söhne getötet hat. Ino trägt sein Kind auf ihren Armen. In der Tat gibt es eine doppelte Bewegung in Hinblick auf Inos Arme: Derjenige, der aus dem mütterlichem Schoß herauskommt, stirbt auf ewig; derjenige, der in ihm bleibt, stirbt auch, aber um für ewig zu leben.
Das Geheul von Vers 521 wird in Vers 523 artikuliert: Euhoe, Bacche!; sie erinnern den Leser an Verg. Aen. VII 389VergilAen. VII 389. Es ist ein Hinweis nicht nur auf die Erziehung dieses Gottes durch Ino und die Verehrung, die er von seiner AmmeAmme bekommt, sondern auch auf den Irrsinn, der sie überwältigt. Im Gegensatz zu Athamas’ Wahnsinn hat der von Ino bacchische Zeichen, über „die nach der Tradition nur Bacchus verfügte“210. Bömer erläutert das, indem er sagt, „die SageSage gehört in den dionysischen Kreis“211. Wichtig ist zu bemerken, „the cry to Bacchus in 523 … comes from an insane woman, not from the once-proud aunt“212. Wie Ino sich um Bacchus kümmerte, als er ein Kind war, muss sie nun sterben, wenn Melikertes noch ein Kleinkind ist.
Bernbeck glaubt, dass, „Ovid wieder die beiden Motive dolor und uenenum miteinander vermischt“213. Tisiphones Gift verursacht aber nicht m.W. einen bacchischen Irrsinn, wie der deutsche Gelehrte behauptet214. Der Wahnsinn, der sowohl durch das Gift als auch durch den grausamen Tod ihres älteren Sohnes ausgelöst wurde, äußert sich m.E. in bacchantischer Art und Weise215. Diese Anrufung, die Ino für ihre Ermutigung und ihre Rettung ausspricht, veranlasst das sarkastische Lachen von Juno: Möge dieser Gott mit ihr verfahren, wie sie es mit ihrer Schwester Agave machte, nämlich dass die Mutter ihren Sohn tötet.
Ovid platziert Ino plötzlich auf dem Gipfel eines Felsblocks, genauso wie er blitzartig den Weg zur Unterwelt präsentiert hatte. Der Dichter beschreibt wunderschön den Felsvorsprung, der über das Meer ragt, wie ein Sprungbrett zum Tode. Das felsige Gelände gilt als ein Dach, das die Wellen vor dem Regen abschirmt. Anderson glaubt, diese Andeutung, „distracts us from the plight of Ino and son“216. Meiner Meinung nach will Ovid mit den Göttern des Himmels und des Wassers spielen: Der Felsblock, von dem Ino springen wird, wird Leukothea, eine Seegöttin, vor HeraHera, einer olympischen Göttin, beschützen. Auf jeden Fall scheint es m.E. nicht so, dass dieses Bild „die Stimmung der Szene spielerisch umschlagen läßt“217.
Ino kommt bis zu diesem Ort dank der Kraft, die insania (528)218 ihr verleiht. Juno war zum tiefen Auernus gegangen, als sie von Hass und Zorn angetrieben war; Ino erreicht den Gipfel der Felswand, weil der WahnsinnWahnsinn sie treibt. Tisiphone handelt unverzüglich, wie auch Ino: Sie springt ohne Angst. Der Unterschied zu Nonn.Nonnos von PanopolisD. X 80–121 D. X 80–121 ist groß, weil Ino in dem griechischen Gedicht nicht nur mit dem Sprung zögert, sondern eine lange und pathetische Rede hält, bevor sie sich ins MeerMeer stürzt. Dass Ino nicht zögert, mit Melikertes zu springen, könnte m.E. durch den gewalttätigen Mord von Learchos durch seinen Vater Athamas veranlasst sein: Man muss schnell agieren, es gibt keine Zeit für Zweifel. Ovid deutet die Etymologie von Leukothea mit Blick auf das Weiße – angeblich des Schaums –, das Ino aufnimmt. Anderson meint, „the narrator coolly looks at the way the water grows white with foam when the bodies strike it, but he refuses to waste feeling on the tragic souls“219.
7’) Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung (531–542)
Ovid setzt auf die Großeltern, um die Enkelkinder zu beschützen220. So geschieht es im dritten Buch für Pentheus221; nun ist es VenusVenus, die für ihre Enkeltochter Fürbitte einlegt222. Venus’ Eingriff aber „ist gegenüber der Überlieferung neu“223. Der Grund ist klar: Von der Göttin heißt es: inmeritae neptis miserata labores (531), weswegen es möglich ist, dass ein positives Bild von Ino gezeichnet wird224. Bernbeck sagt, dieser Bitte, die der Divinisierung vorhergeht, folgt der Darstellung epischer Tradition225.
Das Problem liegt darin, dass Ovid einen Anlass finden muss, dass sie sich für Ino einsetzt; Bernbeck denkt, dieses Motiv „besteht in der leiblichen Verwandtschaft“226. In der Tat bleibt alles im Schoße der Familie, weil VenusVenus ihrem väterlichen Onkel Neptun schmeichelt. Anderson schreibt eine interessante Anmerkung über diesen Gott: „Neptune intervened against Juno, of his own accord, in the storm of Aen. 1 and, in response to Venus’ appeal, in Aen. 5779 ffVergilAen. V 779“227. Neptuns Rolle als ‚Divinisierer‘ von Ino und Melikertes ist absolut neu. Aristides hatte schon Poseidon mit Leukothea in Verbindung gebracht, obwohl Aristides ihre Identiät mit Ino bestreitet228.
VenusVenus bittet Neptun direkt, Erbarmen zu haben229 und sie als Seegötter aufzunehmen. Dies ist tatsächlich die erste physische Metamorphose der Erzählung. Anderson denkt, das Verb iactari „implies that she and her son are still alive, tossed on the waves“230. So weit darf man nicht gehen: Ovid bezieht sich m.E. ganz einfach auf Inos Sprung.
Der lateinische Dichter lokalisiert den SturzSturz dank des ionischen MeerMeers, das „der südliche Teil des Adriatischen Meeres“231 ist. Anderson behauptet treffend, „it may be better to allow Ovid to be poetic and vague than to argue that Ino made it down to the Corinthian Gulf and that Ovid conceives of that body of water as part of the Ionian Sea“232; dieser Meinung ist auch Haupt233. Bömer äußert sich sehr ähnlich: „Es ist aus diesen Worten nicht zu ersehen, ob Ovid (oder seine Quelle) eine bestimmte Stelle, genauer: den Korinthischen oder den Saronischen Golf gemeint hat“234. Wenn man eine konkrete Angabe sehen will, wird angenommen, „daß er tatsächlich die Nordseite des Isthmus gemeint hat, die zum mare Ionium führt („Korinthische Version“)“235; das steht der megarischen Version, die auf den Molurischen Fels hinweist, entgegen. Andererseits verhindert Learchos’ Tod außerhalb der Herrschaft der Meeres offensichtlich, dass sich VenusVenus ihres ältesten Urenkels erbarmt.
Die Göttin bezieht sich auf ihren Namen, um gewisse Sonderrechte im Königreich des Meeres zu haben. Ovid denkt eigentlich an AphroditeAphrodite, wie es im Vers 538 gesagt wird; in der Tat heißt Schaum auf griechisch ἀφρός; von ihm sagt Hesiod (ThHesiodTh. 195–198. 195–198 ), dass sie aus ihm geboren ist. Merkwüdig ist, dass Bömer andeutet: „der Name ist nicht griechisch“236, weil Ovid an VenusVenus und nicht an Ἀφροδίτη denken muss. Auffälliger noch ist die Art, die Venus verwendet, um den Schaum anzuführen, denn sie sagt nicht, dass sie aus ihm geboren ist, sondern dass sie selbst als Göttin einst Schaum war (spuma fui, Vers 538). Das Problem ist „der Widerspruch … zu den Worten der Venus selbst, in denen sie sich nicht als Tochter Jupiters, sondern als die Schaumgeborene bezeichnet“237, das heißt, dass Ovid auf die Venus oder eher auf die Aphrodite Urania hinweist, deren Verwandtschaft mit Neptun sehr zweifelhaft ist. Schließlich ist die Verwechslung zwischen graium und gratum in der Antike interessant. In der Tat findet man graiumque gemäß Andersons Ausgabe in den Handschriften LM2 und gratumque in der Handschrift A.
Bernbeck fasst die verschiedenen Punkte der Bitte nach dem Schema der epischen ‚impetratoria‘-Rede ausgezeichnet zusammen: „Zuerst die Anrede mit einer Ehrerbietigkeitsformel (532f.), dann der Hinweis auf die Situation, die durch die Bitte geändert werden soll (534f.), darauf die Bitte selbst (536), zuletzt ein Gedanke, der an das Verhältnis gegenseitiger persönlicher Verpflichtung erinnert und dadurch die Bitte unterstreicht“238. Falsch ist aber die Behauptung von Bernbeck, worauf auch Bömer239 hinweist: „Dort wird die Verwandlung, soweit überhaupt eine Gottheit genannt wird, auf Bacchus zurückgeführt“240.
Neptun nimmt das Flehen auf und führt einen kleinen Prozess von DivinisierungDivnisierung durch, indem er alles von ihnen wegnimmt, was sterblich ist, und ihnen alles verleiht, was an ihnen ewig ist. Anderson achtet auf Ovids Gebrauch des Wortes maiestas in Met. II 847OvidMet. II 847 und er glaubt nicht, „we may doubt that Ovid really wants us to admire the exchange of mortality for this and of greatness“241. Bömer vermutet, dass dieses Merkmal der Götter, das sich in grauitas deorum spiegelt, eine griechische Tradition ist, die in die lateinische Welt zu Ciceros Zeit aufgenommen wurde. Allerdings erklärt der deutsche Forscher, „es verdient angemerkt zu werden, daß die Handbücher über die römische Religion die maiestas deorum nicht behandeln“242. Ein Hinweis auf diese Verwandlung ist nicht nur die Änderung des Aussehens, sondern auch die Namensänderung in LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon. Die lateinischen Versionen dieser Namen aber werden nicht erwähnt; es sieht so aus, als ob Ovid nur die griechische Tradition dieser Besonderheit übernehme. Anderenteils wird die Umgestaltung ihrer Körper nur angedeutet (faciemque nouauit, Vers 541). Allerdings „gibt es keine anschauliche, allmähliche Veränderung, wie sie Ovid in anderen Erzählungen beschreibt“243.
Bernbeck schließt daraus: „So hat Ovid vom Schluß der SageSage ausgehend die Ereignisse gewissermaßen rekonstruiert und die Überlieferung um eine Bittszene erweitert, um eine Szene also, die für epische Darstellung charakteristisch ist“244. Viarre meint, „[la] métamorphose d’Ino et de Mélicerte s’opère de la même façon245 au moyen de l’amour – Vénus – et de l’eau – Neptune – [Cfr. IV, 536ss]“246. Er denkt, dass dieses Erbarmen über Ino durch die Linderung einer unhaltbaren Situation zu einer echten Apotheose führt.
8’) Anhang: Inos sidonische Gefährtinnen (543–562)
Zunächst muss man sich nach der Szene selbst fragen, weil sie kein anderer literarischer bzw. mythographischer Autor überliefert hat, worauf Bömer in seinem Kommentar hindeutet: „Die Geschichte ist anderweitig nicht bekannt“247. Da die Verwandlung in Steinfiguren oder in Küstenvögel ein Element ad hoc für die Metamorphosen ist, wird logischerweise angenommen, dass diese Textstelle am plausibelsten eine Erfindung Ovids ist. Dazu kommt noch: „Dies Motiv der auf die Haupthandlung folgenden Verwandlung von ‚Begleitpersonen‘ findet sich bei Ovid öfter, immer variiert: II 340ff. Heliaden. VIII 533ff. Meleagriden. XI 67ff. Maenaden“248. Ovid gefällt es nach Anderson „to note how sympathy for a victim leads to metamorphosis for friends“249. Man darf jedoch nicht ausschließen, dass der römische Dichter sich auf eine dunkle Tradition bezieht, die die Gegenwart der Ismeniden nahe den Felswänden auf diese Weise erklären wollte.









