Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Dies ist die I-P-H-Version. Ino selbst gibt den Landleuten den gedörrten Samen5; es wird nicht gesagt, dass sie sich mit den einheimischen Frauen verschwört, wie z.B. in Hyg. Fab. IIHyginusFab. II. Ovid präsentiert das negative Bild von Ino. Noch dazu: Er wird ihren Namen – auch den von Philomela – nicht erwähnen, um nicht explizit zu sagen, wer für ein solches Verbrechen verantwortlich war. Dieses Übel wird durch den vebrannten Samen gekennzeichnet: quae ruricolis semina tosta dedit (667).
I.2.2 Fast. III 849–876OvidFast. III 849–876
Der Text spricht über den 23. März. Die Saatzeit wird mit Phrixos’ Widder und dem gedörrten Samen durch Ino in Verbindung gebracht. Ovid präsentiert die I-P-H-Version, denn diese ist die geeignetste, um die jährliche Wiederkehr der Feste im Land zu erklären. Die Textstelle wird detailliert analysiert werden.
Am genannten Datum werden die in den heiligen Riten1 gespielten tubae gereinigt. Frazer erklärt, dieses Fest wird im Caeretanischen, Mafejanischen, Vatikanischen und Farnesianischen Kalender erwähnt2; im prenestinischen Kalender wird gesagt, dass diese Reinigung in atrio sutorio3 vollzogen wurde. Festus zufolge4 bestand die Reinigung im OpferOpfer eines weiblichen Lammes. Es gab noch einen anderen ritus lustralis dieser tubae zwei Monate nachher, und zwar am 23. Mai5; das ist nach Bömer „ein Nachfest zum 23. März“6. An diesem Tag wurde auch das Fest zu Ehren der Göttin Nerio7, die Ovid fortis dea nennt, ausgerichtet.
Frazer folgt Lydos8 und erläutert, dass es zu der erwähnten Reinigung einen heiligen Tanz der Tanzpriesterschaft Salii mit ihren heiligen Schilden gab. Darüber hinaus wurden an diesem Tag sowohl ein Gott (MarsMars) als auch eine Göttin verehrt; die Identifizierung dieser Göttin ist aber nicht klar: „[She was] called in the Sabine tongue Nerine, who was identified with Athena (MinervaMinerva)9 or AphroditeAphrodite (VenusVenus), and whose name, he tells us, meant «strength» or «manliness»“10. Bömer aber meint, Lydos „erklärte die Tubilustria (analog zu den Agonalia) als nicht einer bestimmten Gottheit gehörig“11. Frazer interpretiert, dass die Verwechslung zwischen Venus und Aphrodite geschieht, denn Aphrodite, nicht AtheneAthene12, was die Ehefrau von AresAres, dem griechischen Gegenpart von Mars13; diese Angabe ist jedoch nicht genau, denn Aphrodite war Hephaistos‘, nicht Ares ‘Frau (sie wurde nur zu seiner Geliebten).
Im Anhang der Übersetzung der Fasten durch Frazer erklärt dieser Forscher das Missverständnis. Nerio war eine sehr alte römische Göttin, „whom ancient Roman writers, quoted by Aulus Gellius, explicitly described as the wife of MarsMars“14. Infolgedessen muss man sich nicht auf die griechische, sondern auf die italische Mythologie beziehen. So kann man verstehen, warum der folgende Satz in Plau. TrucPlautusTruc. 515. 515 steht: Mars peregre adueniens salutat Nerienem uxorem suam. Schilling ergänzt Frazers Angaben und meint nach Gell. XIII 23, 10, diese Göttin personifiziert gewissermaβen die Kraft von Mars15. Schilling zufolge hat Ovid bevorzugt, „recourir à une périphrase qui le dispense de se déterminer entre une Nerio qui fait trop pâle figure et une MinerveMinerva qui aurait l’air d’une usurpatrice“16.
Ovid bietet eine astronomische Erklärung an: Die Sonne tritt am 22. März in das Zeichen des Widders; dann wird der astronomische Widder mit Phrixos’ Widder identifiziert. Wie Frazer erläutert, „the constellation was supposed to be the famous ram with the Golden Fleece“17. Es besteht aber ein kleines Problem mit Ovids Datumsangabe. Nach Colum. XI 2. 31 tritt die Sonne am 17. März in das Sternzeichen des Widders ein und beginnt am 23. März, die Konstellation aufzugeben: XVI Cal. April. Sol in Arietem transitum facit … X Cal. April. Aries incipit exoriri; diese Angabe unterscheidet sich um einen Tag von Ovids Datum. Allerdings dürften die wissenschaftlichen astronomischen Angaben diese Behauptungen nicht bestätigen. Frazer bezieht sich auf eine Untersuchung von Ideler und beteuert: „It seems that in the poet’s time the apparent rising of the constellation took place on the fifteenth of April and the true morning rising of the constellation on the tenth of March“18.
Ovid bringt auch das Thema der StiefmutterStiefmutter ein19. Die Strategie, die StiefkinderStiefkinder zu töten, ist die übliche, nämlich die der verbrannten Samen. An dieser Stelle wird der Name der Stiefmutter nicht genannt: Er nennt ihn vorher20. Ovid versetzt den Leser in die Erntezeit, nicht in die Saatzeit; der Text begibt sich in medias res. Er spricht durch die Metapher tripodas (855) über das Orakel von Delphi; nur ein einziger Bote wird zum Dreifuß geschickt. Erst danach wird der Grund dieser Botschaft erwähnt, die Fruchtlosigkeit des Landes21. Die Rede ist eigentlich von Unfruchtbarkeit und nicht von DürreDürre, was den Leser erstaunt, denn Nephele wird im Text als eine himmlische, metereologische Göttin präsentiert; der Name dieser Göttin wird aber nicht in der Erzählung erwähnt, weswegen vielleicht auch nicht die Begriffe Dürre und Regen verwendet werden. Ovid sagt aber schon, dass die den Regen bringenden Wolken sie in ihrem Rettungseinsatz begleiten.
Das Bild von Vers 857 – es erscheint hier zum ersten Mal in der Literatur – ist m.E. nicht sehr treffend, weil der verdorbene Same, der keine Frucht bringt, und der bestochene Bote22, dessen Frucht, nämlich das trügerische Orakel, falsch und unheilvoll ist, nicht vergleichbar sind. Der Orakelspruch fordert erstmalig nicht nur Phrixos’ Tod, sondern auch den seiner Schwester, die sogar an erster Stelle erwähnt wird. Athamas weigert sich, wie in Hyg. Fab IIHyginusFab. II, dem Götterspruch zu gehorchen, aber im Gegensatz zu Hygins Fabel ändert der Athamas von Ovid seine Meinung und erklärt sich schließlich bereit, seinen Sohn zu opfern. Der Dichter bietet dem Leser die Gründe für dieses veränderte Verhalten: das Volk, die Dringlichkeit und seine Frau Ino, die nun namentlich genannt wird. Der Befehl wird als nefanda (860) angesehen. Die Anfangsweigerung hätte auch Phrixos’ Meldung, für das Vaterland freiwilligfreiwillig zu sterben, wie es in Hygins Fabel geschieht, veranlassen können, aber das passiert in den Fasten überhaupt nicht. Möglicherweise hat das Orakel, indem es Helle mit einbezog, diese Entwicklung des Mythos unterbunden.
Eine Eigenschaft der lateinischen Literatur ist die Vorliebe, entweder Phrixos oder Helle oder beide Geschwister zusammen, wie im vorliegenden Fall, von den Opferinfulen bedeckt darzustellen23. Beide stehen vor dem Altar und – dies ist sehr wichtig – bedauern ihren Schicksal. Die Szene erinnert den Leser an die von Athamas in der zweiten Tragödie von Sophokles, die den Namen des Aioliden hat, wie Schol. in Ar. Nu. 257b HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257b Holwerda berichtet. Allerdings wird nicht Athamas zum Opferaltar geführt, sondern seine Kinder.
Es ist nicht klar, was Ovid mit dem Ausdruck ut forte pependerat aethere (863) meinte. Auf jeden Fall wird deutlich, dass Phrixos’ und Helles Mutter – ich bestehe noch einmal darauf: Ihr Name kommt im Text nicht vor – nicht irgendein gewöhnlicher Mensch ist. Diese sieht ihre Kinder und eilt hinunter, um sie zu retten24. Nephele-WolkeWolke erscheint drohend über ThebenTheben, als Ino, in der anderen Version, sich ins Meer stürzt: Beide Mütter wollen ihre Kinder retten, aber am Ende stirbt ein von ihnen (wenn nicht beide, wie z.B. bei Ino). Phrixos und Helles Mutter stürzt nicht allein, sondern von Nimbussen begleitet, das heißt, eine der vier Arten von Wolken, die bestimmt Regen bringen. Ovid kann mit diesem Bild darauf anspielen, dass der Regen schließlich Theben erreicht. Dadurch rettet Nephele-Wolke nicht nur ihre eigenen Kinder, sondern auch die Bürger von Böotiens Hauptstadt. Diese Rettung wäre es klarer geworden, wenn der lateinische Dichter von DürreDürre gesprochen hätte; Ovid spricht aber von Unfruchtbarkeit, und nicht von Dürre, aus einem m.E. deutlichen Grund: Ino kann die Unfruchtbarkeit des Landes verursachen, indem sie den Samen verbrennt, aber nicht die Dürre des Landes, weil sie keine Macht über den Regen hat. Deswegen spricht Ovid von Sterilität. Die ganze Textstelle wird aber als ein meteorologisches Problem vorgelegt, das von Nephele-Wolke gerettetet wird.
Die Handlung findet nicht, wie üblicherweise in vielen Texten über die ArgonautenArgonautensage, in OrchomenosOrchomenos statt, sondern in ThebenTheben, das von Kadmos, Inos Vater, gegründet wurde.
Phrixos’ und Helles Mutter überreicht ihnen den goldenen Widder. Der Grund dieser Gabe ist es, ihnen die FluchtFlucht zu ermöglichen. Man muss annehmen, dass dieses wunderbare Tier nur für die Reise da ist, denn Nephele-WolkeWolke hat ihnen schon geholfen, der grausamen IntrigeIntrige der StiefmutterStiefmutter, und damit dem nahe bevorstehenden Tod auf dem Opferaltar eines Gottes, der nie im Text erwähnt wird, zu entfliehen. Es sieht nicht so aus, als würde sich Nephele-Wolke des Widders bedient, um ihre Kinder vor der Opferung zu retten.
Die beiden Kinder fahren über das Meer und Helle stürzt von dem Widder. Dieser Sturz wird sehr subtil durch zwei Gründe erklärt: die Schwachheit aufgrund ihrer weiblichen Natur (infirma, 870)25 und das mangelnde Können des Mädchens (cornu tenuisse sinistra)26. Wie in Val.Flac. I 291–293Valerius FlaccusVal.Flac. I 291–293 bleibt der Bruder nicht gleichgültig gegenüber dem Sturz der Schwester und versucht, sie zu retten. Zwei Kennzeichen zeigen deutlich die Verzweiflung des Knaben: die ausgestreckten Arme und die Tränen um die verlorene Schwester27. Diese Beschreibung hat weniger Pathos als die von Valerius Flaccus, aber ihre Ausdrucksstärke ist so besonders, dass Frazer sogar zu sagen wagt: „Ovid writes as if he had a picture of the scene before his eyes or in his memory“28. Frazer weist auf ein Fresko in Pompeji hin, das dem von Ovid beschriebenen Bild sehr ähnelt29. In diesem Fresko streckt Phrixos, der auf dem Widder sitzt, der Schwester, die im MeerMeer versinkt, seine Hand hin. Dies ist die Abbildung aus Pompeji30:

Phrixos versucht seine Schwester Helle zu retten
Phrixos sitzt nicht rittlings, sondern „he sits on one side with his feet dangling, and looks as if, in his effort to save his sister, he might share her fate“31. Die Gelehrten vermuten, dass das Original auf eine Zeit noch vor der Alexanders des Großen zurückgehen könnte.
Helle gesellt sich zum Meeresgott. Ovid fügt sich in die Tradition von Eratosth. Cat. XIXEratosthenesCat. XIX – auch die folgenden Texte folgt ihr: Hdn. Gr. 3, 1 247, 16–19HerodianosHdn. Gr. 3, 1 247, 16–19 Lentz; 287, 11–13 LentzHerodianosHdn. Gr. 3, 1 287, 11–13 Lentz und St. Byz. s.u. ἈλμωπίαStephanos von ByzanzSt. Byz. s.u. Ἀλμωπία – ein, die die Bindung zwischen Poseidon-Neptun und Athamas’ Tochter verkünden. Dass Ovid Eratosthenes und Hygins Astronomica nahe folgt, wird deutlich durch das Kennzeichnen des Widders (875). Sonderbarerweise findet sich die Verbindung zwischen der Saatzeit und dem Widder auch in diesem letzten Werk.
Ovid erzählt mit einer kurzen Erklärung, dass das Goldene Vlies in das kolchische Land kommt, ohne dabei den Namen des Königs zu erwähnen. Es fällt auf, dass es keine Opferung gibt, der Katasterismus geschieht sofort, lictoribus tactis (875). Auf diese Weise wird ein positives Bild von Phrixos gezeichnet, der seinen RetterRetter nicht töten will. Der Dichter bietet ein sehr menschliches Bild von Athamas’ Sohn, fast kindlich und selbstverständlich überhaupt nicht heroisch: Er vergießt über sein ganzes Leben bittere Tränen, denn er beweint32 den Tod am Opferaltar und den Tod seiner Schwester. Der Widder hat seinen Auftrag erfüllt und verschwindet genauso plötzlich wie er erschienen ist.
I.2.3 Fast. IV 901–904OvidFast. IV 901–904
Der nächste Text ist der vom 25. April1, es geht um das Verschwinden der Konstellation. Ovid hat den Termin jedoch zu spät angesetzt, wie Frazer bemerkt, denn „in his time the apparent setting of the constellation at evening fell on the twentieth of March and the true setting on the fifth of April“2. Seltsam ist, dass der Dichter die Mitte des Frühjahres auf diesen Tag setzt. Bömer meint, „Ovid stimmt mit Caesar überein“3; in Colum. XI 2, 36 findet dieses Ereignis am 21. April statt. Auf jeden Fall und ohne dieses Problem zu vertiefen, muss man beachten, dass Ovid einen großen Fehler begeht, denn „the rising of the Dog-star (Sirius) at morning did not take place in Ovid’s time till more than three months later, on the second of August“4. Laut den Sachverständigen bezieht sich Ovid eher auf den Untergang des Sternbildes als auf dessen Erscheinen.
Der Text spricht von pecudem … Athamantidos Helles. Dies ist bizarr, weil der Widder üblicherweise mit Phrixos5, nicht mit Helle, in Verbindung gebracht wurde; Ovid aber hat noch ein anderes Mal, und zwar einige Verse früher (Fast. IV 713–716OvidFast. IV 713–7166), dieses wunderbare Tier mit Athamas’ Tochter verbunden. In keinem der beiden Fälle wird Phrixos erwähnt. Darüber hinaus wird der Widder in Verbindung mit Helle nur von zwei anderen Autoren so benannt: Valerius Flaccus (I 167425Valerius FlaccusVal.Flac. I 425Valerius FlaccusVal.Flac. I 167) und Lucanus (IV 56–57).LucanusLucan. IV 56–57
I.2.4 Fast. VI 473–562OvidFast. VI 473–562
Dies ist eine der wichtigsten Textstellen in der griechischen und lateinischen Literatur für das Verständnis und die Interpretation von Athamas’ Mythos. Es handelt sich um den 11. Juni. Ovid schildert das Fest der Matralia1, die auf dem Forum Boarium in RomRom stattfand. Hier wird die I-L-M-Version präsentiert. Die Erzählung ist den ätiologischen Geschichten von Plutarch2 ähnlich; der Unterschied liegt darin, dass Ovids Werk literarisch höher steht als das des griechischen Schriftstellers.
Bevor der Text ausführlich analysiert wird, ist es nützlich, seine Struktur darzustellen:
Kleine Einleitung zum Tag (473–474).
Vorstellung der Matralia:Zielpublikum (475)KultKult (476)Lokalisierung (477–480)Motivierung der Erzählung: Drei Fragen (481–482)
Anrufung von Bacchus (483–484)
Erster Teil: I-L-M-Version (485–498)Bacchus’ Aufnahme (485–486)Junos Zorn (487–488)Athamas’ furor und Learchos’ Tod und Beisetzung (489–492)Ino und Melikertes (493–498)
Kurzes Zwischenspiel: Panopes Aufnahme und Seefahrt (499–502)
Zweiter Teil: AbenteuerAbenteuer in Italien (503–550)Semeles oder Stimulas Hain (503–506)Junos Eingriff und Mänadens Angriff (507–515)Inos Anrufung und Herkules’ Beihilfe (516–522)Herkules’ Dialog und Inos Fama (523–528)Gast bei Carmentis: Kuchen – Prophezeiung – Divinisierung (529–550)
Dritter Teil: Grund für den Hass den Sklavinnen gegenüber (551–558).Einleitung (551–552)Athamas’ heimliche Liebe zu einer SklavinSklavin und Anklage wegen des verbrannten Samens (553–558)
Epilog: Bitte für die Nachkommenschaft der anderen (559–562)
Die kleine Einführung (473–474) spielt auf den Beginn des Tages an, denn „Tithon, époux de l’Aurore, était le fils de Laomédon et le frère de Priam“3. Das Wort exit muss man „in der Bedeutung oriri“4 verstehen.
0’) Vorstellung
Ovid wendet sich an die guten römischen Mütter und lädt sie ein, zu ihrem Fest, den Matralia, zu kommen. Das Zielpublikum sind dann entweder bonae matres (475) oder die pia mater (559). Man muss beachten, dass „Ovide emploie matres comme équivalent de matronae“5. Leider gestattet der Umfang dieses Buches nicht, in das faszinierende Thema der Matralia einzudringen; hier wird nur das Wichtigste hervorgehoben6. Auf jeden Fall behauptet Schilling treffend, „le développement d’Ovide est une illustration remarquable du cas où rite et mythe se trouvaient en discordance“7.
Die Matralia8 wurden zu Ehren von Mater MatutaMatuta gefeiert. Frazer glaubt, sie war „an old Italian goddess, whom Ovid erroneously identified with the Greek goddess Ino or Leucothea“9. Schilling meint, „l’assimilation syncrétiste Mater Matuta-Leucothea était un fait acquis dès le temps de Cicéron (N.D. 3, 3910)“11; die Gründe für diese Gleichsetzung aber sind für Bömer „nicht leicht erkennbar“12. Der Ursprung dieser Göttin liegt im Dunklen; Frazer glaubt, „the ancients connected the name of the goddess Matuta with mane, ‚morning‘“13. Bömer schließt jedoch nicht aus, „wie Iuno Lucina ist auch Mater Matuta vielleicht schon ursprünglich Geburts- und Frauengottheit“14.
Im Ritual dieses Festes sollten einige auffällige Merkmale betrachtet werden, wie z.B. die Beschränkung der Teilnahme: nur die mit einem einzigen Mann verheirateten Frauen (uniuira) durften dabei sein. Frazer erwähnt noch eine Angabe: „None but a wife who had had but one husband (uniuira) might place a wreath on the image of the goddess“15. Nach diesem Gelehrten galt die Vorschrift auch für das Abbild von Fortuna Muliebris16. Laut römischem Gesetz war es zwar nicht verpflichtend, dass der Mann noch lebte, aber man darf annehmen, dass die Witwen fernblieben. Man hätte ihnen vorwerfen können, „the pollution of death might be thought to attach to them“17.
Man kann der Vollständigkeit wegen die bekannte These der Komparatistik in Bezug auf dieses Fest, wie sie Dumézil formuliert, hier einbringen: „L’Aurore allaite et lèche l’enfant de sa sœur, la Nuit. Cet enfant, qui est le Soleil, ne peut apparaître qu’après l’expulsion de l’Aurore. Dans cette perspective, le rôle des matrones romaines consiste à favoriser, par une sorte d’action sympathique, une fois l’an, le 11 juin, la réussite de cet office astral“18. Den Verlust dieser theologischen indogermanischen Geschichte ersetzt Ovid mit dem Mythos von Ino-Leukothea, weil er ‚diese griechische Figur‘ mit Mater MatutaMatuta identifiziert hat: Ino erzieht Bacchus, den Sohn ihrer Schwester SemeleSemele; die Sklavinnen werden aus dem Tempel geworfen, denn eine war die Geliebte ihres Mannes Athamas. Schließlich kann man sagen, „Ovide a adapté rigoureusement la mythologie grecque au rite latin“19. Interessant ist zu bemerken: „Der KultKult der Matuta war in Italien weit verbreitet (Satricum-Conca, Cora, Cales, Praeneste, Pisaurum u.a.)“20; und die Römer verbreiteten ihn, als sie die Welt eroberten.
Die räumliche Umgebung für Ino-Leukothea ist nach Ovid ThebenTheben. Das ist logisch, weil ihr Vater KadmosKadmos die Stadt gegründet hatte. Obwohl dieses Thema ausführlicher im nächsten Kapitel analysiert wird, kann man schon jetzt folgenden Schluss ziehen: Wenn man auf Nepheles Sohn Phrixos besteht (I-P-H-Version) und er der Protagonist der Geschichte – normalerweise als Vorgeschichte der ArgonautenArgonauten – ist, wird die Erzählung in OrchomenosOrchomenos lokalisiert; zu dieser böotischen Stadt fuhren Phrixos’ Söhne, als sie ihre Mutter verließen, um das Haus ihres Großvaters Athamas zu erreichen, ob nun der Text das Erbe als Grund erwähnt21 oder nicht22. Der Leser findet sich in der Mitte der Erzählung des Mythos von Athamas. Wenn man auf Ino besteht (entweder I-P-H- oder I-L-M-Version) und sie die Protagonistin der Geschichte ist – ihr Bild kann entweder positiv oder negativ sein –, wird die Aktion in Theben stattfinden; in diesem Fall wird diese Erzählung mit KadmosKadmos’ Familie verbunden und betont das unglückliche Schicksal der Töchter von Kadmos.
Ovids’ carmen geht weiter. Der Dichter erwähnt den gelblichen, knusprigen Kuchen, der zu Ehren der Göttin angeboten werden sollte. Wie in den Metamorphosen stellt Ovid verschiedene Szenen nebeneinander dar, die, wie üblich, mit einer neuen Ortsbeschreibung beginnen. Der Leser befindet sich auf dem Forum Boarium oder Bouarium, wie es auch genannt wurde; es liegt zwischen den Brücken der Tiberinsel und dem zwischen Palatin und Aventin liegenden Circus Maximus. Ovid nennt die Namen der Brücken nicht, „but they were probably the old wooden bridge (Pons Sublicius) and the Aemilian bridge (Pons Aemilius)“23. Zu dieser Gegend kam man vom Forum Romanum her durch das Velabrum, nämlich den Janusbogen (Ianus Quadrifons) gelangen. Es ist communis opinio, dass dieses Gebiet nordöstlich von der Kirche S. Giorgo in Velabro, südöstlich von der Kirche S. Maria in Cosmedin und südlich vom Ponte Rotto begrenzt wurde. Frazer denkt, „the position of the Ponte Rotto appears to correspond to that of the old wooden bridge (Pons Sublicius), and the Aemilian bridge was not far off“24.
Dieser Ort bekam seinen Namen auf Grund des Denkmals eines liegenden Rindes, von dem keine Spur mehr erhalten ist. Frazer meint, Ovid habe sich darin geirrt25, denn es ist noch wahrscheinlicher, dass der Ort so genannt wurde, weil er ein berühmter Marktplatz war, der hauptsächlich als Viehmarkt diente. Das Bild, auf das Ovid angespielt, war aus Bronze, kam aus Ägina und wurde auf Myron zurückgeführt; im 1. Jh. n. Chr. (Plin. HN. XXXIV 10)Plinius der ÄltereHN. XXXIV 1026 war es noch sichtbar.
Ovid weist in die Zeit des Königtums, und zwar des großen Königs Servius Tullius zurück, denn dieser König hat den Tempel zu Ehren von Mater MatutaMatuta geweiht. Der Text spricht über sacra … templa (479–480); der Plural muss so verstanden werden: „Servius Tullius (579–534) passe pour avoir consacré, le même jour et au même endroit, les temples de Mater Matuta (480) et de Fortuna (569) qui sont contigus“27. Ovids Behauptung ist in Liu. V 19, 1–7 bestätigt, wo man auch lesen kann, dass der Diktator Marcus Furius Camillus ihn 396 v. Chr. nach der Eroberung von Veji wiederaufbaute, denn beide Tempel wurden 509 v. Chr. vom Volk im Aufstand gegen das etruskische Königtum zerstört. 213 v. Chr. richtet ein schreckliches Feuer den Tempel noch einmal zu Grunde: Alles – von Porta Carmentalis bis zu den Salinae – stürzt ein. 196 v. Chr. baute Stertinius zwei Bögen in der Nähe beider Tempel. 174 v. Chr. weihte Sempronius Gracchus eine Inschrift im Tempel von Mater Matuta zu Ehren von JupiterJupiter, das Motiv ist aber nicht bekannt.
Nachdem Ovid zu den römischen Müttern gesprochen hat, wendet er sich nun an Bacchus. Er wird mit Trauben und Efeu, den berühmten Kennzeichen dieses Gottes, geschildert. Man sagt ihm offensichtlich, dass der Tempel von Mater Matuta sein Haus ist, was ein klarer Hinweis auf die Erziehung Bacchus’ durch Ino ist. Er ist am besten geeignet, um dem Dichter alle AbenteuerAbenteuer Inos einzugeben.
Ovid interessiert sich für drei Angaben:
A) Wer Madre MatutaMatuta ist.
Frazer zufolge identifizierte sie Ovid – nicht ohne Bedenken28 – mit der griechischen Ino. Diese Assimilation wurde schon vor ihm von Cicero29 angenommen; entweder gleichzeitig mit unserem Dichter oder nach ihm wird sie von verschiedenen Autoren verwendet: Hygin (Fab. IIHyginusFab. II; CCXXIV); Servius (AenServiusG. I 437ServiusAen. V 241. V 241; G. I 437); Laktanz (InstLaktanzInst. I 21. I 21); St. Augustinus (Ciu. XVIII 14AugustinusCiu. XVIII 14) und Lactantius Placidus (Stat.ThebLactantius PlacidusStat.Theb. I 12. I 12). Es scheint30, dass die Identifikation aufgrund der wirklichen oder eingebildeten Ähnlichkeiten in ihren Mythos und ihr Ritual31 gelangen konnte: Beide Göttinnen werfen Sklavinnen aus ihrem Tempel32 und in beiden Fällen beten die Frauen nicht für ihre eigenen Kinder, sondern für die ihrer Schwestern33. Frazer glaubt, meiner Meinung nach zutreffend, folgendes: „Obviously this Greek legend furnishes no real explanation of the Roman custom which forbade women to pray to Mother Matuta for their own children, but allowed or enjoined them to pray for their sisters’ children“34. Möglich ist, sich wie Plutarch zu fragen, ob das einzige Ziel dieses Ritus war, die Gemeinschaft innerhalb der Verwandtschaft zu stärken.









