Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Frazer versteht diesen Ritus anders: Er bezieht sich dabei auf Servius, der erklärt, dass man weder den Namen des Vaters noch der Tochter in den Riten von Ceres aussprechen konnte; „this suggests that in the rites of Matuta women may have been forbidden to mention the names of their children, but permitted to mention the names of their sisters’ children, and that therefore they could not pray for their own offspring, but were free to pray for their nieces and nephews, the children of their sisters“35. Auf jeden Fall, und Frazer36 selbst zieht diese Schlussfolgerung, hat man diesbezüglich keine zufriedenstellende Lösung gefunden.
B) Warum sie Sklavinnen vom Tempel fernhält.
Dies Thema wird im dritten Teil dieser langen Texte vertieft.
C) Warum sie sich einen knusprigen Kuchen wünscht.
Schilling basiert auf Dumézils Interpretation, indem er die ganze Textstelle nach der indogermanischen Perspektive des Aufgangs der Morgenröte – glossiert. Deshalb meint er, die Farbe dieser Kuchen, flava (476), „sont d’une couleur analogue à celle de l’Aurore“37. Das wäre dann eine deutliche ätiologische Erzählung.
1’) I-L-M-Version
Ovid fängt seine Erklärung mit der letzterwähnten Figur, nämlich Bacchus, an. SemeleSemele ist durch die Blitze verbrannt und Ino nimmt ihren Sohn auf, erzieht ihn und sorgt sich um ihn. Falsch ist meiner Ansicht nach Schillings Behauptung: „Le traitement de cette matière mythologique dans les Fastes fait contraste avec sa présentation dans les Métamorphoses: le personnage principal des Fastes devient le personnage secondaire des Métamorphoses et viceversa“38. Selbstverständlich haben beide Berichte eine ganz andere Erzählfunktion und infolgedessen werden in jeder Erzählung jeweils verschiedene Aspekte hervorgehoben. Trotzdem ist es nicht sehr treffend, zu behaupten, Semele, Bacchus’ Mutter, sei die Hauptfigur in Athamas’ und Inos Geschichte in den Metamorphosen (IV 416–562OvidMet. IV 416–562), sogar in dem ganzen Zyklus von KadmosKadmos – Schilling zitiert Met. III 260–309OvidMet. III 260–309. Sie spielt eine besondere Rolle, aber sie ist nicht die Protagonistin.
Juno gerät wegen der Erziehung des paelice natum (487)39 in Wut. Im Gegensatz zu den früheren Motiven wird hier weder Athamas’ Hochmut noch Inos Verachtung noch ihre ὕβρις erwähnt. Darüber hinaus wird Inos Verhalten in den Fasten gerechtfertigt und gepriesen: Wieso hätte sie sonst den Sohn ihrer Schwester aufnehmen können? Es ist letztendlich das positive Bild von Ino.
Sofort beschreibt Ovid Athamas’ Wahnsinn. Am auffälligsten ist, dass Juno überhaupt nicht eingreift: Sie spricht nicht einmal, sie beklagt sich nicht über eine Beleidigung und sie steigt nicht zur Unterwelt hinab, um die Erinnyen um ihre Rache zu bitten. Darüber hinaus sagt der Text nicht, dass JunoJuno Athamas den Irrsinn schickt. Dieser wird bei Athamas von den FurienFurien durch ein Trugbild ausgelöst, aber diesem falschen Bild, das angeblich dem von Tisiphone in Met. IV 490–511OvidMet. IV 490–511 entspricht, wird kein Name gegeben. Das Wort furiis erinnert den Leser an die Erinnyen, und zwar an die Furien, aber es soll vor allem Athamas’ WahnsinnWahnsinn als rasend kennzeichnen.
Ovid ruft Learchos mit demselben Wort (parue), mit dem er Melikertes in Met. IV 522OvidMet. IV 522 benannte. Die Einzelheiten der Jagd fallen weg, über die Art von Learchos’ Ermordung durch seinen Vater wird geschwiegen und jede Erwähnung von Grausamkeit vermieden. Man könnte sagen, Ovid behandelt dieses Thema mit Glacéhandschuhen, denn es ist nicht eigentlich das, was er dem Leser erzählen will: Dies ist nur die Vorrede, um zur ‚wichtigsten‘ Geschichte von Ino-Leukothea zu kommen. Ino bestattet ihren Sohn und erfüllt fromm alle den Toten gepflichteten Riten; Ovid besteht auf dem positiven Bild von Ino als einer guten Mutter, die unter dem Tod ihres Sohnes durch die Hand ihres wahnsinnigen Mannes leidet. In Met. IV 515–524OvidMet. IV 515–524 bleibt Learchos’ Leiche unbestattet und unbeweint.
Nachdem sie dem Toten gegenüber alle Akte der Barmherzigkeit erfüllt hat, nimmt Ino Melikertes aus der Wiege. Ovid ruft in diesem Moment Learchos’ jüngeren Bruder, und es ist klar, auch wenn er das Wort parue nicht erwähnt, dass Melikertes ein Säugling ist, denn er schläft in einer Wiege. Bemerkenswert ist, dass Ovid nicht sagt, Ino werde wahnsinnig wie ihr Mann: Ino leidet nicht wie Athamas unter dem Irrsinn, sondern unter der grässlichen Todesart ihres Sohnes Learchos, durch die sie emotionell (laniata, Vers 493) destabilisiert wurde. Allerdings ist die Beschreibung von funestos … capillos (493) ein Hinweis auf den bacchischen Wahnsinn der Mänaden, den Ino einigen Traditionen nach auch mitbekommen hat. Andererseits ist das Wort prosilit dasselbe, das Valerius Flaccus (VIII 21) verwendet, wenn er Medeas Antrieb, in den Wald hineinzugehen, schildert, eine Bewegung, die in der Argonautica mit Inos SprungSprung ins Meer verglichen wird40.
Neue Szene. Ovid bringt den Leser bis zum ‚Steilufer‘, von dem Ino ins Meer springen wird. Es gibt eine große Ähnlichkeit zwischen dieser Passage und dem Ausdruck est uia decliuis in Met. IV 432OvidMet. IV 432. Dieses kleine Land wird von Meeren umspült; auffällig ist, dass es nie als eine Klippe beschrieben wird41. Selbstversändlich beschreibt Ovid den Isthmus von KorinthKorinth42. Ino, die aufgrund ihres zukünftigen Verbrechens als insanis dargestellt wird, kommt mit Melikertes in ihren Armen. Hier wird das Wort verwendet, das laut Cicero43 den Wahnsinn als eine Krankheit kennzeichnet. Ino springt unverzüglich. Es ist nicht klar, warum Ino sich so verhält, denn es wird weder gesagt, dass Athamas sie verfolgt, noch dass der Aiolide seinen andern Sohn auch töten will. Man hat den Eindruck, dass Ovid viele Einzelheiten als bekannt betrachtet.
Der Leser springt von Szene zu Szene. Panope und ihre hundert Schwestern nehmen die Mutter und das Kind auf. Frazer erklärt, wer die Wohltäterin ist: „Panope was one of the sea-nymphs, the Nereids, the daughters of Nereus and Doris“44. Ihre Anzahl45 beträgt bei Hesiod (ThHesiodTh. 240–264. 240–264) und Hygin (Fab. Praef. 8) nur fünfzig; Ovid wird aber von Plato (CriPlatonCri. 116e. 116e) unterstützt, weil dieser auf einen Tempel zu Ehren Poseidons hinweist, wo es einhundert goldene Bilder der Nereiden gab. Bömer denkt, dass sich Ovid auf Prop. III 7, 67ProperzProp. III 7, 6746 beziehen könnte, „wo 100 eine Vielzahl bedeutet“47. Trotzdem muss man bei Ovid einhunderteins berechnen und „dafür gibt es überhaupt keine Parallelen“48. Abgesehen von der Anzahl der Nereiden ist es interessant, sich auf Panope zu konzentrieren; sie ist die einzige, die er beim Namen nennt und möglicherweise hat Ovid diese Nereide wegen des Textes von Vergil (VergilG. I 437G. I 437) explizit genannt: In Georgica steht sie bei dem Gelübde, das die Seeleute ablegen, buchstäblich neben Ino.
Man muss bemerken, dass nur Learchos in den Fasten stirbt; Ino und Melikertes überstehen inlaesos (499). Außerdem ändert sich der Ton der Beschreibung ganz und gar: von den zerrauften Haaren, den rasenden Armen, den tödlichen Sprüngen zu einer sanften Seefahrt. Das erinnert den Leser an die Seefahrt von Phrixos und Helle, denen auch von den Göttern durch das goldene Vlies geholfen wurde. Ovid besteht aber darauf, dass Ino und Melikertes’ Divinisierung noch nicht stattgefunden hat (vgl. Vers 501).
2’) Die AbenteuerAbenteuer in Italien
Ino und Melikertes kommen zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur im Mündungsgebiet des Tibers an.
Und noch einmal: Eine neue Bühne, eine neue Szene: Ein Hain. Der Leser ist gespannt; schwierig ist, die Morde von Aktaion, Pentheus und Learchos im Wald zu vergessen. Die Struktur ist derjenigen von Vers 495 (lucus erat) ähnlich, mit einer bloßen Umkehrung von Wörtern: Substantiv + Verb. Seltsam ist der Name des Hains: entweder Semeles, Inos Schwester und Mutter von Bacchus, des Gottes des Wahnsinns, oder Stimulas, eines Schlüsselwortes in Ios Irrsinnn. Der Name des Haines legt im Voraus die Natur seiner Bewohner fest: die Mänaden Ausoniens. Frazer meint, Stimula „seems to have been a genuine old Roman goddess, the personification of the impulses which stimulate and excite the mind“49. Die Identifizierung mit SemeleSemele, Bacchus’ Mutter, war möglich, weil das Bacchusfest, das Bacchanal, vielleicht in diesem Gebiet stattfand; Le Bonniec deutet tatsächlich an, „le sens de Stimula (déesse « qui aiguillonne ») semble faire de cette déesse une instigatrice du délire bachique“50. Ernout / Meillet glauben, Stimula könnte vielleicht eine volkstümliche Fehlbildung von Semele sein51. Dieser Meinung ist auch Bömer, wenn er schreibt: „Ihre Verbindung zu Semele ist in erster Linie auf die sprachliche Ähnlichkeit zurückzuführen“52; oder Le Bonniec selbst: „Vieille divinité italique, mal connue, rapprochée de Sémélé à cause de la ressemblance de leurs noms“53.
In diesem Hain, der auch in CIL. VI 2 9897EinschriftenCIL. VI 2 989754 erwähnt ist, fand angeblich das berühmte Bacchanal des Jahres 186 v. Chr. statt, das RomRom so stark erschreckte; aus diesem Ereignis resultierte der denkwürdige, im Museo della Civiltà Romana erhaltene Text über das Verbot des Bacchanals. Der Hain sollte in der Nähe des Aventin liegen; Frazer mutmaßt, „that it was situated in the northern part of the modern Prati del Testaccio, at the western or south-western foot of the Aventine, below the church of S. Maria Aventina or of S. Anselmo“55.
Ino fragt nach der Identität der Mänaden; die Antwort verbindet RomRom mit Griechenland, nämlich mit Arkadien und dem König Evander. In diesem Moment taucht eine neue Figur auf, die ihre echte Identität versteckt: Saturnia56. Ovid benutzt für die Beschreibung ihrer Erscheinung das gleiche Wort, das den Hain kennzeichnet: instimulat (508). Die Worte der Göttin, die im Gegensatz zu denen, die Ino ausspricht, wortwörtlich nacherzählt werden57, haben dieselbe Eigenschaft wie Juno: die Unwahrheit.
Der Höhepunkt der Ironie befindet sich in diesem Widersinn: Juno beschuldigt Ino des gleichen Verbrechens, das sie selber begeht, nämlich des Betrugs. Die Rede der Göttin ist einfach und kurz, aber sehr wirksam. Zunächst erweckt sie den Argwohn der Zuhörerinnen, daraufhin enthüllt sie die böse Absicht der Ino: Kadmos’ Tochter ist zu ihnen gekommen, um das Ritual ihres Bundes zu erkunden. Letztlich weist sie auf die verdiente Bestrafung hin: Melikertes muss sterben. Dieser letzte Punkt ist dem Ausdruck ipse docet quid agam in Met. IV 428OvidMet. IV 428 ähnlich. In der Tat beabsichtigt Juno, dass Inos Schicksal dem ihrer Schwester Agave ähnelt und ihr Sohn Melikertes von den Bacchanten zerrissen58 wird und stirbt. Junos Besessenheit bezüglich Inos Kinder ist krankhaft.
Die Mänaden werden durch ihre üblichen Züge gekennzeichnet: Heulen, Kopf in die Luft und ungewöhnliche Gewalttätigkeit. Auffällig ist der Beiname ‚Thyaden‘, den Vergil (Aen. IV 302VergilAen. IV 302) schon benutzt hatte und der auf Griechisch ‚irreredende Frauen‘59 bedeutet. Die Hände zu strecken (iniciuntque manus, Vers 515), könnte mit einem außergerichtlichen Ritualakt zu tun haben60.
Ino ruft, wenn sie angegriffen wird, die Götter und Männer des Landes, und zwar die Vorfahren der Römer. Zum ersten Mal spricht Ino in den Fasten. Diese Szene ist der in Met. IV 516–517OvidMet. IV 516–517 sehr ähnlich: Da versucht Athamas – und er schafft es –, Learchos, nicht Melikertes, aus den Armen ihrer Mutter zu reißen. In den Fasten verteidigt Ino ihren Sohn vor dem Angriff der tobenden Bacchanten, im Gegensatz zu Agave in Bezug auf ihren Sohn Pentheus; der Unterschied liegt in dem furor: Der von Dionysos ist wirksam, jener von Juno nicht.
Herkules verlässt die Kühe61 auf dem Aventin und läuft dahin, wo er das Kampfgeräusch hört. Herkules’ Anwesenheit in dieser Geschichte – Ovid ist der einzige Autor, der diese Angabe überliefert – würde die enge Verbindung zwischen dem Tempel Hercules Victor und dem PortunusPortunus im Forum Boarium bestätigen, falls es wahr ist, dass die Kirchen S. Maria Sole und S. Maria Egiziaca zu Ehren dieser Helden geweiht worden sind. Das bedeutet, dass die Nachbarschaft beider Tempel auf eine gemeinsame, wahrscheinlich im 2. Jh. v. Chr. entstandene Legende zurückgeht, die „gleichzeitig die Erzählung von dem Eingreifen des Hercules in die Portunus-Geschichte“62 klarstellen könnte.
Der Held vom Berg Öta63 kommt an, und die Frauen fliehen entsetzt. Ovid benutzt das Bild, das zum Wort tropaeum, und zwar τροπαῖον, führt. Das war das Denkmal, das als Siegeszeichen genau an dem Ort, wo der Feind dem Gegner den Rücken zukehrte und zu flüchten begann, gesetzt war. Im Gegensatz zu den Bacchanten, die von Juno betrogen worden waren, erkennt Herkules Ino sofort und nennt sie matertera Bacchi (523). Dieser Titel ist eigentlich der Grund von Junos Zorn, der Beweis für die neue Niederlage von Jupiters Frau. Es ist nicht erstaunlich, dass Herkules sogleich auf Juno anspielt, ohne aber ihren Namen zu nennen: Er bezeichnet sie nur als numen (524).
Herkules und Ino haben ein ähnliches Erlebnis, ein gemeinsames Schicksal: Beide werden von JunoJuno verfolgt. Ino erzählt ihm nur einen Teil der Geschichte; Ovid sagt, dass sie den anderen Teil aus Scham zurückhält: Ihr ist es peinlich, eine solche Freveltat vor ihrem Sohn auszusprechen. Allerdings stimmt es überhaupt nicht mit Ovids Erzählung überein, dass Melikertes nur ein Säugling ist und er kein Wort verstanden hätte. Zum ersten Mal wird klar gesagt, dass sich Ino von den FurienFurien mitreißen ließ, was als ein deutlicher Hinweis darauf gilt, dass der furor auch in Athamas’ Frau wirkte. Nachdem Ino mit ihrer Erzählung fertig ist, fliegen die Gerüchte über sie überall hin. Und das Gerücht, das damals den Zeitgenossen Inos Erzählung bekannt machte, ist dasselbe, das den Römern vom 1. Jh. n. Chr. durch Ovids Darstellung Inos Geschichte erzählt.
Dann erscheint die Priesterin Carmentis, Evanders Mutter und Göttin des prophetischen carmen64. Ino ist Gast in Carmentis’ Haus, in dem Athamas’ Frau die auf dem Herd gewärmten Kuchen isst. Dies ist die Antwort auf die zweite Frage: Die Römerinnen sollten Mater Matuta, die raffiniert mit Ino identifiziert wurde, Kuchen anbieten, weil Tegeas Priesterin dies damals bei Ino auch so getan hatte. Laut Frazen „[these cakes65] were baked by matrons in a hot earthen pot (testu); hence they were called testuacia“66. Bömer deutet an, „das Aition ist griechisch“67. Ein anderer Beleg dieser Kuchen ist in Varr. V 106VarroLL. V 106 zu lesen: Testuacium, quod in testu caldo coquebatur, ut etiam nunc Matralibus id faciunt matronae. Carmentis wird Tegea genannt, weil sie aus Arkadien kommt, dessen wichtigste Stadt Tegea ist.
Nachdem Ino den Hunger gestillt hat, will sie auch ihre Neugier stillen. Sie fragt Carmentis nach der Zukunft. Athamas’ Frau ist besonnen; sie weiß, dass es nicht gestattet ist, alles zu sagen, weil sie Herkules auch nicht alles erzählen konnte; deswegen bittet sie nur, dass es gesagt wird, qua licet (536). Wie Ino unverzüglich (498) gesprungen war, genauso schnell bemächtigte sich der Gott der Weissagerin68 und bringt sie zum Sprechen. Der ἐνθυσιασμός ändert, verunstaltet und entstellt die menschliche Figur69; er vergrößert ihre Statur, weil auch ihre Fähigkeit und ihre Macht gesteigert werden: „Begnadete Menschen sind maiores humano“70. Die Szene ist deutlich von Verg. Aen. VI 46–51VergilAen. VI 46–51 inspiriert.
Carmentis verkündet nur frohe Nachrichten: Ino wird dem römischen Volk helfen, in RomRom71 immer zugegen sein und eine Seegöttin werden, wie Melikertes ein Seegott. Carmentis selbst verleiht ihnen ihre neuen Namen: Leukothea-Mutter MatutaMatuta; PortunusPortunus (er kümmert sich um den Hafen)-Palaimon72. In Bezug auf die lateinische Bezeichnung des divinisierten Melikertes, behauptet Frazer, „Portunus was a genuine old Roman god“73; diese Gottheit erscheint auch in AenVergilAen. V 240. V 240, wo er einem im Wettbewerb zu Ehren des verstorbenen Anchises kämpfenden Schiff hilft. Die Römer waren nicht sicher, ob Portunus’ Name aus portus oder aus porta abzuleiten war. Der schottische Gelehrte meint: „Portunus was primarily a god of gates (portarum) and only secondarily a god of harbours (portuum)“74. Seine Festspiele fanden am 17. August statt.
Carmentis empfiehlt den neuen Göttern, RomRom gnädig zu sein. Wo sich Ovid an die guten Mütter in Vers 478 wendet und ihnen befiehlt, zu den Matralia zu gehen (ite), da weist Carmentis Mater Matuta und PortunusPortunus umgekehrt an, nach Rom zu gehen (ite, Vers 548) und der Urbs gnädig zu sein; Mater Matuta verspricht es. Auffallend in diesem Verfahren ist, dass der Vermittler dieser Divinisierung nicht ein Gott ist, sondern eine menschliche Priesterin, der ApollonApollon die Worte eingibt; sie ist es auch, die den beiden ihre Namen verleiht. Im Gegensatz zu Met. IV 539–542OvidMet. IV 539–542 gibt es in den Fasten keinen Reinigungsprozess. Die erste Frage nach der Identität von Mater Matuta sollte hiermit beantwortet sein.
In den Fasten sterben Ino und Melikertes nie. Zunächst stürzen sie sich von einer Klippe ins Meer, aber Panope und ihre Schwestern retten sie, und sie überstehen den Sturz unbeschadet; daraufhin wollten die Mänaden das Kind den Armen der Mutter entreißen – eine Szene ähnlich wie in den Metamorphosen, in der Athamas Learchos aus Inos Armen reißt und tötet –, aber sie schaffen es dank der Hilfe von Herkules nicht; letztlich werden sie sofort gemäß der Vorhersage von Carmentis in Götter verwandelt.
3’) Der Grund für die Ablehnung der Sklavinnen
Ein bloßes Jawort – und Ovid bringt den Leser noch einmal in die Gegenwart. Der Dichter nimmt die Erzählung in die Hand und simuliert einen Dialog mit den vor dem Tempel der Göttin versammelten Gläubigen. Ovid will die dritte und letzte Frage beantworten, aber er ändert ganz und gar das ParadigmaParadigma, weswegen er zur Gegenwart zurückkehren muss: Er konnte nicht in der I-L-M-Version bleiben, wenn er diese Antwort mit der Hilfe der I-P-H-Version erklärt, obwohl weder Nephele noch ihre Kinder im Text erwähnt werden. Darüber hinaus ist die Erzählung sehr viel kürzer (nur zwölf Verse). Diese Antwort befriedigt überhaupt nicht. Frazer glaubt, „perhaps the prohibition was based on a general unwillingness, shared by Greeks as well as Romans, to allow slaves to participate in religious rites, which they were supposed to pollute by their presence“75. Dieser Forscher bietet auf derselben und der nachfolgenden Seite viele andere Beispiele von KultKulten, in denen die Anwesenheit von Sklaven verboten war.
Ovid zufolge hasst Ino-Leukothea-Mater Matuta die Dienerinnen, weil eine SklavinSklavin zu Athamas’ Nebenfrau wurde. Der Aiolide wird als böswillig (improbus, Vers 555) beschrieben, wie es auch in den Gedichten der Anthologia Palatina76Anthologia PalatinaAP. IX 253 geschieht. Seine Liebe zu diesem Sklavenmädchen ist furtim (555), wie Athamas auch in anderen Texten Ino heimlich liebte, hinter dem Rücken seiner Frau Nephele77. Man kann sich fragen, wer für diese Liebe verantwortlich war: Athamas oder die Dienerin? Wer verführte wen?
Die SklavinSklavin, deren Name nicht genannt wird78, ist diejenige, die Athamas Inos IntrigeIntrige enthüllt, mit anderen Worten, sie beschuldigt Athamas’ Frau des Komplotts mit dem gedörrten Samen. Aber es wird nicht gesagt, warum und gegen wen Ino intrigiert hat; dies muss allen bekannt gewesen sein. Dieser Bericht steht im Gegensatz zu den Erzählungen (Fast. II 628OvidFast. II 628), in denen Ino selbst den Samen verbrennt, und ist denen (Fast. III 853)OvidFast. III 853 ähnlicher, in denen die Samen durch den Betrug der Stiefmutter gedörrt werden. Ovid verwendet dieselbe Tradition von Theon, wie sie Stephanos von Byzanz überliefert hat79 .
Ino leugnet die Tat80, aber die fama, nämlich das Gerücht, das Inos Geschichte nach der I-L-M-Version vorher verkündet hat, macht nun die I-P-H-Version bekannt. Fontenrose meint, diese Episode, wie die von Theon, sei möglicherweise die ursprüngliche Legende eines Mannes mit zwei Frauen; diesem Forscher gemäβ, „[it] probably represents a feature of the original legend in which the maidservant tried to influence Athamas against Ino either by telling some damaging truth about her or by deliberately lying“81; das heißt, dass die Dienerin sich nur wünscht, dass ihr Liebhaber sich mit seiner Frau zerstreitet, damit sie ihn ganz für sich hat.
4’) Epilog: Das Gebet für die Nachkommenschaft der anderen
Ovid beendet diese Geschichte mit der Erklärung des Kultes der Matralia: Mutter MatutaMatuta wird seltsamerweise nicht als Mutter verehrt – sie sah ihren Sohn Learchos sterben und versuchte ihren Sohn Melikertes zu töten –, sondern als AmmeAmme, die sich um ihren Neffen Bacchus gekümmert hat. Die Mütter müssen deshalb für die Kinder anderer Person und nicht für ihre eigenen Kinder beten. Ovid sagt nicht, wie Plutarch82, dass sie für die Kinder ihrer Gewister beten müssen, sondern nur für alterius (561). Normalerweise wird es so verstanden, dass man für die Kinder der Schwester beten müsse, denn Ino war gut zu Bacchus, es wird aber gemeinhin vergessen, dass sie an der Jagd und dem Zerreißen ihres anderen Neffens Pentheus beteiligt war83. Das Wort felix (560) „a ici le sens actif (= propitia) comme dans l’expression VenusVenus felix“84. Dass Ino nicht glücklich gewesen ist, wird auch von Porphirios erwähnt85.
Der Text ist es wert, wie der in den Metamorphosen, ihn einer allgemeinen persönlichen Betrachtung zu unterziehen.
In den zwei großen Teilen, hier erste und zweite Abteilung genannt86, gibt es einige Züge, die entweder als parallel oder als entgegengesetzt gelten. Ovid präsentiert zwei Könige, den einen im ersten Teil (Servius Tullius, römisch) und den anderen im zweiten (Evander, griechisch). Der Dichter hält sich für den Wahrsager des ersten Teils, nämlich der Gegenwart, wie Carmentis die Wahrsagerin des zweiten Teils ist, nämlich der Vergangenheit, der Zeit von Ino87. Jupiters Ehefrau erscheint als Juno im ersten Teil. Es wird angenommen, dass sie durch die FurienFurien agiert, die auch Ino angreifen, wie sie nachher selbst Herkules gegenüber zugibt; im zweiten Teil erscheint sie, sogar physisch, als Saturnia und agiert durch die Mänaden. Dieser letzte Punkt ist sehr auffällig. Bekannt ist der bacchische furor der Mänaden, der Dienerinnen von Bacchus88; hier aber geht es um Bacchus’ AmmeAmme selbst und ihren zusammen mit dem neuen Gott erzogenen Sohn, die sie töten wollen! Der berühmte Ausdruck der Metamorphosen (IV 428) wird hier m.E. ganz und gar erfüllt: Juno benutzt die Waffen ihres Feindes; dort bezog sich das auf den Wahnsinn, hier auf seine Anhängerinnen.
Der einzige und bedeutsame Bezugspunkt zwischen dem zweiten und dem dritten Teil ist das Bild der Ino: Das Gerücht von Vers 527 stellt das positive Bild von Ino (I-L-M-Version) dar; der Ruf von Vers 557 präsentiert das negative Bild von Ino (I-P-H-Version). Ovid stellt beide Versionen zusammen, um zwei Eigenheiten des Kults von Mater Matuta zu erklären, aber er kümmert sich nicht darum, beide Erzählungen aneinander anzupassen: Er bietet sie nur nebeneinander dar und geht nicht weiter.
Der Text ist voll von Anrufungen: die guten Mütter, Bacchus, der kleine Learchos, Melikertes; Ino ruft die Götter und die Männer des Landes an; Ovid nimmt noch einmal den Faden der Erzählung auf und ruft Ino an; sie aber fragt die Weissagerin (Carmentis), die wiederum ihre Gesprächspartnerin anruft89. In Met. IV 416–542OvidMet. IV 416–542 werden Tantalos, Sisyphos (vom Erzähler), Athamas’ Diener (vom Aioliden), Melikertes (vom Erzähler) und Neptun (von VenusVenus) angerufen.









